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Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, I. Semester. II. Band.

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fertigten produciren. Aber diese Wirthschaft liegt eine gute halbe Stunde
außerhalb der Stadt, ist also wenig besucht. -- Immerhin selld diese Produc-
tionen interessant genug. Sie bestehen nicht blos in Gesängen, deren Rythmus
und sogenannte Molltone in der That sehr bald langweilig werden, sondern
überdies in gewissen nationalen Pantomimenspiclen. Zee dem Ende ist eine.
hohe Tribüne in jenem Garten errichtet. Unmittelbar bis an ihren Fuß
finden die Meereswellen und die pantomimischen Vorstellungen beginnen stets
erst nach Anbruch des Abends. In den langen, bis unter die Knöchel herab¬
reichenden grauen Kapotröcken, die schirmlose Napfmütze auf dem geschorenen
Kopfe über fahlen Gesichtern, nehmen sich die Soldatengestalten im Halbdunkel
täuschend aus wie wandelnde Baumstämme. Besonders da sie beim Gehen
auf festes Anlegen der Arme an den Körper einererciri sind und sich in den
langen Kapotröcken genau den Schlüpfenden Mönchsschritt angewöhnt haben.
Scheint aber der Vollmond auf vie Scene nieder, so mahnen die eingeengten
Bewegungen mit dem hellen Hintergrunde des glitzernden Meeres unwillkürlich
an gigantische Marionetten oder auch an chinesische Schattenspiele.

Eine Schilderung dieser von einzelnen Strophen und Chorrefrains beglei¬
teten Darstellungen würde ermüden, besonders da von eigentlichem Witz und
frischer Laune fast nie etwas darin zu verspüren. Sie laufen alle darauf
hinaus, daß eine Bootsmannschaft einen Ertrinkender auffischt, sich von die¬
sem die grauenhaftesten Possen aufbinden läßt, endlich hinter seine Lügen
kommt, ihn weidlich durchprügelt und ins Wasser wirft. Dann allgemeiner
Tanz nach dem Vortanze des Boolsführers, Bewegungen nach seinen Be¬
wegungen, endlich wildes Durcheinander und Getümmel, plötzlich ein Verharren
aller in der augenblicklich angenommenen Stellung -- und die Vorstellung ist-
zu Ende. --

So spinnt sich das Leben in Kronstäbe, trotz aller Wichtigkeit und Be¬
deutung des Platzes, äußerlich sehr einförmig ab. Nur wenn der Sturm vom
Nordwesten hereinbricht, entsteht allgemeine Bewegung. Denn der Nordwest¬
sturm bedroht, indem er die Wassermassen deS finnischen Busens gegen die
Strömung der Newa drängt, jedes Mal die Zarenresidenz mit voller Vernich¬
tung. Kronstäbe steht dann auf Vorposten, um mit Kanonenschüssen das
Herannahen des elementaren Feindes zu verkünden, den seine ganze Batterien-
macht nicht eine Secunde aufzuhalten vermag. Das Katharinenfort und die
Aleranderschanze hinter dem Leuchtthurme donnern dann die ersten Signale.
Der Kriegshafen gibt sie weiter nach der Stadt, aus welcher die Peterpauls¬
citadelle antwortet.

Aber noch schweigt die Stadt. Schuß auf Schuß tönt die Nacht durch
in gemessnen Pausen weiter. Man achtets nicht, man ists gewohnt. Die
einzelnen Schüsse bedeuten nur den leibeignen Handarbeitern Überschwemmung,


fertigten produciren. Aber diese Wirthschaft liegt eine gute halbe Stunde
außerhalb der Stadt, ist also wenig besucht. — Immerhin selld diese Produc-
tionen interessant genug. Sie bestehen nicht blos in Gesängen, deren Rythmus
und sogenannte Molltone in der That sehr bald langweilig werden, sondern
überdies in gewissen nationalen Pantomimenspiclen. Zee dem Ende ist eine.
hohe Tribüne in jenem Garten errichtet. Unmittelbar bis an ihren Fuß
finden die Meereswellen und die pantomimischen Vorstellungen beginnen stets
erst nach Anbruch des Abends. In den langen, bis unter die Knöchel herab¬
reichenden grauen Kapotröcken, die schirmlose Napfmütze auf dem geschorenen
Kopfe über fahlen Gesichtern, nehmen sich die Soldatengestalten im Halbdunkel
täuschend aus wie wandelnde Baumstämme. Besonders da sie beim Gehen
auf festes Anlegen der Arme an den Körper einererciri sind und sich in den
langen Kapotröcken genau den Schlüpfenden Mönchsschritt angewöhnt haben.
Scheint aber der Vollmond auf vie Scene nieder, so mahnen die eingeengten
Bewegungen mit dem hellen Hintergrunde des glitzernden Meeres unwillkürlich
an gigantische Marionetten oder auch an chinesische Schattenspiele.

