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Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, I. Semester. II. Band.

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um baldmöglichst den Gegner aus seinem Vertheidigungssystem in und um
Warschau zu vertreiben.

In einem Lande wie Polen, was durchgängig nur dünn bevölkert ist,
kann man nicht genug Gewicht auf den Besitz der großen Concentrationöpunkte
der Bevölkerung, zumal auf den des größten unter allen, der Hauptstadt selbst,
legen. Wo es so unendlich schwierig ist, auf dem platten Lande den Bedürf¬
nissen der Armee zu genügen, steigen die Mittel im Werthe, welche eine Gro߬
stadt zur Erreichung solches Zweckes bietet. Wie ausgedehnt daher auch
immerhin Warschau ist, und wie ungünstig in dieser Hinsicht als Object der
Vertheidigung, s> werden seine Hilfsmittel darüber hinwegsehen lassen und
den russischen Feldherrn bestimmen, wenn er überhaupt sich in den frag¬
lichen Raum hineinwerfen sollte, den Schwerpunkt der Defensive hierhin zu
verlegen.

Ueber das Detail der in solchem Falle zu gewärtigenden Operationen ist
selbstredend nichts im voraus aufzustellen. Man kann sich aber, was die
Grundzüge derselben angeht, zwei Möglichkeiten denken: entweder wird die
russische Macht nach allen Seiten hin mit überlegenen Streitkräften umstellt,
und der Kampf durch eine Reihe von ziemlich gleichzeitigen Schlägen entschie¬
den, oder man ist ans ein verhältnißmäßig beschränktes Kraftquantum ange¬
wiesen, und kann um deswillen nur langsam und Schritt vor Schritt agiren.
Ersterer Fall würde voraussetzen, daß der deutsche Bund eine mindestens gleich
starke Armee wie Oestreich nach Polen führte: mit anderen Worten, daß man
daselbst über eine Streitmacht von etwa 300,000 Mann zu verfügen hätte.
Wir würden dann, unter der Voraussetzung, daß die russische Hauptmacht bei
Warschau stände, drei Hauptangriffsmassen in Polen einrücken sehen: die eine
mit der Direktion aus Siedlce und den unteren Bug und Narew, um, mit der
Fronte gegen Lithauen, als Observationsarmee zu dienen -- die nächste dem
rechten Ufer der Weichsel entlang, um von dieser Seite her zuerst Demblin
(Jwangorod) zu maskiren und sich sodann zwischen dieser Festung und War¬
schau zu setzen -- endlich die dritte, auf dem linken'(Weichsel) Ufer vorrückend,
um ebenfalls Demblin von der anderen Seite her zu blockiren und sodann
der Heeresmasse auf dem rechten Ufer die Hand zu reichen. Ein starker doppel¬
ter Brückenkopf bei Gora, der im größten Maßstabe angelegt, mindestens drei
Brücken zum schnellen Passiren des Stromes einschließen müßte, würde diese
Verbindung sichern und beide AngriffScvrps auf einer Basis einigen. Soweit
würde etwa die erste Operationsepoche reichen. Man hätte damit einen star¬
ken, bedeutungsvollen feindlichen Platz anßer strategische Wirksamkeit gesetzt,
die russische Hauptmacht in ihren rückwärtigen Verbindungen bedroht, und da¬
mit dem ganzen Feldzug eine folgenreiche Einleitung gegeben. Aber der Kern
der russischen strategischen Stellung in Polen wäre damit noch nicht berührt.


um baldmöglichst den Gegner aus seinem Vertheidigungssystem in und um
Warschau zu vertreiben.

In einem Lande wie Polen, was durchgängig nur dünn bevölkert ist,
kann man nicht genug Gewicht auf den Besitz der großen Concentrationöpunkte
der Bevölkerung, zumal auf den des größten unter allen, der Hauptstadt selbst,
legen. Wo es so unendlich schwierig ist, auf dem platten Lande den Bedürf¬
nissen der Armee zu genügen, steigen die Mittel im Werthe, welche eine Gro߬
stadt zur Erreichung solches Zweckes bietet. Wie ausgedehnt daher auch
immerhin Warschau ist, und wie ungünstig in dieser Hinsicht als Object der
Vertheidigung, s> werden seine Hilfsmittel darüber hinwegsehen lassen und
den russischen Feldherrn bestimmen, wenn er überhaupt sich in den frag¬
lichen Raum hineinwerfen sollte, den Schwerpunkt der Defensive hierhin zu
verlegen.

