Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, I. Semester. II. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

werden und mühelos geistreich zu sein, wie wir das seiner Zeit ausführlich
auseinandergesetzt haben. In diesem Augenblick hat alle Gefahr von jener
Seite aufgehört. Die Kunst wird nicht mehr durch Barbarei, sondern durch
das alte Uebel der Unproductivitä't gefährdet, und dieser wird keine Kritik ab¬
helfen. Man wird uns also jetzt nicht mißverstehen/ uns namentlich nicht sür
Wagnerianer halten, wenn wir im entschiedenen Gegensatz gegen den polemi¬
schen Theil unsres Verfassers die Ueberzeugung aussprechen, daß in der Musik
der Ausdruck und die Erregung von, Empfindungen nicht etwas Accidentelles,
sondern etwas Wesentliches und Nothwendiges ist. Prüfen wir, um dies zu
begründen, einzelne von den Ansichten des Verfassers.

Der Zusammenhang eines Tonstücks mit der dadurch hervorgerufenen Ge¬
fühlsbewegung ist kein nothwendig causaler; unter verschiedenen Verhältnissen
wird dieselbe Musik sehr ungleich wirken. Im Concertpublicum fühlt die eine
Hälfte in Beethovens Symphonien die stärksten Regungen geweckt, während
die andere darin nur schwerfällige Verstandesmusik findet. In manchen Augen¬
blicken regt uns ein Musikstück zu Thränen auf, ein ander Mal läßt es
kalt u. f. w. -- Dies und Aehnliches behauptet der Verfasser S. 8.

Hier dürfte nun zunächst entgegnet werden, daß der Eindruck der Kunst
überhaupt kein zwingender ist, daß er zwingend ist nur für diejenigen, die
erstens wirklich zuhören, und die zweitens die nöthige Vorbildung haben. Wenn
jemand von andern Gedanken'und Bedürfnissen absorbirt ist, so wird er auch
in Shakspcars Macbeth keine Leidenschaft empfinden; und jede Kunst, nament¬
lich die höher entwickelte, enthält gewisse Voraussetzungen, die man innehalten
muß, um sie so aufzunehmen, wie man sie aufnehmen soll. Die lyrische Poesie
ist doch gewiß auch der Ausdruck der Empfindung; trotzdem wird auch das
beste lyrische Gedicht bei empfindungslosen Gemüthern oder bei Gemüthern,
die anderweitig absorbirt sind, keine Empfindung hervorrufen. In der Musik
ist das in noch weit höhrem Grade der Fall, denn es gibt Naturen, die über¬
haupt keine musikalische Empfindung haben, denen eine fortgesetzte Quinten-
solge den lieblichsten Eindruck von der Welt macht, es gibt andere, deren mu¬
sikalische Empfindung durch schlechte Gewohnheiten verwildert ist. Wenn wir
also von der nothwendigen Beziehung des Kunstwerks zum recipirenden Pub-
licum sprechen, so kann nur von einem normalen Publicum die Rede
sein; und hier behaupten wir, daß die Beziehung der Empfindungen allerdings
eine nothwendige ist. Nebenbei müssen wir bemerken, daß wir auch diese Ein¬
schränkung nur für die feineren Nuancen gelten lassen. Wir möchten z. B. das
Publicum sehen, das durch den Trauermarsch der Eroica oder durch das
Schlußmotiv der Cmollsymphonie in seinen Empfindungen anders erregt würde,
als so, wie der Componist es hat erregen wollen. Zu der richtigen Aufnahme
complicirter Tonverhältnisse gehört ein feiner gebildetes Ohr; aber die älterem-


werden und mühelos geistreich zu sein, wie wir das seiner Zeit ausführlich
auseinandergesetzt haben. In diesem Augenblick hat alle Gefahr von jener
Seite aufgehört. Die Kunst wird nicht mehr durch Barbarei, sondern durch
das alte Uebel der Unproductivitä't gefährdet, und dieser wird keine Kritik ab¬
helfen. Man wird uns also jetzt nicht mißverstehen/ uns namentlich nicht sür
Wagnerianer halten, wenn wir im entschiedenen Gegensatz gegen den polemi¬
schen Theil unsres Verfassers die Ueberzeugung aussprechen, daß in der Musik
der Ausdruck und die Erregung von, Empfindungen nicht etwas Accidentelles,
sondern etwas Wesentliches und Nothwendiges ist. Prüfen wir, um dies zu
begründen, einzelne von den Ansichten des Verfassers.

Der Zusammenhang eines Tonstücks mit der dadurch hervorgerufenen Ge¬
fühlsbewegung ist kein nothwendig causaler; unter verschiedenen Verhältnissen
wird dieselbe Musik sehr ungleich wirken. Im Concertpublicum fühlt die eine
Hälfte in Beethovens Symphonien die stärksten Regungen geweckt, während
die andere darin nur schwerfällige Verstandesmusik findet. In manchen Augen¬
blicken regt uns ein Musikstück zu Thränen auf, ein ander Mal läßt es
kalt u. f. w. — Dies und Aehnliches behauptet der Verfasser S. 8.

