Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, I. Semester. II. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

widersprechen und wo es nicht weiß, auf wen es sich verlassen soll. Eine
solche Stimmung ist für den Erfolg eines Werks, wie das vorliegende, nicht
günstig und umsomehr ist es die Pflicht der Kritik, darauf hinzuweisen, daß
es sich hier um eine Arbeit der gründlichsten und durchdachtesten Gelehrsamkeit
handelt, die, man mag den Resultaten deö Verfassers beipflichten oder nicht,
auf alle Fälle für das Studium Shakespeares ein wichtiger Vorschub sein
wird. '

Die bisherigen Stimmen, welche sich über die neue Entdeckung haben ver¬
nehmen lassen, begnügten sich in der Regel damit, die einzelnen Verbesserungen
ins Auge zu fassen, nach ihrem Gefühl oder ihrer Kenntniß der Shakespeare-
schen Sprache sich dafür oder dagegen zu entscheiden und dann von dem Werth
des Einzelnen auf den Werth jener Urkunde zu schließen, insofern man sie als
eine Quelle betrachten darf. Herr Mommsen sucht nun nachzuweisen, daß
diese Methode den Begriffen der gesunden Philologie widerspricht. Freilich er¬
kennt er selbst, daß die philologische Kritik der Alterthumswissenschaft nicht ganz
auf Shakespeare anzuwenden ist. >,Die kühnste Kühnheit, die willkürlichste
Willkürlichkeit der alten. Poeten findet immer einen festen Hemmschuh an der
Dichtuugsgattung, der Sprachsorm, der Bilderwelt, -- um es mit einem Wort
zu sagen, an dem Stil; Shakespeare, in seiner grenzenlosen Mitempfindung
alles rein menschlichen Wesens und in seiner wunderhaft sicheren Handhabung
der innern Regeln ästhetischer Plastik, läßt sich nicht so beikommen mit
Gesetzen äußerlicher Kunst und typischen Negelzwanges. Freilich ergeht man
sich über manche Punkte, z. B. über seine Metrik, in den sonderbarsten
Träumereien, als sei er aller und jeder Richtschnur feind; aber doch ist die
Kritik bei ihm unvergleichlich viel häufiger als bei den alten Schriftstellern
in dem Fall, über das, was möglich und nicht möglich sei, nur Gefühl gegen
Gefühl setzen zu können, sie ist, wie des Dichters Herrlichkeit sebst, weniger
demonstrabel, als instructiv und eben hieraus erklärt es sich, daß so oft bei
den Shakespearekrilikern Leidenschaft und Zorn den Platz der Gründe ver¬
treten." -- --

Indessen hat die Kritik wenigstens die Verpflichtung, soviel wie möglich
die Methode über den Jnstinct hervorzuheben und dies ist die Aufgabe, die
sich der Verfasser gestellt hat. Im ersten Theile sucht er den Grundirrthui"
einiger Gegner zu beseitigen, als haben jene Manuscriptverbesserungen keinen
andern als einen zufälligen Zusammenhang mit den ältern Ausgaben gehabt; im
zweiten Theil durch eine Zusammenstellung der Veränderungen und Zusätze nach
möglichen Corruptclgattungen ein Bild von der darin obwaltenden kritischen
Methode zu geben. Das Urtheil über den Werth der einzelnen Verbesserungen
ist also bei ihm nicht Zweck, sondern nur Mittel, um die Echtheit oder Un-
echtheit der Quelle festzustellen. Das Resultat, welches er sicher festgestellt zu


widersprechen und wo es nicht weiß, auf wen es sich verlassen soll. Eine
solche Stimmung ist für den Erfolg eines Werks, wie das vorliegende, nicht
günstig und umsomehr ist es die Pflicht der Kritik, darauf hinzuweisen, daß
es sich hier um eine Arbeit der gründlichsten und durchdachtesten Gelehrsamkeit
handelt, die, man mag den Resultaten deö Verfassers beipflichten oder nicht,
auf alle Fälle für das Studium Shakespeares ein wichtiger Vorschub sein
wird. '

