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Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, I. Semester. II. Band.

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Das Mormonenthum ist in rascher Verwandlung aus einer Wunder¬
lichkeit zu einem Wunder geworden. Es ist eine Distel, die Trauben, ein
Dornbusch, der Feigen trägt. Seine Geschichte klingt wie eine Satire auf alle
Gesetze menschlichen Geschehens. Sein Bestehen und Gedeihen kann den einen
ein Hohngelächter, den andern einen Ausruf der Bewunderung über die Natur
des angelsächsischen Geistes entlocken; ein Hohngelächter, wenn man dreihun¬
derttausend Wahnbeihorte sich im Netze des plumpsten Betrugs fangen lassen
sieht, einen Ausruf der Bewunderung, wenn man auf das große Organisations¬
talent der Führer und auf die heldenmüthige Ausdauer und den Bienenfleiß
der Massen blickt.

Indem wir der Darstellung der Gestalt, welche das Mormonenthum gegen-
wärtig gewonnen hat, einen kurzen Ueberblick der Geschichte vorausgehen lassen,
bemerken wir, daß eine ausführliche Geschichte der Sekte in deu "Wanderungen
zwischen Hudson und Mississippi" von Moritz Busch enthalten ist.

Im Jahre 1830 begann in der Nachbarschaft von Palmyra im westlichen
Neuyork zu verlauten, Joseph Smith, der Sohn eines Farmers im Dorfe
Manchester, habe, von einem Engel geleitet, in einem Hügel der Umgegend
ein Buch, aus Goldplatten bestehend und die Urgeschichte Amerikas einhaltend,
ausgefunden und predige auf Grund desselben eine neue Religion. Smith war
ein übelberüchligteö Subject. Arbeitsscheu und unwissend, aber schlau und ver¬
schlagen, hatte er sich bis dahin von Schwindeleien, namentlich aber dadurch
zu nähren gesucht, daß er alö Schatzgräber Leichtgläubige bethörte. Er ver¬
mochte darum auch nur wenige Anhänger für seine Offenbarungen zu gewinnen,
als jene Urkunde, von ihm "auf Gottes Befehl aus dem Neuäghptischen inS
Englische übertragen" unter bem Titel "die Goldne Bibel", der bei der
Zweiten Auflage in "das Buch Mormon" verwandelt wurde, im Drucke
"schien.

Der Inhalt dieser, als eine Art neustes Testament angepriesenen Jndianer-
bibel war in kurzem folgender: Bei der Sprachenverwirrung am Babellhurme
habe Gott die Kiuder Jarets als fromme Leute beim Gebrauche ihrer Sprache
belassen und sie j" Schiffen über das Meer nach Amerika geführt, wo
sie im Laufe der J.ih^e zu einem großen Volke angewachsen, endlich aber erk¬
altet und wegen jhr" Sünden und Laster durch Krieg, Seuche und Erdbeben
völlig vertilgt worden seien. Später, zur Zeit Zedekiaö -- erzählt ein andres
der Bücher, in welche das Buch Mormon gleich unsrer Bibel zerfällt -- wurde der
fromme Lebl vom Stamme Joseph mit seinem Weibe Sariah und seinen drei
Söhnen aus Jerusalem in die Wüste am rothen Meere und von dort ebenfalls
nach dem großen Festlande jenseits des Oceans geführt, wo sie sich gleich
jenen ungemein rasch vermehrten, sich in zwei feindliche Stämme, Nephilen
und Lamaniten, spalteten und nach und nach sowol Süd-, als Nordamerika


Das Mormonenthum ist in rascher Verwandlung aus einer Wunder¬
lichkeit zu einem Wunder geworden. Es ist eine Distel, die Trauben, ein
Dornbusch, der Feigen trägt. Seine Geschichte klingt wie eine Satire auf alle
Gesetze menschlichen Geschehens. Sein Bestehen und Gedeihen kann den einen
ein Hohngelächter, den andern einen Ausruf der Bewunderung über die Natur
des angelsächsischen Geistes entlocken; ein Hohngelächter, wenn man dreihun¬
derttausend Wahnbeihorte sich im Netze des plumpsten Betrugs fangen lassen
sieht, einen Ausruf der Bewunderung, wenn man auf das große Organisations¬
talent der Führer und auf die heldenmüthige Ausdauer und den Bienenfleiß
der Massen blickt.

Indem wir der Darstellung der Gestalt, welche das Mormonenthum gegen-
wärtig gewonnen hat, einen kurzen Ueberblick der Geschichte vorausgehen lassen,
bemerken wir, daß eine ausführliche Geschichte der Sekte in deu „Wanderungen
zwischen Hudson und Mississippi" von Moritz Busch enthalten ist.

