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Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, I. Semester. II. Band.

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der Abonnementconcerte, wenn sie durch die häufige Gelegenheit viel und vieler¬
lei, zum Theil vortrefflich, zum Theil wenigstens mit dem Anspruch auf vir-
tuvsenmäßige Ausführung zu hören, den Theil des Publicums, welcher Anlage
und Interesse für Musik hat, allmcilig zu einem passiven Genießen durch
Hören und Ansichvvrbeigehcnlassen, herabstimmtcn und Frische und Eifer
sich selbst zu betheiligen, schwachem oder gar zerstörten.

Von den wenigen größeren Gesangscompositivnen, welche noch zu Gehör
kamen, war neu Gades Ballade: Erlkönigs Tochter, dem Inhalt nach
bekannt durch Herders Otus. Außer einem Prolog und Epilog, welche vom
Chor vorgetragen werden, zerfällt das Ganze in drei Abtheilungen, welche die
Hauptmomente der Sage darstellen, und zwar in einer lyrisch-dramatischen
Weise, so daß die Hauptpersonen Herr Otus und seine Mutter sowie die Er¬
lenmädchen redend eingeführt werden, denen sich ein Chor anschließt, der ein
ziemlich abstractes Ding ohne bestimmten Charakter ist. Diese poetisch-musi¬
kalische Behandlung der Ballade, welche neuerdings auch von Schumann ver¬
sucht wordeu ist, kann schwerlich als ein erwünschter Fortschritt oder als der
erfreuliche Erwerb eines neuen Genre gelten. Zunächst ist es klar, daß dadurch
Wesen und Form der Ballade aufgehoben wird. Sie ist ihrem Wesen nach
Erzählung, nur daß die Art der Erzählung, die Behandlung des Facnschen,
bedingt wird durch die lyrische Stimmung, welche sie vollständig durchdringt
und Charakter und Colorit der Darstellung bestimmt. Wo etwas scheinbar
Dramatisches hinzutritt, zeigt sich dies bei näherer Betrachtung nur als ein
äußeres Mittel der Darstellung, wie wenn einzelne Personen redend eingeführt
werden, nicht aber als dem Wesen der Kunstgattung angehörig. Dieses be¬
ruht vielmehr, wie bemerkt darauf, daß der Stoff der Erzählung von der
Empfindung des Dichters so durchdrungen und gesättigt erscheint, daß er die,
eigenthümliche Form durch diese erhält. Bei einer Zersetzung der Ballade in
einzelne äußerlich dramatisch behandelte Scenen, wie es hier geschieht, wird
der epische Theil, die Erzählung, vollständig beseitigt, oder, wie hier im Prolog,
rein äußerlich als etwas außer der Sache Stehendes angeschoben. Nicht min¬
der wesentlich wird das lyrische Element beeinträchtigt. Denn seine eigentliche
Bedeutung beruht ja nicht daraus, daß einzelne Personen lyrische Empfin¬
dungen aussprechen, die nun nach Art von Monologen benutzt werden, son¬
dern daß das Ganze von einer Stimmung beherrscht werde. Diese aber wird
aufgehoben und die Einzelnheiten, aus ihrem eigentlichen Zusammenhang ge¬
rissen, erhalten eine völlig veränderte und meistens falsche Bedeutung. Endlich
aber wird eine eigentlich dramatische Durchbildung nicht erreicht; nicht allein,
daß die sinnliche Darstellung fehlt, sondern es kommt gar nicht zu einer psy¬
chologischen Motivirung, durch welche die Begebenheit erst zur Handlung wird,
vielmehr nur zu einer Reihe einzelner Scenen, bei denen die Personen redend


der Abonnementconcerte, wenn sie durch die häufige Gelegenheit viel und vieler¬
lei, zum Theil vortrefflich, zum Theil wenigstens mit dem Anspruch auf vir-
tuvsenmäßige Ausführung zu hören, den Theil des Publicums, welcher Anlage
und Interesse für Musik hat, allmcilig zu einem passiven Genießen durch
Hören und Ansichvvrbeigehcnlassen, herabstimmtcn und Frische und Eifer
sich selbst zu betheiligen, schwachem oder gar zerstörten.

