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Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, I. Semester. II. Band.

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plastischen Künstlern besitzt die Anstalt nnr einen, der aber um so merkwürdiger
ist. Es ist ein Mensch, der vorher gar nichts gelernt hatte und eines schönen
Tages als Künstler aufwachte; es entwickelte sich nämlich plötzlich das Talent
in ihm, aus Brotteig Figuren zu formen, die er jetzt in großer Menge macht,
und dann bronzirt oder anstreicht. Anfangs fertigte er sie ganz aus der Phan¬
tasie, jetzt gibt man ihm Zeichnungen und Material und man muß sagen, daß,
wenn seine Arbeiten auch keinen künstlerischen Werth haben, sie immerhin
merkwürdig sind, da Leben und Bewegung, ja eine Art Naturbeobachtung darin
ist. In zwei zierlichen Glasschränkchen aufgereiht zieren sie den Mittelraum
und werden von Besuchern der Anstalt gekauft. -- Zahlreicher ist die Musik
vertreten, denn es eristirt ein starker Sängerchor, der bei den kirchlichen Festen
die liturgischen Gesänge ausführt. Wir hörten eine solche Uebung mit vielem
Erstaunen über die Exactitude der Ausführung. -- Was die Literatur betrifft,
so hat die Anstalt allerdings keine productiven Kräfte aufzuweisen, allein der
Geschmack an Lectüre ist wenigstens außerordentlich ausgebildet. Die Anstalt ent¬
hält eine ziemlich zahlreiche Bibliothek, die neben den unvermeidlichen Werken
mit stark pietistischen Anstrich auch einige gute Volks- und Kinderschriften enthält,
-- unter andern auch Jung-Stillings Werke; diese lagen in der Bäckerei.
Die Bücher werden so stark begehrt, daß sie immer aus einer Zelle in die
andre wandern müssen, obgleich die Zeit zum Lesen natürlich äußerst karg zu¬
gemessen ist, nämlich eine halbe Stunde Nachmittag und Sonntag den ganzen
Nachmittag; denn Licht gibt eS gar nicht, oder doch nur, wo eine Arbeit zu
vollenden ist; die einbrechende Dunkelheit endigt auch den Tag und der Ge¬
fangene hat in den übrigen Stunden der Nacht und Einsamkeit bis zum Schlafe
noch Zeit genug, sich nach der Arbeit als feiner Trösterin zu sehnen.

Sehr verschiedenartig waren die Empfindungen, die sich mir aufdrängten,
als ich, die Räume des Gefängnisses hinter mir lassend, wieder in die freie
Luft, unter den blauen Himmel trat. -- Bei allem Bewußtsein von der Noth¬
wendigkeit und Unentbehrlichkeit solcher Anstalten überkam mich doch eine Art von
Empörung darüber, daß es sündhaften Menschen erlaubt sei, ihren Mitmenschen
gegenüber die Rolle der Vergeltung zu übernehmen, ach wie oft! mit dem Be¬
wußtsein vor jenen vielleicht nichts voraus zu haben, als eine glücklichere Jugend,
eine größere Freiheit von Versuchungen!--Andrerseits aber erfüllte mich eine
große Ehrfurcht vor menschlicher Willenskraft, der es hier gelungen ist, mit
einfachen Mitteln Kräfte zum Wohle des Ganzen zu verwenden, die sonst ihm
nur Schaden und Verderben gebracht hätten. -- Trotz dieser vortrefflichen Ein¬
richtung übersteigt die Ausgabe die Einnahme noch immer so bedeutend, daß
der Staat genöthigt ist, jährlich L0,000 Thlr. zuzuschießen, um die Anstalt
auf der Höhe zu erhalten, die sie jetzt einnimmt, ein Factum, das geeignet
ist, zu Betrachtungen sehr niederschlagender Art zu führen. Denn wenn die


