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Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, I. Semester. II. Band.

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lich werden. Die Sprache des fünfzehnten Jahrhunderts, selbst vieler Quellen
des sechzehnten, zumal wenn diese durch einen Dialekt stark gefärbt sind, ist
dem Ungeübten nicht vollständig verständlich, weniger weil uns einzelne
Wörter verklungen sind oder ihre Bedeutung verändert haben, sondern zumeist
wegen der veränderten Satzbildung und dem abweichenden Gebrauch der Par¬
tikeln, Deshalb werden wir zuweilen in der Lage sein, übersetzen zu müssen,
wenn man die Umschreibung derselben Sprache aus den Formen eines Jahr¬
hunderts in die eines spätern so nennen darf. Es wird versucht werden, dies
mit Takt und kritischer Treue zu thun, doch bleibt diese Umsetzung immer ein
Uebelstand. Denn das Charakteristische der Sprache und des Stils wird da¬
durch leicht verwischt, wie der Farbenschimmer auf den Flügeln eines Schmet¬
terlings. Und es ist zu fürchten, daß manche Erzählung ihren besten Reiz
verlieren wird.

Gleich bei der folgenden Mittheilung erschien eine solche Uebersetzung
nothwendig. Das Bild ist öfter gedruckt und durchaus nicht unbekannt, und
doch wird es den meisten unserer Leser neu und willkommen sein. Zu finden
ist es z. B. in: Johann Keßler, genannt Ahenarius, Bürger und Refor¬
mator zu Se. Gallen, von I. I. Bernet. Se. Gallen 1826. S. 28 u. f.
In diese Biographie ist die Schilderung abgedruckt nach dem handschriftlichen
Werke Keßlers: Sabbatha, einer Chronik der Reformationszeit von Se. Gallen,
welche sich auf der dortigen Bibliothek befindet.

Johann Keßler, um 1302 von armen Bürgersleuten zu Se. Gallen ge-,
boren, besuchte die dortige Klosterschule, studirte Theologie in Basel und zog
im ersten Frühjahr 1322 mit einem Genossen nach Wittenberg, um dort unter
den Reformatoren weiter zu studiren. Im Herbst 1323 kehrte er in seine
Vaterstadt zurück und da die neue Lehre dort noch keine Stätte hatte, und er
sehr arm war, entschloß er sich, wie mehre seiner gelehrten Zeitgenossen, ein
Handwerk zu erlernen. Er ging zu einem Sattler in die Lehre und wurde
Meister. Bald sammelte sich eine kleine Gemeinde um ihn, er lehrte, predigte,
arbeitete in seiner Werkstatt und schrieb Bücher, wurde endlich Schullehrer,
Bibliothekar, Schulrath. Er war eine anspruchslose, sanfte, reine Natur mit einem
Herzen voll Liebe und milder Wärme. An den theologischen Streitigkeiten
seiner Zeit nahm er keinen thätigen Antheil. In seiner Chronik spricht er
nur selten von sich selbst, am meisten noch in der folgenden Erzählung.

"Da wir die heilige Schrift zu studiren gen Wittenberg reisten, sind wir
nach Jena im Land Thüringen weiß Gott! in einem wüsten Gewitter gekom¬
men und nach vielen Anfragen in der Stadt um eine Herberge, wo wir über
Nacht blieben, haben wir keine erHaschen, noch erfragen können; überall ward
uns Herberge abgeschlagen. Denn es war Fastnacht, wo man nicht viel Sorge


lich werden. Die Sprache des fünfzehnten Jahrhunderts, selbst vieler Quellen
des sechzehnten, zumal wenn diese durch einen Dialekt stark gefärbt sind, ist
dem Ungeübten nicht vollständig verständlich, weniger weil uns einzelne
Wörter verklungen sind oder ihre Bedeutung verändert haben, sondern zumeist
wegen der veränderten Satzbildung und dem abweichenden Gebrauch der Par¬
tikeln, Deshalb werden wir zuweilen in der Lage sein, übersetzen zu müssen,
wenn man die Umschreibung derselben Sprache aus den Formen eines Jahr¬
hunderts in die eines spätern so nennen darf. Es wird versucht werden, dies
mit Takt und kritischer Treue zu thun, doch bleibt diese Umsetzung immer ein
Uebelstand. Denn das Charakteristische der Sprache und des Stils wird da¬
durch leicht verwischt, wie der Farbenschimmer auf den Flügeln eines Schmet¬
terlings. Und es ist zu fürchten, daß manche Erzählung ihren besten Reiz
verlieren wird.

Gleich bei der folgenden Mittheilung erschien eine solche Uebersetzung
nothwendig. Das Bild ist öfter gedruckt und durchaus nicht unbekannt, und
doch wird es den meisten unserer Leser neu und willkommen sein. Zu finden
ist es z. B. in: Johann Keßler, genannt Ahenarius, Bürger und Refor¬
mator zu Se. Gallen, von I. I. Bernet. Se. Gallen 1826. S. 28 u. f.
In diese Biographie ist die Schilderung abgedruckt nach dem handschriftlichen
Werke Keßlers: Sabbatha, einer Chronik der Reformationszeit von Se. Gallen,
welche sich auf der dortigen Bibliothek befindet.

