Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, I. Semester. II. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

desselben. Soviel uns bekannt ist, hat man für die Poesie diese Grenz¬
bestimmung noch nicht so genau ausgefunden, daß sie jedem Auge ersichtlich
wäre.

Für die Musik oder Tonkunst ist eine solche Grenzbestimmung überflüssig.
Wenn man den Unterschied zwischen Ton und Schall festgestellt hat, so hat
man auch den Begriff der Musik, denn es gibt keine andre Kunst, die sich mit
den Tönen beschäftigte. Aber damit war man durchaus nicht zufrieden. Man
wollte aus dem Begriff der schönen Kunst heraus die schönen Künste auf eine
ideale Weise classificiren und so kam man auf die Idee, die Musik als die¬
jenige Kunst zu definiren, welche Empfindungen darstellt oder erregt, eine De¬
finition, die in der That nicht viel sagen .will, die aber den Verfasser so ver¬
letzt hat, daß er eine ziemlich überflüssige Gelehrsamkeit daran verschwendet
und daß er seinerseits hin und wieder andeutet, die Musik habe es überhaupt
weder mit der Darstellung, noch mit der Erregung von Empfindungen zu thun;
wenn so etwas vorkäme, sei es nur accidentell: eine Behauptung, deren Un¬
gereimtheit wiederum jeder beliebige Walzer, Marsch oder Choral nachweisen
kann. Freilich nimmt der Verfasser selbst seine Behauptung später einiger¬
maßen zurück, aber er hätte sie lieber ganz ausstreichen sollen.

Jene Deduction a priori war solange unbedenklich, als sich die Philo¬
sophie auf transscendentalen Gebiet bewegte, d. h. als sie sich damit begnügte,
das Wesen und den Begriff des Schönen aus dem Wesen und dem Begriff
der menschlichen Seele zu entwickeln. Was Kant in dieser Beziehung geleistet
hat, wird ein ewiger Gewinn für die Einsicht in den menschlichen Geist bleiben.
Seitdem aber die Philosophie versuchte, objectiv zu werden, d. h. aus dem
Begriff des Geistes den Begriff der realen Welt herleiten zu wollen, hörte die
Unbedenklichkeit dieser Versuche auf. Jeder Versuch, aus dem Begriff deö
Schönen heraus ein beliebiges Gesetz der bestimmten Kunst, so groß oder so
unbedeutend es sein mochte, herzuleiten, mußte ebenso illusorisch sein, als
Hegels bekannte Deduction, die Existenz der Asteroiden sei mit dem Wesen des
Geistes unverträglich; eine metaphysische Beweisführung, die bekanntlich noch
in demselben Jahr durch die Entdeckung des ersten dieser niedlichen kleinen
Sterne factisch widerlegt wurde.

Anders ist. es mit einer andern Deduction beschaffen, mit der Deduction
der Kunstgesetze aus den Gesetzen der Natur. Daß eine Aufeinanderfolge von
Quinten das Ohr beleidigt, ist ein Naturgesetz, dessen Zusammenhang mit
den andern Naturgesetzen sich wissenschaftlich erweisen lassen muß; aber leider
sind wir noch nicht soweit, diesen Beweis wirklich zu führen und wenn wir
einmal soweit sein werden, wird es wol mit der Kunst überhaupt zu Ende
sein. So sind wir vorläufig mit der Tonkunst theils auf die Beobachtung der
empirisch ausgenommenen Naturgesetze, theils, wie in andern Künsten, auf


26"°

desselben. Soviel uns bekannt ist, hat man für die Poesie diese Grenz¬
bestimmung noch nicht so genau ausgefunden, daß sie jedem Auge ersichtlich
wäre.

Für die Musik oder Tonkunst ist eine solche Grenzbestimmung überflüssig.
Wenn man den Unterschied zwischen Ton und Schall festgestellt hat, so hat
man auch den Begriff der Musik, denn es gibt keine andre Kunst, die sich mit
den Tönen beschäftigte. Aber damit war man durchaus nicht zufrieden. Man
wollte aus dem Begriff der schönen Kunst heraus die schönen Künste auf eine
ideale Weise classificiren und so kam man auf die Idee, die Musik als die¬
jenige Kunst zu definiren, welche Empfindungen darstellt oder erregt, eine De¬
finition, die in der That nicht viel sagen .will, die aber den Verfasser so ver¬
letzt hat, daß er eine ziemlich überflüssige Gelehrsamkeit daran verschwendet
und daß er seinerseits hin und wieder andeutet, die Musik habe es überhaupt
weder mit der Darstellung, noch mit der Erregung von Empfindungen zu thun;
wenn so etwas vorkäme, sei es nur accidentell: eine Behauptung, deren Un¬
gereimtheit wiederum jeder beliebige Walzer, Marsch oder Choral nachweisen
kann. Freilich nimmt der Verfasser selbst seine Behauptung später einiger¬
maßen zurück, aber er hätte sie lieber ganz ausstreichen sollen.