Eine Schilderung dieser von einzelnen Strophen und Chorrefrains beglei¬
teten Darstellungen würde ermüden, besonders da von eigentlichem Witz und
frischer Laune fast nie etwas darin zu verspüren. Sie laufen alle darauf
hinaus, daß eine Bootsmannschaft einen Ertrinkender auffischt, sich von die¬
sem die grauenhaftesten Possen aufbinden läßt, endlich hinter seine Lügen
kommt, ihn weidlich durchprügelt und ins Wasser wirft. Dann allgemeiner
Tanz nach dem Vortanze des Boolsführers, Bewegungen nach seinen Be¬
wegungen, endlich wildes Durcheinander und Getümmel, plötzlich ein Verharren
aller in der augenblicklich angenommenen Stellung — und die Vorstellung ist-
zu Ende. —

So spinnt sich das Leben in Kronstäbe, trotz aller Wichtigkeit und Be¬
deutung des Platzes, äußerlich sehr einförmig ab. Nur wenn der Sturm vom
Nordwesten hereinbricht, entsteht allgemeine Bewegung. Denn der Nordwest¬
sturm bedroht, indem er die Wassermassen deS finnischen Busens gegen die
Strömung der Newa drängt, jedes Mal die Zarenresidenz mit voller Vernich¬
tung. Kronstäbe steht dann auf Vorposten, um mit Kanonenschüssen das
Herannahen des elementaren Feindes zu verkünden, den seine ganze Batterien-
macht nicht eine Secunde aufzuhalten vermag. Das Katharinenfort und die
Aleranderschanze hinter dem Leuchtthurme donnern dann die ersten Signale.
Der Kriegshafen gibt sie weiter nach der Stadt, aus welcher die Peterpauls¬
citadelle antwortet.

Aber noch schweigt die Stadt. Schuß auf Schuß tönt die Nacht durch
in gemessnen Pausen weiter. Man achtets nicht, man ists gewohnt. Die
einzelnen Schüsse bedeuten nur den leibeignen Handarbeitern Überschwemmung,


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[0262] fertigten produciren. Aber diese Wirthschaft liegt eine gute halbe Stunde außerhalb der Stadt, ist also wenig besucht. — Immerhin selld diese Produc- tionen interessant genug. Sie bestehen nicht blos in Gesängen, deren Rythmus und sogenannte Molltone in der That sehr bald langweilig werden, sondern überdies in gewissen nationalen Pantomimenspiclen. Zee dem Ende ist eine. hohe Tribüne in jenem Garten errichtet. Unmittelbar bis an ihren Fuß finden die Meereswellen und die pantomimischen Vorstellungen beginnen stets erst nach Anbruch des Abends. In den langen, bis unter die Knöchel herab¬ reichenden grauen Kapotröcken, die schirmlose Napfmütze auf dem geschorenen Kopfe über fahlen Gesichtern, nehmen sich die Soldatengestalten im Halbdunkel täuschend aus wie wandelnde Baumstämme. Besonders da sie beim Gehen auf festes Anlegen der Arme an den Körper einererciri sind und sich in den langen Kapotröcken genau den Schlüpfenden Mönchsschritt angewöhnt haben. Scheint aber der Vollmond auf vie Scene nieder, so mahnen die eingeengten Bewegungen mit dem hellen Hintergrunde des glitzernden Meeres unwillkürlich an gigantische Marionetten oder auch an chinesische Schattenspiele. Eine Schilderung dieser von einzelnen Strophen und Chorrefrains beglei¬ teten Darstellungen würde ermüden, besonders da von eigentlichem Witz und frischer Laune fast nie etwas darin zu verspüren. Sie laufen alle darauf hinaus, daß eine Bootsmannschaft einen Ertrinkender auffischt, sich von die¬ sem die grauenhaftesten Possen aufbinden läßt, endlich hinter seine Lügen kommt, ihn weidlich durchprügelt und ins Wasser wirft. Dann allgemeiner Tanz nach dem Vortanze des Boolsführers, Bewegungen nach seinen Be¬ wegungen, endlich wildes Durcheinander und Getümmel, plötzlich ein Verharren aller in der augenblicklich angenommenen Stellung — und die Vorstellung ist- zu Ende. — So spinnt sich das Leben in Kronstäbe, trotz aller Wichtigkeit und Be¬ deutung des Platzes, äußerlich sehr einförmig ab. Nur wenn der Sturm vom Nordwesten hereinbricht, entsteht allgemeine Bewegung. Denn der Nordwest¬ sturm bedroht, indem er die Wassermassen deS finnischen Busens gegen die Strömung der Newa drängt, jedes Mal die Zarenresidenz mit voller Vernich¬ tung. Kronstäbe steht dann auf Vorposten, um mit Kanonenschüssen das Herannahen des elementaren Feindes zu verkünden, den seine ganze Batterien- macht nicht eine Secunde aufzuhalten vermag. Das Katharinenfort und die Aleranderschanze hinter dem Leuchtthurme donnern dann die ersten Signale. Der Kriegshafen gibt sie weiter nach der Stadt, aus welcher die Peterpauls¬ citadelle antwortet. Aber noch schweigt die Stadt. Schuß auf Schuß tönt die Nacht durch in gemessnen Pausen weiter. Man achtets nicht, man ists gewohnt. Die einzelnen Schüsse bedeuten nur den leibeignen Handarbeitern Überschwemmung,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341580_99385/262>, abgerufen am 22.07.2024.