Johann Keßler, um 1302 von armen Bürgersleuten zu Se. Gallen ge-,
boren, besuchte die dortige Klosterschule, studirte Theologie in Basel und zog
im ersten Frühjahr 1322 mit einem Genossen nach Wittenberg, um dort unter
den Reformatoren weiter zu studiren. Im Herbst 1323 kehrte er in seine
Vaterstadt zurück und da die neue Lehre dort noch keine Stätte hatte, und er
sehr arm war, entschloß er sich, wie mehre seiner gelehrten Zeitgenossen, ein
Handwerk zu erlernen. Er ging zu einem Sattler in die Lehre und wurde
Meister. Bald sammelte sich eine kleine Gemeinde um ihn, er lehrte, predigte,
arbeitete in seiner Werkstatt und schrieb Bücher, wurde endlich Schullehrer,
Bibliothekar, Schulrath. Er war eine anspruchslose, sanfte, reine Natur mit einem
Herzen voll Liebe und milder Wärme. An den theologischen Streitigkeiten
seiner Zeit nahm er keinen thätigen Antheil. In seiner Chronik spricht er
nur selten von sich selbst, am meisten noch in der folgenden Erzählung.

„Da wir die heilige Schrift zu studiren gen Wittenberg reisten, sind wir
nach Jena im Land Thüringen weiß Gott! in einem wüsten Gewitter gekom¬
men und nach vielen Anfragen in der Stadt um eine Herberge, wo wir über
Nacht blieben, haben wir keine erHaschen, noch erfragen können; überall ward
uns Herberge abgeschlagen. Denn es war Fastnacht, wo man nicht viel Sorge


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[0391] lich werden. Die Sprache des fünfzehnten Jahrhunderts, selbst vieler Quellen des sechzehnten, zumal wenn diese durch einen Dialekt stark gefärbt sind, ist dem Ungeübten nicht vollständig verständlich, weniger weil uns einzelne Wörter verklungen sind oder ihre Bedeutung verändert haben, sondern zumeist wegen der veränderten Satzbildung und dem abweichenden Gebrauch der Par¬ tikeln, Deshalb werden wir zuweilen in der Lage sein, übersetzen zu müssen, wenn man die Umschreibung derselben Sprache aus den Formen eines Jahr¬ hunderts in die eines spätern so nennen darf. Es wird versucht werden, dies mit Takt und kritischer Treue zu thun, doch bleibt diese Umsetzung immer ein Uebelstand. Denn das Charakteristische der Sprache und des Stils wird da¬ durch leicht verwischt, wie der Farbenschimmer auf den Flügeln eines Schmet¬ terlings. Und es ist zu fürchten, daß manche Erzählung ihren besten Reiz verlieren wird. Gleich bei der folgenden Mittheilung erschien eine solche Uebersetzung nothwendig. Das Bild ist öfter gedruckt und durchaus nicht unbekannt, und doch wird es den meisten unserer Leser neu und willkommen sein. Zu finden ist es z. B. in: Johann Keßler, genannt Ahenarius, Bürger und Refor¬ mator zu Se. Gallen, von I. I. Bernet. Se. Gallen 1826. S. 28 u. f. In diese Biographie ist die Schilderung abgedruckt nach dem handschriftlichen Werke Keßlers: Sabbatha, einer Chronik der Reformationszeit von Se. Gallen, welche sich auf der dortigen Bibliothek befindet. Johann Keßler, um 1302 von armen Bürgersleuten zu Se. Gallen ge-, boren, besuchte die dortige Klosterschule, studirte Theologie in Basel und zog im ersten Frühjahr 1322 mit einem Genossen nach Wittenberg, um dort unter den Reformatoren weiter zu studiren. Im Herbst 1323 kehrte er in seine Vaterstadt zurück und da die neue Lehre dort noch keine Stätte hatte, und er sehr arm war, entschloß er sich, wie mehre seiner gelehrten Zeitgenossen, ein Handwerk zu erlernen. Er ging zu einem Sattler in die Lehre und wurde Meister. Bald sammelte sich eine kleine Gemeinde um ihn, er lehrte, predigte, arbeitete in seiner Werkstatt und schrieb Bücher, wurde endlich Schullehrer, Bibliothekar, Schulrath. Er war eine anspruchslose, sanfte, reine Natur mit einem Herzen voll Liebe und milder Wärme. An den theologischen Streitigkeiten seiner Zeit nahm er keinen thätigen Antheil. In seiner Chronik spricht er nur selten von sich selbst, am meisten noch in der folgenden Erzählung. „Da wir die heilige Schrift zu studiren gen Wittenberg reisten, sind wir nach Jena im Land Thüringen weiß Gott! in einem wüsten Gewitter gekom¬ men und nach vielen Anfragen in der Stadt um eine Herberge, wo wir über Nacht blieben, haben wir keine erHaschen, noch erfragen können; überall ward uns Herberge abgeschlagen. Denn es war Fastnacht, wo man nicht viel Sorge

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341580_99385/391>, abgerufen am 01.07.2024.