Von den wenigen größeren Gesangscompositivnen, welche noch zu Gehör
kamen, war neu Gades Ballade: Erlkönigs Tochter, dem Inhalt nach
bekannt durch Herders Otus. Außer einem Prolog und Epilog, welche vom
Chor vorgetragen werden, zerfällt das Ganze in drei Abtheilungen, welche die
Hauptmomente der Sage darstellen, und zwar in einer lyrisch-dramatischen
Weise, so daß die Hauptpersonen Herr Otus und seine Mutter sowie die Er¬
lenmädchen redend eingeführt werden, denen sich ein Chor anschließt, der ein
ziemlich abstractes Ding ohne bestimmten Charakter ist. Diese poetisch-musi¬
kalische Behandlung der Ballade, welche neuerdings auch von Schumann ver¬
sucht wordeu ist, kann schwerlich als ein erwünschter Fortschritt oder als der
erfreuliche Erwerb eines neuen Genre gelten. Zunächst ist es klar, daß dadurch
Wesen und Form der Ballade aufgehoben wird. Sie ist ihrem Wesen nach
Erzählung, nur daß die Art der Erzählung, die Behandlung des Facnschen,
bedingt wird durch die lyrische Stimmung, welche sie vollständig durchdringt
und Charakter und Colorit der Darstellung bestimmt. Wo etwas scheinbar
Dramatisches hinzutritt, zeigt sich dies bei näherer Betrachtung nur als ein
äußeres Mittel der Darstellung, wie wenn einzelne Personen redend eingeführt
werden, nicht aber als dem Wesen der Kunstgattung angehörig. Dieses be¬
ruht vielmehr, wie bemerkt darauf, daß der Stoff der Erzählung von der
Empfindung des Dichters so durchdrungen und gesättigt erscheint, daß er die,
eigenthümliche Form durch diese erhält. Bei einer Zersetzung der Ballade in
einzelne äußerlich dramatisch behandelte Scenen, wie es hier geschieht, wird
der epische Theil, die Erzählung, vollständig beseitigt, oder, wie hier im Prolog,
rein äußerlich als etwas außer der Sache Stehendes angeschoben. Nicht min¬
der wesentlich wird das lyrische Element beeinträchtigt. Denn seine eigentliche
Bedeutung beruht ja nicht daraus, daß einzelne Personen lyrische Empfin¬
dungen aussprechen, die nun nach Art von Monologen benutzt werden, son¬
dern daß das Ganze von einer Stimmung beherrscht werde. Diese aber wird
aufgehoben und die Einzelnheiten, aus ihrem eigentlichen Zusammenhang ge¬
rissen, erhalten eine völlig veränderte und meistens falsche Bedeutung. Endlich
aber wird eine eigentlich dramatische Durchbildung nicht erreicht; nicht allein,
daß die sinnliche Darstellung fehlt, sondern es kommt gar nicht zu einer psy¬
chologischen Motivirung, durch welche die Begebenheit erst zur Handlung wird,
vielmehr nur zu einer Reihe einzelner Scenen, bei denen die Personen redend


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[0292] der Abonnementconcerte, wenn sie durch die häufige Gelegenheit viel und vieler¬ lei, zum Theil vortrefflich, zum Theil wenigstens mit dem Anspruch auf vir- tuvsenmäßige Ausführung zu hören, den Theil des Publicums, welcher Anlage und Interesse für Musik hat, allmcilig zu einem passiven Genießen durch Hören und Ansichvvrbeigehcnlassen, herabstimmtcn und Frische und Eifer sich selbst zu betheiligen, schwachem oder gar zerstörten. Von den wenigen größeren Gesangscompositivnen, welche noch zu Gehör kamen, war neu Gades Ballade: Erlkönigs Tochter, dem Inhalt nach bekannt durch Herders Otus. Außer einem Prolog und Epilog, welche vom Chor vorgetragen werden, zerfällt das Ganze in drei Abtheilungen, welche die Hauptmomente der Sage darstellen, und zwar in einer lyrisch-dramatischen Weise, so daß die Hauptpersonen Herr Otus und seine Mutter sowie die Er¬ lenmädchen redend eingeführt werden, denen sich ein Chor anschließt, der ein ziemlich abstractes Ding ohne bestimmten Charakter ist. Diese poetisch-musi¬ kalische Behandlung der Ballade, welche neuerdings auch von Schumann ver¬ sucht wordeu ist, kann schwerlich als ein erwünschter Fortschritt oder als der erfreuliche Erwerb eines neuen Genre gelten. Zunächst ist es klar, daß dadurch Wesen und Form der Ballade aufgehoben wird. Sie ist ihrem Wesen nach Erzählung, nur daß die Art der Erzählung, die Behandlung des Facnschen, bedingt wird durch die lyrische Stimmung, welche sie vollständig durchdringt und Charakter und Colorit der Darstellung bestimmt. Wo etwas scheinbar Dramatisches hinzutritt, zeigt sich dies bei näherer Betrachtung nur als ein äußeres Mittel der Darstellung, wie wenn einzelne Personen redend eingeführt werden, nicht aber als dem Wesen der Kunstgattung angehörig. Dieses be¬ ruht vielmehr, wie bemerkt darauf, daß der Stoff der Erzählung von der Empfindung des Dichters so durchdrungen und gesättigt erscheint, daß er die, eigenthümliche Form durch diese erhält. Bei einer Zersetzung der Ballade in einzelne äußerlich dramatisch behandelte Scenen, wie es hier geschieht, wird der epische Theil, die Erzählung, vollständig beseitigt, oder, wie hier im Prolog, rein äußerlich als etwas außer der Sache Stehendes angeschoben. Nicht min¬ der wesentlich wird das lyrische Element beeinträchtigt. Denn seine eigentliche Bedeutung beruht ja nicht daraus, daß einzelne Personen lyrische Empfin¬ dungen aussprechen, die nun nach Art von Monologen benutzt werden, son¬ dern daß das Ganze von einer Stimmung beherrscht werde. Diese aber wird aufgehoben und die Einzelnheiten, aus ihrem eigentlichen Zusammenhang ge¬ rissen, erhalten eine völlig veränderte und meistens falsche Bedeutung. Endlich aber wird eine eigentlich dramatische Durchbildung nicht erreicht; nicht allein, daß die sinnliche Darstellung fehlt, sondern es kommt gar nicht zu einer psy¬ chologischen Motivirung, durch welche die Begebenheit erst zur Handlung wird, vielmehr nur zu einer Reihe einzelner Scenen, bei denen die Personen redend

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341580_99385/292>, abgerufen am 26.06.2024.