Ueber das Detail der in solchem Falle zu gewärtigenden Operationen ist
selbstredend nichts im voraus aufzustellen. Man kann sich aber, was die
Grundzüge derselben angeht, zwei Möglichkeiten denken: entweder wird die
russische Macht nach allen Seiten hin mit überlegenen Streitkräften umstellt,
und der Kampf durch eine Reihe von ziemlich gleichzeitigen Schlägen entschie¬
den, oder man ist ans ein verhältnißmäßig beschränktes Kraftquantum ange¬
wiesen, und kann um deswillen nur langsam und Schritt vor Schritt agiren.
Ersterer Fall würde voraussetzen, daß der deutsche Bund eine mindestens gleich
starke Armee wie Oestreich nach Polen führte: mit anderen Worten, daß man
daselbst über eine Streitmacht von etwa 300,000 Mann zu verfügen hätte.
Wir würden dann, unter der Voraussetzung, daß die russische Hauptmacht bei
Warschau stände, drei Hauptangriffsmassen in Polen einrücken sehen: die eine
mit der Direktion aus Siedlce und den unteren Bug und Narew, um, mit der
Fronte gegen Lithauen, als Observationsarmee zu dienen — die nächste dem
rechten Ufer der Weichsel entlang, um von dieser Seite her zuerst Demblin
(Jwangorod) zu maskiren und sich sodann zwischen dieser Festung und War¬
schau zu setzen — endlich die dritte, auf dem linken'(Weichsel) Ufer vorrückend,
um ebenfalls Demblin von der anderen Seite her zu blockiren und sodann
der Heeresmasse auf dem rechten Ufer die Hand zu reichen. Ein starker doppel¬
ter Brückenkopf bei Gora, der im größten Maßstabe angelegt, mindestens drei
Brücken zum schnellen Passiren des Stromes einschließen müßte, würde diese
Verbindung sichern und beide AngriffScvrps auf einer Basis einigen. Soweit
würde etwa die erste Operationsepoche reichen. Man hätte damit einen star¬
ken, bedeutungsvollen feindlichen Platz anßer strategische Wirksamkeit gesetzt,
die russische Hauptmacht in ihren rückwärtigen Verbindungen bedroht, und da¬
mit dem ganzen Feldzug eine folgenreiche Einleitung gegeben. Aber der Kern
der russischen strategischen Stellung in Polen wäre damit noch nicht berührt.


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[0317] um baldmöglichst den Gegner aus seinem Vertheidigungssystem in und um Warschau zu vertreiben. In einem Lande wie Polen, was durchgängig nur dünn bevölkert ist, kann man nicht genug Gewicht auf den Besitz der großen Concentrationöpunkte der Bevölkerung, zumal auf den des größten unter allen, der Hauptstadt selbst, legen. Wo es so unendlich schwierig ist, auf dem platten Lande den Bedürf¬ nissen der Armee zu genügen, steigen die Mittel im Werthe, welche eine Gro߬ stadt zur Erreichung solches Zweckes bietet. Wie ausgedehnt daher auch immerhin Warschau ist, und wie ungünstig in dieser Hinsicht als Object der Vertheidigung, s> werden seine Hilfsmittel darüber hinwegsehen lassen und den russischen Feldherrn bestimmen, wenn er überhaupt sich in den frag¬ lichen Raum hineinwerfen sollte, den Schwerpunkt der Defensive hierhin zu verlegen. Ueber das Detail der in solchem Falle zu gewärtigenden Operationen ist selbstredend nichts im voraus aufzustellen. Man kann sich aber, was die Grundzüge derselben angeht, zwei Möglichkeiten denken: entweder wird die russische Macht nach allen Seiten hin mit überlegenen Streitkräften umstellt, und der Kampf durch eine Reihe von ziemlich gleichzeitigen Schlägen entschie¬ den, oder man ist ans ein verhältnißmäßig beschränktes Kraftquantum ange¬ wiesen, und kann um deswillen nur langsam und Schritt vor Schritt agiren. Ersterer Fall würde voraussetzen, daß der deutsche Bund eine mindestens gleich starke Armee wie Oestreich nach Polen führte: mit anderen Worten, daß man daselbst über eine Streitmacht von etwa 300,000 Mann zu verfügen hätte. Wir würden dann, unter der Voraussetzung, daß die russische Hauptmacht bei Warschau stände, drei Hauptangriffsmassen in Polen einrücken sehen: die eine mit der Direktion aus Siedlce und den unteren Bug und Narew, um, mit der Fronte gegen Lithauen, als Observationsarmee zu dienen — die nächste dem rechten Ufer der Weichsel entlang, um von dieser Seite her zuerst Demblin (Jwangorod) zu maskiren und sich sodann zwischen dieser Festung und War¬ schau zu setzen — endlich die dritte, auf dem linken'(Weichsel) Ufer vorrückend, um ebenfalls Demblin von der anderen Seite her zu blockiren und sodann der Heeresmasse auf dem rechten Ufer die Hand zu reichen. Ein starker doppel¬ ter Brückenkopf bei Gora, der im größten Maßstabe angelegt, mindestens drei Brücken zum schnellen Passiren des Stromes einschließen müßte, würde diese Verbindung sichern und beide AngriffScvrps auf einer Basis einigen. Soweit würde etwa die erste Operationsepoche reichen. Man hätte damit einen star¬ ken, bedeutungsvollen feindlichen Platz anßer strategische Wirksamkeit gesetzt, die russische Hauptmacht in ihren rückwärtigen Verbindungen bedroht, und da¬ mit dem ganzen Feldzug eine folgenreiche Einleitung gegeben. Aber der Kern der russischen strategischen Stellung in Polen wäre damit noch nicht berührt.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341580_99385/317>, abgerufen am 03.07.2024.