Im Jahre 1830 begann in der Nachbarschaft von Palmyra im westlichen
Neuyork zu verlauten, Joseph Smith, der Sohn eines Farmers im Dorfe
Manchester, habe, von einem Engel geleitet, in einem Hügel der Umgegend
ein Buch, aus Goldplatten bestehend und die Urgeschichte Amerikas einhaltend,
ausgefunden und predige auf Grund desselben eine neue Religion. Smith war
ein übelberüchligteö Subject. Arbeitsscheu und unwissend, aber schlau und ver¬
schlagen, hatte er sich bis dahin von Schwindeleien, namentlich aber dadurch
zu nähren gesucht, daß er alö Schatzgräber Leichtgläubige bethörte. Er ver¬
mochte darum auch nur wenige Anhänger für seine Offenbarungen zu gewinnen,
als jene Urkunde, von ihm „auf Gottes Befehl aus dem Neuäghptischen inS
Englische übertragen" unter bem Titel „die Goldne Bibel", der bei der
Zweiten Auflage in „das Buch Mormon" verwandelt wurde, im Drucke
"schien.

Der Inhalt dieser, als eine Art neustes Testament angepriesenen Jndianer-
bibel war in kurzem folgender: Bei der Sprachenverwirrung am Babellhurme
habe Gott die Kiuder Jarets als fromme Leute beim Gebrauche ihrer Sprache
belassen und sie j„ Schiffen über das Meer nach Amerika geführt, wo
sie im Laufe der J.ih^e zu einem großen Volke angewachsen, endlich aber erk¬
altet und wegen jhr„ Sünden und Laster durch Krieg, Seuche und Erdbeben
völlig vertilgt worden seien. Später, zur Zeit Zedekiaö — erzählt ein andres
der Bücher, in welche das Buch Mormon gleich unsrer Bibel zerfällt — wurde der
fromme Lebl vom Stamme Joseph mit seinem Weibe Sariah und seinen drei
Söhnen aus Jerusalem in die Wüste am rothen Meere und von dort ebenfalls
nach dem großen Festlande jenseits des Oceans geführt, wo sie sich gleich
jenen ungemein rasch vermehrten, sich in zwei feindliche Stämme, Nephilen
und Lamaniten, spalteten und nach und nach sowol Süd-, als Nordamerika


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[0023] Das Mormonenthum ist in rascher Verwandlung aus einer Wunder¬ lichkeit zu einem Wunder geworden. Es ist eine Distel, die Trauben, ein Dornbusch, der Feigen trägt. Seine Geschichte klingt wie eine Satire auf alle Gesetze menschlichen Geschehens. Sein Bestehen und Gedeihen kann den einen ein Hohngelächter, den andern einen Ausruf der Bewunderung über die Natur des angelsächsischen Geistes entlocken; ein Hohngelächter, wenn man dreihun¬ derttausend Wahnbeihorte sich im Netze des plumpsten Betrugs fangen lassen sieht, einen Ausruf der Bewunderung, wenn man auf das große Organisations¬ talent der Führer und auf die heldenmüthige Ausdauer und den Bienenfleiß der Massen blickt. Indem wir der Darstellung der Gestalt, welche das Mormonenthum gegen- wärtig gewonnen hat, einen kurzen Ueberblick der Geschichte vorausgehen lassen, bemerken wir, daß eine ausführliche Geschichte der Sekte in deu „Wanderungen zwischen Hudson und Mississippi" von Moritz Busch enthalten ist. Im Jahre 1830 begann in der Nachbarschaft von Palmyra im westlichen Neuyork zu verlauten, Joseph Smith, der Sohn eines Farmers im Dorfe Manchester, habe, von einem Engel geleitet, in einem Hügel der Umgegend ein Buch, aus Goldplatten bestehend und die Urgeschichte Amerikas einhaltend, ausgefunden und predige auf Grund desselben eine neue Religion. Smith war ein übelberüchligteö Subject. Arbeitsscheu und unwissend, aber schlau und ver¬ schlagen, hatte er sich bis dahin von Schwindeleien, namentlich aber dadurch zu nähren gesucht, daß er alö Schatzgräber Leichtgläubige bethörte. Er ver¬ mochte darum auch nur wenige Anhänger für seine Offenbarungen zu gewinnen, als jene Urkunde, von ihm „auf Gottes Befehl aus dem Neuäghptischen inS Englische übertragen" unter bem Titel „die Goldne Bibel", der bei der Zweiten Auflage in „das Buch Mormon" verwandelt wurde, im Drucke "schien. Der Inhalt dieser, als eine Art neustes Testament angepriesenen Jndianer- bibel war in kurzem folgender: Bei der Sprachenverwirrung am Babellhurme habe Gott die Kiuder Jarets als fromme Leute beim Gebrauche ihrer Sprache belassen und sie j„ Schiffen über das Meer nach Amerika geführt, wo sie im Laufe der J.ih^e zu einem großen Volke angewachsen, endlich aber erk¬ altet und wegen jhr„ Sünden und Laster durch Krieg, Seuche und Erdbeben völlig vertilgt worden seien. Später, zur Zeit Zedekiaö — erzählt ein andres der Bücher, in welche das Buch Mormon gleich unsrer Bibel zerfällt — wurde der fromme Lebl vom Stamme Joseph mit seinem Weibe Sariah und seinen drei Söhnen aus Jerusalem in die Wüste am rothen Meere und von dort ebenfalls nach dem großen Festlande jenseits des Oceans geführt, wo sie sich gleich jenen ungemein rasch vermehrten, sich in zwei feindliche Stämme, Nephilen und Lamaniten, spalteten und nach und nach sowol Süd-, als Nordamerika

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341580_99385/23>, abgerufen am 01.07.2024.