Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, I. Semester. II. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

Einmal einen individuellen. Der Verfasser hat den Fehler begangen,
seine Polemik vorauszuschicken und die eigentliche Deduction folgen zu lassen.
Jene befremdenden Behauptungen finden sich aber vornehmlich im ersten Theil.
In der Polemik kann es wol geschehen, daß man einer falschen Ansicht die
entgegengesetzte sehr scharf und pointirt entgegenstellt und nun darüber vergißt,
daß auch diese näher bedingt und modificirt werden muß, um nach allen
Seiten hin das Richtige zu treffen. So ist es Herrn Hanslick im ersten Theil
ergangen. Um die Behauptungen der Wagnerianer, daß die Musik weiter
nichts sein solle, als der adäquate Ausdruck des Textes, recht scharf und ein¬
dringlich zurückzuweisen, läßt er sich zu Behauptungen verführen, die fast so
aussehen, als sei das Verhältniß des Textes zur Musik ein völlig gleichgiltiges;
ja als könne die Musik es niemals dahin bringen, eine poetische Stimmung
wirklich auszudrücken. Um diese seltsame Behauptung, die durch jeden beliebigen
Walzer, Marsch oder Choral widerlegt wird, zu begründen, führt er Beispiele
an, die so handgreiflich falsch sind, daß man erschrickt. Wenn man dann
freilich weiter liest, so findet man diese Behauptungen in dem zweiten, positiven
Theil fast durchaus soweit modificirt und erläutert, daß sie wieder in die richtige
Stellung kommen. Allein bei dem größern Publicum, daß mehr den einzelnen
Ansichten, als der gesammten Deduction seine Aufmerksamkeit schenkt, wird da¬
durch der erste Eindruck nicht verwischt und so hat der Verfasser blos durch die
ungeschickte Stellung der beiden Theile die wohlthätigen Wirkungen seines
Buchs beeinträchtigt.

Der zweite Grund ist ein allgemeiner. Als man über Kunst zu reflectiren
oder zu Philosophiren anfing, wurde man gewahr, daß Poesie, Musik und
bildende Kunst etwas Gemeinsames hätten, welches man unter dem Begriff
"schöne Kunst" zusammenfaßte. Man construirte sich den Inhalt dieses Be¬
griffs, indem man sich aus der Beobachtung jener drei Gebiete das Gemein¬
same zusammenfaßte und ihm eine möglichst logische Ordnung gab. Nun ver¬
fiel die deutsche Philosophie schon früh auf die Unart, a, priori deduciren zu
wollen, was sie aus der Beobachtung gewonnen. Aus jenem Begriff der
schönen Kunst heraus suchte sie die drei verschiedenen schönen Künste in ihrer
innern Nothwendigkeit und in ihrer nähern Beschaffenheit zu deduciren. Dazu
kam die Neigung zu Definitionen, d. h. zu Erklärungen nicht eines Begriffs,
welcher der Erklärung bedürfte, sondern einer Vorstellung, die an und für sich
vollkommen klar war. Was Musik ist, oder Malerei, oder Sculptttr, oder
Baukunst, braucht man nicht erst zu besinnen, weil es gar keine Vorstellung
gibt, die damit verwechselt werden kann. In der Poesie möchte es schwieriger
sein, da auf dem Gebiet der allgemeinen Redekunst, zu dem auch die Poesie
gehört, die Grenzen sich nicht leicht abstecken lassen. Jede echte Definition enthält
den zunächstliegenden allgemeinen Begriff und die Grenzbestimmung innerhalb


Einmal einen individuellen. Der Verfasser hat den Fehler begangen,
seine Polemik vorauszuschicken und die eigentliche Deduction folgen zu lassen.
Jene befremdenden Behauptungen finden sich aber vornehmlich im ersten Theil.
In der Polemik kann es wol geschehen, daß man einer falschen Ansicht die
entgegengesetzte sehr scharf und pointirt entgegenstellt und nun darüber vergißt,
daß auch diese näher bedingt und modificirt werden muß, um nach allen
Seiten hin das Richtige zu treffen. So ist es Herrn Hanslick im ersten Theil
ergangen. Um die Behauptungen der Wagnerianer, daß die Musik weiter
nichts sein solle, als der adäquate Ausdruck des Textes, recht scharf und ein¬
dringlich zurückzuweisen, läßt er sich zu Behauptungen verführen, die fast so
aussehen, als sei das Verhältniß des Textes zur Musik ein völlig gleichgiltiges;
ja als könne die Musik es niemals dahin bringen, eine poetische Stimmung
wirklich auszudrücken. Um diese seltsame Behauptung, die durch jeden beliebigen
Walzer, Marsch oder Choral widerlegt wird, zu begründen, führt er Beispiele
an, die so handgreiflich falsch sind, daß man erschrickt. Wenn man dann
freilich weiter liest, so findet man diese Behauptungen in dem zweiten, positiven
Theil fast durchaus soweit modificirt und erläutert, daß sie wieder in die richtige
Stellung kommen. Allein bei dem größern Publicum, daß mehr den einzelnen
Ansichten, als der gesammten Deduction seine Aufmerksamkeit schenkt, wird da¬
durch der erste Eindruck nicht verwischt und so hat der Verfasser blos durch die
ungeschickte Stellung der beiden Theile die wohlthätigen Wirkungen seines
Buchs beeinträchtigt.