Die bisherigen Stimmen, welche sich über die neue Entdeckung haben ver¬
nehmen lassen, begnügten sich in der Regel damit, die einzelnen Verbesserungen
ins Auge zu fassen, nach ihrem Gefühl oder ihrer Kenntniß der Shakespeare-
schen Sprache sich dafür oder dagegen zu entscheiden und dann von dem Werth
des Einzelnen auf den Werth jener Urkunde zu schließen, insofern man sie als
eine Quelle betrachten darf. Herr Mommsen sucht nun nachzuweisen, daß
diese Methode den Begriffen der gesunden Philologie widerspricht. Freilich er¬
kennt er selbst, daß die philologische Kritik der Alterthumswissenschaft nicht ganz
auf Shakespeare anzuwenden ist. >,Die kühnste Kühnheit, die willkürlichste
Willkürlichkeit der alten. Poeten findet immer einen festen Hemmschuh an der
Dichtuugsgattung, der Sprachsorm, der Bilderwelt, — um es mit einem Wort
zu sagen, an dem Stil; Shakespeare, in seiner grenzenlosen Mitempfindung
alles rein menschlichen Wesens und in seiner wunderhaft sicheren Handhabung
der innern Regeln ästhetischer Plastik, läßt sich nicht so beikommen mit
Gesetzen äußerlicher Kunst und typischen Negelzwanges. Freilich ergeht man
sich über manche Punkte, z. B. über seine Metrik, in den sonderbarsten
Träumereien, als sei er aller und jeder Richtschnur feind; aber doch ist die
Kritik bei ihm unvergleichlich viel häufiger als bei den alten Schriftstellern
in dem Fall, über das, was möglich und nicht möglich sei, nur Gefühl gegen
Gefühl setzen zu können, sie ist, wie des Dichters Herrlichkeit sebst, weniger
demonstrabel, als instructiv und eben hieraus erklärt es sich, daß so oft bei
den Shakespearekrilikern Leidenschaft und Zorn den Platz der Gründe ver¬
treten." — —

Indessen hat die Kritik wenigstens die Verpflichtung, soviel wie möglich
die Methode über den Jnstinct hervorzuheben und dies ist die Aufgabe, die
sich der Verfasser gestellt hat. Im ersten Theile sucht er den Grundirrthui»
einiger Gegner zu beseitigen, als haben jene Manuscriptverbesserungen keinen
andern als einen zufälligen Zusammenhang mit den ältern Ausgaben gehabt; im
zweiten Theil durch eine Zusammenstellung der Veränderungen und Zusätze nach
möglichen Corruptclgattungen ein Bild von der darin obwaltenden kritischen
Methode zu geben. Das Urtheil über den Werth der einzelnen Verbesserungen
ist also bei ihm nicht Zweck, sondern nur Mittel, um die Echtheit oder Un-
echtheit der Quelle festzustellen. Das Resultat, welches er sicher festgestellt zu