Hier dürfte nun zunächst entgegnet werden, daß der Eindruck der Kunst
überhaupt kein zwingender ist, daß er zwingend ist nur für diejenigen, die
erstens wirklich zuhören, und die zweitens die nöthige Vorbildung haben. Wenn
jemand von andern Gedanken'und Bedürfnissen absorbirt ist, so wird er auch
in Shakspcars Macbeth keine Leidenschaft empfinden; und jede Kunst, nament¬
lich die höher entwickelte, enthält gewisse Voraussetzungen, die man innehalten
muß, um sie so aufzunehmen, wie man sie aufnehmen soll. Die lyrische Poesie
ist doch gewiß auch der Ausdruck der Empfindung; trotzdem wird auch das
beste lyrische Gedicht bei empfindungslosen Gemüthern oder bei Gemüthern,
die anderweitig absorbirt sind, keine Empfindung hervorrufen. In der Musik
ist das in noch weit höhrem Grade der Fall, denn es gibt Naturen, die über¬
haupt keine musikalische Empfindung haben, denen eine fortgesetzte Quinten-
solge den lieblichsten Eindruck von der Welt macht, es gibt andere, deren mu¬
sikalische Empfindung durch schlechte Gewohnheiten verwildert ist. Wenn wir
also von der nothwendigen Beziehung des Kunstwerks zum recipirenden Pub-
licum sprechen, so kann nur von einem normalen Publicum die Rede
sein; und hier behaupten wir, daß die Beziehung der Empfindungen allerdings
eine nothwendige ist. Nebenbei müssen wir bemerken, daß wir auch diese Ein¬
schränkung nur für die feineren Nuancen gelten lassen. Wir möchten z. B. das
Publicum sehen, das durch den Trauermarsch der Eroica oder durch das
Schlußmotiv der Cmollsymphonie in seinen Empfindungen anders erregt würde,
als so, wie der Componist es hat erregen wollen. Zu der richtigen Aufnahme
complicirter Tonverhältnisse gehört ein feiner gebildetes Ohr; aber die älterem-