Der zweite Grund ist ein allgemeiner. Als man über Kunst zu reflectiren
oder zu Philosophiren anfing, wurde man gewahr, daß Poesie, Musik und
bildende Kunst etwas Gemeinsames hätten, welches man unter dem Begriff
„schöne Kunst" zusammenfaßte. Man construirte sich den Inhalt dieses Be¬
griffs, indem man sich aus der Beobachtung jener drei Gebiete das Gemein¬
same zusammenfaßte und ihm eine möglichst logische Ordnung gab. Nun ver¬
fiel die deutsche Philosophie schon früh auf die Unart, a, priori deduciren zu
wollen, was sie aus der Beobachtung gewonnen. Aus jenem Begriff der
schönen Kunst heraus suchte sie die drei verschiedenen schönen Künste in ihrer
innern Nothwendigkeit und in ihrer nähern Beschaffenheit zu deduciren. Dazu
kam die Neigung zu Definitionen, d. h. zu Erklärungen nicht eines Begriffs,
welcher der Erklärung bedürfte, sondern einer Vorstellung, die an und für sich
vollkommen klar war. Was Musik ist, oder Malerei, oder Sculptttr, oder
Baukunst, braucht man nicht erst zu besinnen, weil es gar keine Vorstellung
gibt, die damit verwechselt werden kann. In der Poesie möchte es schwieriger
sein, da auf dem Gebiet der allgemeinen Redekunst, zu dem auch die Poesie
gehört, die Grenzen sich nicht leicht abstecken lassen. Jede echte Definition enthält
den zunächstliegenden allgemeinen Begriff und die Grenzbestimmung innerhalb