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <div n="2">
            <pb facs="#f0356" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/99742"/>
            <p xml:id="ID_1207" prev="#ID_1206"> widersprechen und wo es nicht weiß, auf wen es sich verlassen soll. Eine<lb/>
solche Stimmung ist für den Erfolg eines Werks, wie das vorliegende, nicht<lb/>
günstig und umsomehr ist es die Pflicht der Kritik, darauf hinzuweisen, daß<lb/>
es sich hier um eine Arbeit der gründlichsten und durchdachtesten Gelehrsamkeit<lb/>
handelt, die, man mag den Resultaten deö Verfassers beipflichten oder nicht,<lb/>
auf alle Fälle für das Studium Shakespeares ein wichtiger Vorschub sein<lb/>
wird. '</p><lb/>
            <p xml:id="ID_1208"> Die bisherigen Stimmen, welche sich über die neue Entdeckung haben ver¬<lb/>
nehmen lassen, begnügten sich in der Regel damit, die einzelnen Verbesserungen<lb/>
ins Auge zu fassen, nach ihrem Gefühl oder ihrer Kenntniß der Shakespeare-<lb/>
schen Sprache sich dafür oder dagegen zu entscheiden und dann von dem Werth<lb/>
des Einzelnen auf den Werth jener Urkunde zu schließen, insofern man sie als<lb/>
eine Quelle betrachten darf. Herr Mommsen sucht nun nachzuweisen, daß<lb/>
diese Methode den Begriffen der gesunden Philologie widerspricht. Freilich er¬<lb/>
kennt er selbst, daß die philologische Kritik der Alterthumswissenschaft nicht ganz<lb/>
auf Shakespeare anzuwenden ist. &gt;,Die kühnste Kühnheit, die willkürlichste<lb/>
Willkürlichkeit der alten. Poeten findet immer einen festen Hemmschuh an der<lb/>
Dichtuugsgattung, der Sprachsorm, der Bilderwelt, &#x2014; um es mit einem Wort<lb/>
zu sagen, an dem Stil; Shakespeare, in seiner grenzenlosen Mitempfindung<lb/>
alles rein menschlichen Wesens und in seiner wunderhaft sicheren Handhabung<lb/>
der innern Regeln ästhetischer Plastik, läßt sich nicht so beikommen mit<lb/>
Gesetzen äußerlicher Kunst und typischen Negelzwanges. Freilich ergeht man<lb/>
sich über manche Punkte, z. B. über seine Metrik, in den sonderbarsten<lb/>
Träumereien, als sei er aller und jeder Richtschnur feind; aber doch ist die<lb/>
Kritik bei ihm unvergleichlich viel häufiger als bei den alten Schriftstellern<lb/>
in dem Fall, über das, was möglich und nicht möglich sei, nur Gefühl gegen<lb/>
Gefühl setzen zu können, sie ist, wie des Dichters Herrlichkeit sebst, weniger<lb/>
demonstrabel, als instructiv und eben hieraus erklärt es sich, daß so oft bei<lb/>
den Shakespearekrilikern Leidenschaft und Zorn den Platz der Gründe ver¬<lb/>
treten." &#x2014; &#x2014;</p><lb/>
            <p xml:id="ID_1209" next="#ID_1210"> Indessen hat die Kritik wenigstens die Verpflichtung, soviel wie möglich<lb/>
die Methode über den Jnstinct hervorzuheben und dies ist die Aufgabe, die<lb/>
sich der Verfasser gestellt hat. Im ersten Theile sucht er den Grundirrthui»<lb/>
einiger Gegner zu beseitigen, als haben jene Manuscriptverbesserungen keinen<lb/>
andern als einen zufälligen Zusammenhang mit den ältern Ausgaben gehabt; im<lb/>
zweiten Theil durch eine Zusammenstellung der Veränderungen und Zusätze nach<lb/>
möglichen Corruptclgattungen ein Bild von der darin obwaltenden kritischen<lb/>
Methode zu geben. Das Urtheil über den Werth der einzelnen Verbesserungen<lb/>
ist also bei ihm nicht Zweck, sondern nur Mittel, um die Echtheit oder Un-<lb/>
echtheit der Quelle festzustellen.  Das Resultat, welches er sicher festgestellt zu</p><lb/>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0356] widersprechen und wo es nicht weiß, auf wen es sich verlassen soll. Eine solche Stimmung ist für den Erfolg eines Werks, wie das vorliegende, nicht günstig und umsomehr ist es die Pflicht der Kritik, darauf hinzuweisen, daß es sich hier um eine Arbeit der gründlichsten und durchdachtesten Gelehrsamkeit handelt, die, man mag den Resultaten deö Verfassers beipflichten oder nicht, auf alle Fälle für das Studium Shakespeares ein wichtiger Vorschub sein wird. ' Die bisherigen Stimmen, welche sich über die neue Entdeckung haben ver¬ nehmen lassen, begnügten sich in der Regel damit, die einzelnen Verbesserungen ins Auge zu fassen, nach ihrem Gefühl oder ihrer Kenntniß der Shakespeare- schen Sprache sich dafür oder dagegen zu entscheiden und dann von dem Werth des Einzelnen auf den Werth jener Urkunde zu schließen, insofern man sie als eine Quelle betrachten darf. Herr Mommsen sucht nun nachzuweisen, daß diese Methode den Begriffen der gesunden Philologie widerspricht. Freilich er¬ kennt er selbst, daß die philologische Kritik der Alterthumswissenschaft nicht ganz auf Shakespeare anzuwenden ist. >,Die kühnste Kühnheit, die willkürlichste Willkürlichkeit der alten. Poeten findet immer einen festen Hemmschuh an der Dichtuugsgattung, der Sprachsorm, der Bilderwelt, — um es mit einem Wort zu sagen, an dem Stil; Shakespeare, in seiner grenzenlosen Mitempfindung alles rein menschlichen Wesens und in seiner wunderhaft sicheren Handhabung der innern Regeln ästhetischer Plastik, läßt sich nicht so beikommen mit Gesetzen äußerlicher Kunst und typischen Negelzwanges. Freilich ergeht man sich über manche Punkte, z. B. über seine Metrik, in den sonderbarsten Träumereien, als sei er aller und jeder Richtschnur feind; aber doch ist die Kritik bei ihm unvergleichlich viel häufiger als bei den alten Schriftstellern in dem Fall, über das, was möglich und nicht möglich sei, nur Gefühl gegen Gefühl setzen zu können, sie ist, wie des Dichters Herrlichkeit sebst, weniger demonstrabel, als instructiv und eben hieraus erklärt es sich, daß so oft bei den Shakespearekrilikern Leidenschaft und Zorn den Platz der Gründe ver¬ treten." — — Indessen hat die Kritik wenigstens die Verpflichtung, soviel wie möglich die Methode über den Jnstinct hervorzuheben und dies ist die Aufgabe, die sich der Verfasser gestellt hat. Im ersten Theile sucht er den Grundirrthui» einiger Gegner zu beseitigen, als haben jene Manuscriptverbesserungen keinen andern als einen zufälligen Zusammenhang mit den ältern Ausgaben gehabt; im zweiten Theil durch eine Zusammenstellung der Veränderungen und Zusätze nach möglichen Corruptclgattungen ein Bild von der darin obwaltenden kritischen Methode zu geben. Das Urtheil über den Werth der einzelnen Verbesserungen ist also bei ihm nicht Zweck, sondern nur Mittel, um die Echtheit oder Un- echtheit der Quelle festzustellen. Das Resultat, welches er sicher festgestellt zu

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341580_99385
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341580_99385/356
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341580_99385/356>, abgerufen am 28.09.2024.