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0213" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/99599"/>
          <p xml:id="ID_724" prev="#ID_723"> werden und mühelos geistreich zu sein, wie wir das seiner Zeit ausführlich<lb/>
auseinandergesetzt haben. In diesem Augenblick hat alle Gefahr von jener<lb/>
Seite aufgehört. Die Kunst wird nicht mehr durch Barbarei, sondern durch<lb/>
das alte Uebel der Unproductivitä't gefährdet, und dieser wird keine Kritik ab¬<lb/>
helfen. Man wird uns also jetzt nicht mißverstehen/ uns namentlich nicht sür<lb/>
Wagnerianer halten, wenn wir im entschiedenen Gegensatz gegen den polemi¬<lb/>
schen Theil unsres Verfassers die Ueberzeugung aussprechen, daß in der Musik<lb/>
der Ausdruck und die Erregung von, Empfindungen nicht etwas Accidentelles,<lb/>
sondern etwas Wesentliches und Nothwendiges ist. Prüfen wir, um dies zu<lb/>
begründen, einzelne von den Ansichten des Verfassers.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_725"> Der Zusammenhang eines Tonstücks mit der dadurch hervorgerufenen Ge¬<lb/>
fühlsbewegung ist kein nothwendig causaler; unter verschiedenen Verhältnissen<lb/>
wird dieselbe Musik sehr ungleich wirken. Im Concertpublicum fühlt die eine<lb/>
Hälfte in Beethovens Symphonien die stärksten Regungen geweckt, während<lb/>
die andere darin nur schwerfällige Verstandesmusik findet. In manchen Augen¬<lb/>
blicken regt uns ein Musikstück zu Thränen auf, ein ander Mal läßt es<lb/>
kalt u. f. w. &#x2014; Dies und Aehnliches behauptet der Verfasser S. 8.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_726" next="#ID_727"> Hier dürfte nun zunächst entgegnet werden, daß der Eindruck der Kunst<lb/>
überhaupt kein zwingender ist, daß er zwingend ist nur für diejenigen, die<lb/>
erstens wirklich zuhören, und die zweitens die nöthige Vorbildung haben. Wenn<lb/>
jemand von andern Gedanken'und Bedürfnissen absorbirt ist, so wird er auch<lb/>
in Shakspcars Macbeth keine Leidenschaft empfinden; und jede Kunst, nament¬<lb/>
lich die höher entwickelte, enthält gewisse Voraussetzungen, die man innehalten<lb/>
muß, um sie so aufzunehmen, wie man sie aufnehmen soll. Die lyrische Poesie<lb/>
ist doch gewiß auch der Ausdruck der Empfindung; trotzdem wird auch das<lb/>
beste lyrische Gedicht bei empfindungslosen Gemüthern oder bei Gemüthern,<lb/>
die anderweitig absorbirt sind, keine Empfindung hervorrufen. In der Musik<lb/>
ist das in noch weit höhrem Grade der Fall, denn es gibt Naturen, die über¬<lb/>
haupt keine musikalische Empfindung haben, denen eine fortgesetzte Quinten-<lb/>
solge den lieblichsten Eindruck von der Welt macht, es gibt andere, deren mu¬<lb/>
sikalische Empfindung durch schlechte Gewohnheiten verwildert ist. Wenn wir<lb/>
also von der nothwendigen Beziehung des Kunstwerks zum recipirenden Pub-<lb/>
licum sprechen, so kann nur von einem normalen Publicum die Rede<lb/>
sein; und hier behaupten wir, daß die Beziehung der Empfindungen allerdings<lb/>
eine nothwendige ist. Nebenbei müssen wir bemerken, daß wir auch diese Ein¬<lb/>
schränkung nur für die feineren Nuancen gelten lassen. Wir möchten z. B. das<lb/>
Publicum sehen, das durch den Trauermarsch der Eroica oder durch das<lb/>
Schlußmotiv der Cmollsymphonie in seinen Empfindungen anders erregt würde,<lb/>
als so, wie der Componist es hat erregen wollen. Zu der richtigen Aufnahme<lb/>
complicirter Tonverhältnisse gehört ein feiner gebildetes Ohr; aber die älterem-</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0213] werden und mühelos geistreich zu sein, wie wir das seiner Zeit ausführlich auseinandergesetzt haben. In diesem Augenblick hat alle Gefahr von jener Seite aufgehört. Die Kunst wird nicht mehr durch Barbarei, sondern durch das alte Uebel der Unproductivitä't gefährdet, und dieser wird keine Kritik ab¬ helfen. Man wird uns also jetzt nicht mißverstehen/ uns namentlich nicht sür Wagnerianer halten, wenn wir im entschiedenen Gegensatz gegen den polemi¬ schen Theil unsres Verfassers die Ueberzeugung aussprechen, daß in der Musik der Ausdruck und die Erregung von, Empfindungen nicht etwas Accidentelles, sondern etwas Wesentliches und Nothwendiges ist. Prüfen wir, um dies zu begründen, einzelne von den Ansichten des Verfassers. Der Zusammenhang eines Tonstücks mit der dadurch hervorgerufenen Ge¬ fühlsbewegung ist kein nothwendig causaler; unter verschiedenen Verhältnissen wird dieselbe Musik sehr ungleich wirken. Im Concertpublicum fühlt die eine Hälfte in Beethovens Symphonien die stärksten Regungen geweckt, während die andere darin nur schwerfällige Verstandesmusik findet. In manchen Augen¬ blicken regt uns ein Musikstück zu Thränen auf, ein ander Mal läßt es kalt u. f. w. — Dies und Aehnliches behauptet der Verfasser S. 8. Hier dürfte nun zunächst entgegnet werden, daß der Eindruck der Kunst überhaupt kein zwingender ist, daß er zwingend ist nur für diejenigen, die erstens wirklich zuhören, und die zweitens die nöthige Vorbildung haben. Wenn jemand von andern Gedanken'und Bedürfnissen absorbirt ist, so wird er auch in Shakspcars Macbeth keine Leidenschaft empfinden; und jede Kunst, nament¬ lich die höher entwickelte, enthält gewisse Voraussetzungen, die man innehalten muß, um sie so aufzunehmen, wie man sie aufnehmen soll. Die lyrische Poesie ist doch gewiß auch der Ausdruck der Empfindung; trotzdem wird auch das beste lyrische Gedicht bei empfindungslosen Gemüthern oder bei Gemüthern, die anderweitig absorbirt sind, keine Empfindung hervorrufen. In der Musik ist das in noch weit höhrem Grade der Fall, denn es gibt Naturen, die über¬ haupt keine musikalische Empfindung haben, denen eine fortgesetzte Quinten- solge den lieblichsten Eindruck von der Welt macht, es gibt andere, deren mu¬ sikalische Empfindung durch schlechte Gewohnheiten verwildert ist. Wenn wir also von der nothwendigen Beziehung des Kunstwerks zum recipirenden Pub- licum sprechen, so kann nur von einem normalen Publicum die Rede sein; und hier behaupten wir, daß die Beziehung der Empfindungen allerdings eine nothwendige ist. Nebenbei müssen wir bemerken, daß wir auch diese Ein¬ schränkung nur für die feineren Nuancen gelten lassen. Wir möchten z. B. das Publicum sehen, das durch den Trauermarsch der Eroica oder durch das Schlußmotiv der Cmollsymphonie in seinen Empfindungen anders erregt würde, als so, wie der Componist es hat erregen wollen. Zu der richtigen Aufnahme complicirter Tonverhältnisse gehört ein feiner gebildetes Ohr; aber die älterem-

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341580_99385
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341580_99385/213
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341580_99385/213>, abgerufen am 22.07.2024.