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Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, I. Semester. II. Band.

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rechte Anerkennung in Deutschland erworben hat, ist nun in seiner neuen Ge¬
stalt vollendet und wird seinen Leserkreis hoffentlich immermehr erweitern.
Die zahlreichen Verbesserungen sind durchaus sehr zweckmäßig und auch die
Buchhandlung hat sich Mühe gegeben, durch eine elegante Ausstattung dein
vortrefflichen Inhalt eine würdige Form zu geben. Wir möchten diese Gelegen¬
heit benutzen, gegen Herr Bodenstedt einen freundlichen Wunsch auszusprechen.
Er hat sich in neuester Zeit vorzugsweise mit poetischen Arbeiten beschäftigt
und bei seinem ansprechenden Talent läßt sich hoffen, daß er uns auch aus
diesem Gebiet manche schätzenswerthe Gabe darreichen wird; allein wir sind
der Ueberzeugung, daß seine Anlage, soweit wir sie bis jetzt übersehen können,
mehr einer stillen Pflege, als einer unausgesetzten und lebhaften Anregung be¬
darf. Die Muse der Dichtkunst wird ihm um so freundlicher sein, je weniger
er sie drängt. Nun hat er in seinen "Bildern aus dem Kaukasus" eine so
schöne Gabe entwickelt, Zustände und Begebenheiten theils nach eigner An¬
schauung, theils nach Berichten plastisch zu vergegenwärtigen, daß es sehr zu
bedauern wäre, wenn er nicht auf demselben Gebiet weiter arbeiten wollte.
Es ist kaum zu erwarten, daß ihm noch einmal Gelegenheit werden sollte, eine
so große Fülle fremdartiger Gegenstände durch eigne Reisen kennen zu lernen;
er wird also die Anschauung durch gelehrte Studien ersetzen müssen. Wenn
er dann im Schweiß seines Angesichts das Feld - der Geschichte umackert,
wird ihm nebenbei auch manche poetische Blume in die Hemde fallen, die er
um so kunstreicher pflegen kann, je reicher er sich den Inhalt des wirklichen
Lebens angeeignet hat. In unsrer Zeit, wo uns die hochgebildete Sprache so¬
viel Poetisches überliefert, und wo wir nur mit Schwierigkeit unterscheiden,
wieviel von der Poesie, die wir machen, uns selbst angehört, gilt mehr als
je der schöne Goethesche Spruch, daß die Muse das Leben zwar gern und ge¬
fällig begleite, aber es zu leiten nicht im Stande ist. Die Zeit, wo man aus¬
schließlich der Poesie leben durfte, weil dadurch der Nation ein viel größerer
Gehalt zugeführt wurde, als auf eine andere Weise hätte geschehen können
ist jetzt vorüber, wenn nicht etwa einmal wieder ein gewaltiger Genius auf¬
treten sollte, auf den die Regeln überhaupt keine Anwendung finden; und wir
möchten den Begriff der Mußestunde, auf den man seit den Tagen der abso¬
luten Kunst so vornehm herabblickte, gern in unsre Literatur wieder einbürgern,
denn er trifft im Grunde doch das Wesen der Sache. Bildende Kunst und
Musik erfordern ein unausgesetztes, nach einer und derselben künstlerischen
Richtung fortgehendes Streben, die Poesie aber wird nicht durch Studien der
Poesie, sondern durch Studien des Lesens genährt. --




rechte Anerkennung in Deutschland erworben hat, ist nun in seiner neuen Ge¬
stalt vollendet und wird seinen Leserkreis hoffentlich immermehr erweitern.
Die zahlreichen Verbesserungen sind durchaus sehr zweckmäßig und auch die
Buchhandlung hat sich Mühe gegeben, durch eine elegante Ausstattung dein
vortrefflichen Inhalt eine würdige Form zu geben. Wir möchten diese Gelegen¬
heit benutzen, gegen Herr Bodenstedt einen freundlichen Wunsch auszusprechen.
Er hat sich in neuester Zeit vorzugsweise mit poetischen Arbeiten beschäftigt
und bei seinem ansprechenden Talent läßt sich hoffen, daß er uns auch aus
diesem Gebiet manche schätzenswerthe Gabe darreichen wird; allein wir sind
der Ueberzeugung, daß seine Anlage, soweit wir sie bis jetzt übersehen können,
mehr einer stillen Pflege, als einer unausgesetzten und lebhaften Anregung be¬
darf. Die Muse der Dichtkunst wird ihm um so freundlicher sein, je weniger
er sie drängt. Nun hat er in seinen „Bildern aus dem Kaukasus" eine so
schöne Gabe entwickelt, Zustände und Begebenheiten theils nach eigner An¬
schauung, theils nach Berichten plastisch zu vergegenwärtigen, daß es sehr zu
bedauern wäre, wenn er nicht auf demselben Gebiet weiter arbeiten wollte.
Es ist kaum zu erwarten, daß ihm noch einmal Gelegenheit werden sollte, eine
so große Fülle fremdartiger Gegenstände durch eigne Reisen kennen zu lernen;
er wird also die Anschauung durch gelehrte Studien ersetzen müssen. Wenn
er dann im Schweiß seines Angesichts das Feld - der Geschichte umackert,
wird ihm nebenbei auch manche poetische Blume in die Hemde fallen, die er
um so kunstreicher pflegen kann, je reicher er sich den Inhalt des wirklichen
Lebens angeeignet hat. In unsrer Zeit, wo uns die hochgebildete Sprache so¬
viel Poetisches überliefert, und wo wir nur mit Schwierigkeit unterscheiden,
wieviel von der Poesie, die wir machen, uns selbst angehört, gilt mehr als
je der schöne Goethesche Spruch, daß die Muse das Leben zwar gern und ge¬
fällig begleite, aber es zu leiten nicht im Stande ist. Die Zeit, wo man aus¬
schließlich der Poesie leben durfte, weil dadurch der Nation ein viel größerer
Gehalt zugeführt wurde, als auf eine andere Weise hätte geschehen können
ist jetzt vorüber, wenn nicht etwa einmal wieder ein gewaltiger Genius auf¬
treten sollte, auf den die Regeln überhaupt keine Anwendung finden; und wir
möchten den Begriff der Mußestunde, auf den man seit den Tagen der abso¬
luten Kunst so vornehm herabblickte, gern in unsre Literatur wieder einbürgern,
denn er trifft im Grunde doch das Wesen der Sache. Bildende Kunst und
Musik erfordern ein unausgesetztes, nach einer und derselben künstlerischen
Richtung fortgehendes Streben, die Poesie aber wird nicht durch Studien der
Poesie, sondern durch Studien des Lesens genährt. —




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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341580_99385/374>, abgerufen am 01.07.2024.