Jene Deduction a priori war solange unbedenklich, als sich die Philo¬
sophie auf transscendentalen Gebiet bewegte, d. h. als sie sich damit begnügte,
das Wesen und den Begriff des Schönen aus dem Wesen und dem Begriff
der menschlichen Seele zu entwickeln. Was Kant in dieser Beziehung geleistet
hat, wird ein ewiger Gewinn für die Einsicht in den menschlichen Geist bleiben.
Seitdem aber die Philosophie versuchte, objectiv zu werden, d. h. aus dem
Begriff des Geistes den Begriff der realen Welt herleiten zu wollen, hörte die
Unbedenklichkeit dieser Versuche auf. Jeder Versuch, aus dem Begriff deö
Schönen heraus ein beliebiges Gesetz der bestimmten Kunst, so groß oder so
unbedeutend es sein mochte, herzuleiten, mußte ebenso illusorisch sein, als
Hegels bekannte Deduction, die Existenz der Asteroiden sei mit dem Wesen des
Geistes unverträglich; eine metaphysische Beweisführung, die bekanntlich noch
in demselben Jahr durch die Entdeckung des ersten dieser niedlichen kleinen
Sterne factisch widerlegt wurde.

Anders ist. es mit einer andern Deduction beschaffen, mit der Deduction
der Kunstgesetze aus den Gesetzen der Natur. Daß eine Aufeinanderfolge von
Quinten das Ohr beleidigt, ist ein Naturgesetz, dessen Zusammenhang mit
den andern Naturgesetzen sich wissenschaftlich erweisen lassen muß; aber leider
sind wir noch nicht soweit, diesen Beweis wirklich zu führen und wenn wir
einmal soweit sein werden, wird es wol mit der Kunst überhaupt zu Ende
sein. So sind wir vorläufig mit der Tonkunst theils auf die Beobachtung der
empirisch ausgenommenen Naturgesetze, theils, wie in andern Künsten, auf