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0210" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/99596"/>
          <p xml:id="ID_715"> Einmal einen individuellen. Der Verfasser hat den Fehler begangen,<lb/>
seine Polemik vorauszuschicken und die eigentliche Deduction folgen zu lassen.<lb/>
Jene befremdenden Behauptungen finden sich aber vornehmlich im ersten Theil.<lb/>
In der Polemik kann es wol geschehen, daß man einer falschen Ansicht die<lb/>
entgegengesetzte sehr scharf und pointirt entgegenstellt und nun darüber vergißt,<lb/>
daß auch diese näher bedingt und modificirt werden muß, um nach allen<lb/>
Seiten hin das Richtige zu treffen. So ist es Herrn Hanslick im ersten Theil<lb/>
ergangen. Um die Behauptungen der Wagnerianer, daß die Musik weiter<lb/>
nichts sein solle, als der adäquate Ausdruck des Textes, recht scharf und ein¬<lb/>
dringlich zurückzuweisen, läßt er sich zu Behauptungen verführen, die fast so<lb/>
aussehen, als sei das Verhältniß des Textes zur Musik ein völlig gleichgiltiges;<lb/>
ja als könne die Musik es niemals dahin bringen, eine poetische Stimmung<lb/>
wirklich auszudrücken. Um diese seltsame Behauptung, die durch jeden beliebigen<lb/>
Walzer, Marsch oder Choral widerlegt wird, zu begründen, führt er Beispiele<lb/>
an, die so handgreiflich falsch sind, daß man erschrickt. Wenn man dann<lb/>
freilich weiter liest, so findet man diese Behauptungen in dem zweiten, positiven<lb/>
Theil fast durchaus soweit modificirt und erläutert, daß sie wieder in die richtige<lb/>
Stellung kommen. Allein bei dem größern Publicum, daß mehr den einzelnen<lb/>
Ansichten, als der gesammten Deduction seine Aufmerksamkeit schenkt, wird da¬<lb/>
durch der erste Eindruck nicht verwischt und so hat der Verfasser blos durch die<lb/>
ungeschickte Stellung der beiden Theile die wohlthätigen Wirkungen seines<lb/>
Buchs beeinträchtigt.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_716" next="#ID_717"> Der zweite Grund ist ein allgemeiner. Als man über Kunst zu reflectiren<lb/>
oder zu Philosophiren anfing, wurde man gewahr, daß Poesie, Musik und<lb/>
bildende Kunst etwas Gemeinsames hätten, welches man unter dem Begriff<lb/>
&#x201E;schöne Kunst" zusammenfaßte. Man construirte sich den Inhalt dieses Be¬<lb/>
griffs, indem man sich aus der Beobachtung jener drei Gebiete das Gemein¬<lb/>
same zusammenfaßte und ihm eine möglichst logische Ordnung gab. Nun ver¬<lb/>
fiel die deutsche Philosophie schon früh auf die Unart, a, priori deduciren zu<lb/>
wollen, was sie aus der Beobachtung gewonnen. Aus jenem Begriff der<lb/>
schönen Kunst heraus suchte sie die drei verschiedenen schönen Künste in ihrer<lb/>
innern Nothwendigkeit und in ihrer nähern Beschaffenheit zu deduciren. Dazu<lb/>
kam die Neigung zu Definitionen, d. h. zu Erklärungen nicht eines Begriffs,<lb/>
welcher der Erklärung bedürfte, sondern einer Vorstellung, die an und für sich<lb/>
vollkommen klar war. Was Musik ist, oder Malerei, oder Sculptttr, oder<lb/>
Baukunst, braucht man nicht erst zu besinnen, weil es gar keine Vorstellung<lb/>
gibt, die damit verwechselt werden kann. In der Poesie möchte es schwieriger<lb/>
sein, da auf dem Gebiet der allgemeinen Redekunst, zu dem auch die Poesie<lb/>
gehört, die Grenzen sich nicht leicht abstecken lassen. Jede echte Definition enthält<lb/>
den zunächstliegenden allgemeinen Begriff und die Grenzbestimmung innerhalb</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0210] Einmal einen individuellen. Der Verfasser hat den Fehler begangen, seine Polemik vorauszuschicken und die eigentliche Deduction folgen zu lassen. Jene befremdenden Behauptungen finden sich aber vornehmlich im ersten Theil. In der Polemik kann es wol geschehen, daß man einer falschen Ansicht die entgegengesetzte sehr scharf und pointirt entgegenstellt und nun darüber vergißt, daß auch diese näher bedingt und modificirt werden muß, um nach allen Seiten hin das Richtige zu treffen. So ist es Herrn Hanslick im ersten Theil ergangen. Um die Behauptungen der Wagnerianer, daß die Musik weiter nichts sein solle, als der adäquate Ausdruck des Textes, recht scharf und ein¬ dringlich zurückzuweisen, läßt er sich zu Behauptungen verführen, die fast so aussehen, als sei das Verhältniß des Textes zur Musik ein völlig gleichgiltiges; ja als könne die Musik es niemals dahin bringen, eine poetische Stimmung wirklich auszudrücken. Um diese seltsame Behauptung, die durch jeden beliebigen Walzer, Marsch oder Choral widerlegt wird, zu begründen, führt er Beispiele an, die so handgreiflich falsch sind, daß man erschrickt. Wenn man dann freilich weiter liest, so findet man diese Behauptungen in dem zweiten, positiven Theil fast durchaus soweit modificirt und erläutert, daß sie wieder in die richtige Stellung kommen. Allein bei dem größern Publicum, daß mehr den einzelnen Ansichten, als der gesammten Deduction seine Aufmerksamkeit schenkt, wird da¬ durch der erste Eindruck nicht verwischt und so hat der Verfasser blos durch die ungeschickte Stellung der beiden Theile die wohlthätigen Wirkungen seines Buchs beeinträchtigt. Der zweite Grund ist ein allgemeiner. Als man über Kunst zu reflectiren oder zu Philosophiren anfing, wurde man gewahr, daß Poesie, Musik und bildende Kunst etwas Gemeinsames hätten, welches man unter dem Begriff „schöne Kunst" zusammenfaßte. Man construirte sich den Inhalt dieses Be¬ griffs, indem man sich aus der Beobachtung jener drei Gebiete das Gemein¬ same zusammenfaßte und ihm eine möglichst logische Ordnung gab. Nun ver¬ fiel die deutsche Philosophie schon früh auf die Unart, a, priori deduciren zu wollen, was sie aus der Beobachtung gewonnen. Aus jenem Begriff der schönen Kunst heraus suchte sie die drei verschiedenen schönen Künste in ihrer innern Nothwendigkeit und in ihrer nähern Beschaffenheit zu deduciren. Dazu kam die Neigung zu Definitionen, d. h. zu Erklärungen nicht eines Begriffs, welcher der Erklärung bedürfte, sondern einer Vorstellung, die an und für sich vollkommen klar war. Was Musik ist, oder Malerei, oder Sculptttr, oder Baukunst, braucht man nicht erst zu besinnen, weil es gar keine Vorstellung gibt, die damit verwechselt werden kann. In der Poesie möchte es schwieriger sein, da auf dem Gebiet der allgemeinen Redekunst, zu dem auch die Poesie gehört, die Grenzen sich nicht leicht abstecken lassen. Jede echte Definition enthält den zunächstliegenden allgemeinen Begriff und die Grenzbestimmung innerhalb

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341580_99385
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341580_99385/210
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341580_99385/210>, abgerufen am 01.07.2024.