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Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, I. Semester. II. Band.

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sang auffaßt, wird man ihr gerecht. Dies Verständniß erfordert eine ernste,
von der augenblicklichen Stimmung unabhängige religiöse Gesinnung, und
dies große Verdienst können wir unserm Geschichtschreiber in hohem Maße
zusprechen. Was man neuerdings von der Gesinnungslosigkeit oder Objectivität
des Geschichtschreibers gefabelt hat, kann sich nur darauf beziehen, daß der
Geschichtschreiber die Thatsachen gelten läßt. Geht man aber mit dieser
Forderung weiter, verlangt man, daß auch die Ideen, welche die Menschen
bewegt haben, ganz nach Art der Naturforschung, blos physiologisch zergliedert
werden sollen, so verlangt man das Unmögliche, denn die Idee, kann nur
durch das Medium der Idee richtig verstanden und gewürdigt werden. Das
blos künstlerische Verhältniß zur Ideenwelt ist z. B. die Klippe, an der auch
die außerordentliche Begabung Rankes überall scheitert, wo das Spiel der
Ereignisse einen ernstern Charakter annimmt. Wenn man das gegenwärtige
Werk neben die Geschichte Frankreichs von Ranke stellt, welche ungefähr den
nämlichen Gegenstand behandelt, so wird man in Bezug auf die Feinheit der
einzelnen Züge dem letztern den Preis nicht versagen können, aber die viel
wichtigere Pflicht, aus das Volk bildend einzuwirken, indem man ihm den
ideellen Zusammenhang der Dinge klar macht und es dadurch in seinen eignen
sittlichen Ideen befestigt, hat der jüngere Geschichtschreiber viel besser erfüllt.

Wenn bei der Behandlung der ältern Geschichte die Schwierigkeit darin
liegt, aus spärlichen, sporadischen Notizen sich das fragmentarische Bild eines
Zeitalters soweit zu ergänzen, daß man den ungefähren Zusammenhang des¬
selben wenigstens einigermaßen übersehen kann, so hat ein Geschichtschreiber
des -16. Jahrhunderts die entgegengesetzte Schwierigkeit zu überwinden, nämlich
aus dem Wust des Ueberkommenen dasjenige auszusondern, was für das
Charaktergemälde in der That nothwendig ist. Zunächst kommt eS daraus an,
aus den häusig entgegengesetzten Färbungen der verschiedenartigen Berichte
sein eignes Urtheil gründlich zu motiviren; und diese Aufgabe ist dem Ver¬
sasser vollkommen gelungen. Nicht so ganz möchten wir mit der Art und
Weise einverstanden sein, wie er seine Quellen für die wirkliche Darstellung
benutzt. Es scheint uns, als ob hin und wieder eine größere Enthaltsamkeit
wünschenswerth gewesen wäre, denn auch in der Geschichte ertragen wir das
Netardirende der Handlung nur bis zu einem gewissen Grad. Allein in dieser
Beziehung muß sich der Kritiker bescheiden, daß es nicht leicht sein würde, ein
objectives Maß festzustellen, und daß die individuelle Neigung, auch wol die
individuelle Vorkenniniß, bei manchem eine größere oder geringere Ausdehnung
wünschenswerth machte. Auf alle Fälle wird durch die Lebhaftigkeit und Ge¬
wandtheit der Darstellung der Vortrag wenigstens soweit beschleunigt, daß
Breiten weniger fühlbar werden.

Der Verfasser macht in der Vorrede die Fortsetzung seines Werks von dem


sang auffaßt, wird man ihr gerecht. Dies Verständniß erfordert eine ernste,
von der augenblicklichen Stimmung unabhängige religiöse Gesinnung, und
dies große Verdienst können wir unserm Geschichtschreiber in hohem Maße
zusprechen. Was man neuerdings von der Gesinnungslosigkeit oder Objectivität
des Geschichtschreibers gefabelt hat, kann sich nur darauf beziehen, daß der
Geschichtschreiber die Thatsachen gelten läßt. Geht man aber mit dieser
Forderung weiter, verlangt man, daß auch die Ideen, welche die Menschen
bewegt haben, ganz nach Art der Naturforschung, blos physiologisch zergliedert
werden sollen, so verlangt man das Unmögliche, denn die Idee, kann nur
durch das Medium der Idee richtig verstanden und gewürdigt werden. Das
blos künstlerische Verhältniß zur Ideenwelt ist z. B. die Klippe, an der auch
die außerordentliche Begabung Rankes überall scheitert, wo das Spiel der
Ereignisse einen ernstern Charakter annimmt. Wenn man das gegenwärtige
Werk neben die Geschichte Frankreichs von Ranke stellt, welche ungefähr den
nämlichen Gegenstand behandelt, so wird man in Bezug auf die Feinheit der
einzelnen Züge dem letztern den Preis nicht versagen können, aber die viel
wichtigere Pflicht, aus das Volk bildend einzuwirken, indem man ihm den
ideellen Zusammenhang der Dinge klar macht und es dadurch in seinen eignen
sittlichen Ideen befestigt, hat der jüngere Geschichtschreiber viel besser erfüllt.

Wenn bei der Behandlung der ältern Geschichte die Schwierigkeit darin
liegt, aus spärlichen, sporadischen Notizen sich das fragmentarische Bild eines
Zeitalters soweit zu ergänzen, daß man den ungefähren Zusammenhang des¬
selben wenigstens einigermaßen übersehen kann, so hat ein Geschichtschreiber
des -16. Jahrhunderts die entgegengesetzte Schwierigkeit zu überwinden, nämlich
aus dem Wust des Ueberkommenen dasjenige auszusondern, was für das
Charaktergemälde in der That nothwendig ist. Zunächst kommt eS daraus an,
aus den häusig entgegengesetzten Färbungen der verschiedenartigen Berichte
sein eignes Urtheil gründlich zu motiviren; und diese Aufgabe ist dem Ver¬
sasser vollkommen gelungen. Nicht so ganz möchten wir mit der Art und
Weise einverstanden sein, wie er seine Quellen für die wirkliche Darstellung
benutzt. Es scheint uns, als ob hin und wieder eine größere Enthaltsamkeit
wünschenswerth gewesen wäre, denn auch in der Geschichte ertragen wir das
Netardirende der Handlung nur bis zu einem gewissen Grad. Allein in dieser
Beziehung muß sich der Kritiker bescheiden, daß es nicht leicht sein würde, ein
objectives Maß festzustellen, und daß die individuelle Neigung, auch wol die
individuelle Vorkenniniß, bei manchem eine größere oder geringere Ausdehnung
wünschenswerth machte. Auf alle Fälle wird durch die Lebhaftigkeit und Ge¬
wandtheit der Darstellung der Vortrag wenigstens soweit beschleunigt, daß
Breiten weniger fühlbar werden.

Der Verfasser macht in der Vorrede die Fortsetzung seines Werks von dem


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341580_99385/266>, abgerufen am 01.07.2024.