26"°
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0211" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/99597"/>
          <p xml:id="ID_717" prev="#ID_716"> desselben. Soviel uns bekannt ist, hat man für die Poesie diese Grenz¬<lb/>
bestimmung noch nicht so genau ausgefunden, daß sie jedem Auge ersichtlich<lb/>
wäre.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_718"> Für die Musik oder Tonkunst ist eine solche Grenzbestimmung überflüssig.<lb/>
Wenn man den Unterschied zwischen Ton und Schall festgestellt hat, so hat<lb/>
man auch den Begriff der Musik, denn es gibt keine andre Kunst, die sich mit<lb/>
den Tönen beschäftigte. Aber damit war man durchaus nicht zufrieden. Man<lb/>
wollte aus dem Begriff der schönen Kunst heraus die schönen Künste auf eine<lb/>
ideale Weise classificiren und so kam man auf die Idee, die Musik als die¬<lb/>
jenige Kunst zu definiren, welche Empfindungen darstellt oder erregt, eine De¬<lb/>
finition, die in der That nicht viel sagen .will, die aber den Verfasser so ver¬<lb/>
letzt hat, daß er eine ziemlich überflüssige Gelehrsamkeit daran verschwendet<lb/>
und daß er seinerseits hin und wieder andeutet, die Musik habe es überhaupt<lb/>
weder mit der Darstellung, noch mit der Erregung von Empfindungen zu thun;<lb/>
wenn so etwas vorkäme, sei es nur accidentell: eine Behauptung, deren Un¬<lb/>
gereimtheit wiederum jeder beliebige Walzer, Marsch oder Choral nachweisen<lb/>
kann. Freilich nimmt der Verfasser selbst seine Behauptung später einiger¬<lb/>
maßen zurück, aber er hätte sie lieber ganz ausstreichen sollen.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_719"> Jene Deduction a priori war solange unbedenklich, als sich die Philo¬<lb/>
sophie auf transscendentalen Gebiet bewegte, d. h. als sie sich damit begnügte,<lb/>
das Wesen und den Begriff des Schönen aus dem Wesen und dem Begriff<lb/>
der menschlichen Seele zu entwickeln. Was Kant in dieser Beziehung geleistet<lb/>
hat, wird ein ewiger Gewinn für die Einsicht in den menschlichen Geist bleiben.<lb/>
Seitdem aber die Philosophie versuchte, objectiv zu werden, d. h. aus dem<lb/>
Begriff des Geistes den Begriff der realen Welt herleiten zu wollen, hörte die<lb/>
Unbedenklichkeit dieser Versuche auf. Jeder Versuch, aus dem Begriff deö<lb/>
Schönen heraus ein beliebiges Gesetz der bestimmten Kunst, so groß oder so<lb/>
unbedeutend es sein mochte, herzuleiten, mußte ebenso illusorisch sein, als<lb/>
Hegels bekannte Deduction, die Existenz der Asteroiden sei mit dem Wesen des<lb/>
Geistes unverträglich; eine metaphysische Beweisführung, die bekanntlich noch<lb/>
in demselben Jahr durch die Entdeckung des ersten dieser niedlichen kleinen<lb/>
Sterne factisch widerlegt wurde.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_720" next="#ID_721"> Anders ist. es mit einer andern Deduction beschaffen, mit der Deduction<lb/>
der Kunstgesetze aus den Gesetzen der Natur. Daß eine Aufeinanderfolge von<lb/>
Quinten das Ohr beleidigt, ist ein Naturgesetz, dessen Zusammenhang mit<lb/>
den andern Naturgesetzen sich wissenschaftlich erweisen lassen muß; aber leider<lb/>
sind wir noch nicht soweit, diesen Beweis wirklich zu führen und wenn wir<lb/>
einmal soweit sein werden, wird es wol mit der Kunst überhaupt zu Ende<lb/>
sein. So sind wir vorläufig mit der Tonkunst theils auf die Beobachtung der<lb/>
empirisch ausgenommenen Naturgesetze, theils, wie in andern Künsten, auf</p><lb/>
          <fw type="sig" place="bottom"> 26"°</fw><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0211] desselben. Soviel uns bekannt ist, hat man für die Poesie diese Grenz¬ bestimmung noch nicht so genau ausgefunden, daß sie jedem Auge ersichtlich wäre. Für die Musik oder Tonkunst ist eine solche Grenzbestimmung überflüssig. Wenn man den Unterschied zwischen Ton und Schall festgestellt hat, so hat man auch den Begriff der Musik, denn es gibt keine andre Kunst, die sich mit den Tönen beschäftigte. Aber damit war man durchaus nicht zufrieden. Man wollte aus dem Begriff der schönen Kunst heraus die schönen Künste auf eine ideale Weise classificiren und so kam man auf die Idee, die Musik als die¬ jenige Kunst zu definiren, welche Empfindungen darstellt oder erregt, eine De¬ finition, die in der That nicht viel sagen .will, die aber den Verfasser so ver¬ letzt hat, daß er eine ziemlich überflüssige Gelehrsamkeit daran verschwendet und daß er seinerseits hin und wieder andeutet, die Musik habe es überhaupt weder mit der Darstellung, noch mit der Erregung von Empfindungen zu thun; wenn so etwas vorkäme, sei es nur accidentell: eine Behauptung, deren Un¬ gereimtheit wiederum jeder beliebige Walzer, Marsch oder Choral nachweisen kann. Freilich nimmt der Verfasser selbst seine Behauptung später einiger¬ maßen zurück, aber er hätte sie lieber ganz ausstreichen sollen. Jene Deduction a priori war solange unbedenklich, als sich die Philo¬ sophie auf transscendentalen Gebiet bewegte, d. h. als sie sich damit begnügte, das Wesen und den Begriff des Schönen aus dem Wesen und dem Begriff der menschlichen Seele zu entwickeln. Was Kant in dieser Beziehung geleistet hat, wird ein ewiger Gewinn für die Einsicht in den menschlichen Geist bleiben. Seitdem aber die Philosophie versuchte, objectiv zu werden, d. h. aus dem Begriff des Geistes den Begriff der realen Welt herleiten zu wollen, hörte die Unbedenklichkeit dieser Versuche auf. Jeder Versuch, aus dem Begriff deö Schönen heraus ein beliebiges Gesetz der bestimmten Kunst, so groß oder so unbedeutend es sein mochte, herzuleiten, mußte ebenso illusorisch sein, als Hegels bekannte Deduction, die Existenz der Asteroiden sei mit dem Wesen des Geistes unverträglich; eine metaphysische Beweisführung, die bekanntlich noch in demselben Jahr durch die Entdeckung des ersten dieser niedlichen kleinen Sterne factisch widerlegt wurde. Anders ist. es mit einer andern Deduction beschaffen, mit der Deduction der Kunstgesetze aus den Gesetzen der Natur. Daß eine Aufeinanderfolge von Quinten das Ohr beleidigt, ist ein Naturgesetz, dessen Zusammenhang mit den andern Naturgesetzen sich wissenschaftlich erweisen lassen muß; aber leider sind wir noch nicht soweit, diesen Beweis wirklich zu führen und wenn wir einmal soweit sein werden, wird es wol mit der Kunst überhaupt zu Ende sein. So sind wir vorläufig mit der Tonkunst theils auf die Beobachtung der empirisch ausgenommenen Naturgesetze, theils, wie in andern Künsten, auf 26"°

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341580_99385
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341580_99385/211
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341580_99385/211>, abgerufen am 03.07.2024.