plastischen Künstlern besitzt die Anstalt nnr einen, der aber um so merkwürdiger
ist. Es ist ein Mensch, der vorher gar nichts gelernt hatte und eines schönen
Tages als Künstler aufwachte; es entwickelte sich nämlich plötzlich das Talent
in ihm, aus Brotteig Figuren zu formen, die er jetzt in großer Menge macht,
und dann bronzirt oder anstreicht. Anfangs fertigte er sie ganz aus der Phan¬
tasie, jetzt gibt man ihm Zeichnungen und Material und man muß sagen, daß,
wenn seine Arbeiten auch keinen künstlerischen Werth haben, sie immerhin
merkwürdig sind, da Leben und Bewegung, ja eine Art Naturbeobachtung darin
ist. In zwei zierlichen Glasschränkchen aufgereiht zieren sie den Mittelraum
und werden von Besuchern der Anstalt gekauft. — Zahlreicher ist die Musik
vertreten, denn es eristirt ein starker Sängerchor, der bei den kirchlichen Festen
die liturgischen Gesänge ausführt. Wir hörten eine solche Uebung mit vielem
Erstaunen über die Exactitude der Ausführung. — Was die Literatur betrifft,
so hat die Anstalt allerdings keine productiven Kräfte aufzuweisen, allein der
Geschmack an Lectüre ist wenigstens außerordentlich ausgebildet. Die Anstalt ent¬
hält eine ziemlich zahlreiche Bibliothek, die neben den unvermeidlichen Werken
mit stark pietistischen Anstrich auch einige gute Volks- und Kinderschriften enthält,
— unter andern auch Jung-Stillings Werke; diese lagen in der Bäckerei.
Die Bücher werden so stark begehrt, daß sie immer aus einer Zelle in die
andre wandern müssen, obgleich die Zeit zum Lesen natürlich äußerst karg zu¬
gemessen ist, nämlich eine halbe Stunde Nachmittag und Sonntag den ganzen
Nachmittag; denn Licht gibt eS gar nicht, oder doch nur, wo eine Arbeit zu
vollenden ist; die einbrechende Dunkelheit endigt auch den Tag und der Ge¬
fangene hat in den übrigen Stunden der Nacht und Einsamkeit bis zum Schlafe
noch Zeit genug, sich nach der Arbeit als feiner Trösterin zu sehnen.

Sehr verschiedenartig waren die Empfindungen, die sich mir aufdrängten,
als ich, die Räume des Gefängnisses hinter mir lassend, wieder in die freie
Luft, unter den blauen Himmel trat. — Bei allem Bewußtsein von der Noth¬
wendigkeit und Unentbehrlichkeit solcher Anstalten überkam mich doch eine Art von
Empörung darüber, daß es sündhaften Menschen erlaubt sei, ihren Mitmenschen
gegenüber die Rolle der Vergeltung zu übernehmen, ach wie oft! mit dem Be¬
wußtsein vor jenen vielleicht nichts voraus zu haben, als eine glücklichere Jugend,
eine größere Freiheit von Versuchungen!—Andrerseits aber erfüllte mich eine
große Ehrfurcht vor menschlicher Willenskraft, der es hier gelungen ist, mit
einfachen Mitteln Kräfte zum Wohle des Ganzen zu verwenden, die sonst ihm
nur Schaden und Verderben gebracht hätten. — Trotz dieser vortrefflichen Ein¬
richtung übersteigt die Ausgabe die Einnahme noch immer so bedeutend, daß
der Staat genöthigt ist, jährlich L0,000 Thlr. zuzuschießen, um die Anstalt
auf der Höhe zu erhalten, die sie jetzt einnimmt, ein Factum, das geeignet
ist, zu Betrachtungen sehr niederschlagender Art zu führen. Denn wenn die


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[0194] plastischen Künstlern besitzt die Anstalt nnr einen, der aber um so merkwürdiger ist. Es ist ein Mensch, der vorher gar nichts gelernt hatte und eines schönen Tages als Künstler aufwachte; es entwickelte sich nämlich plötzlich das Talent in ihm, aus Brotteig Figuren zu formen, die er jetzt in großer Menge macht, und dann bronzirt oder anstreicht. Anfangs fertigte er sie ganz aus der Phan¬ tasie, jetzt gibt man ihm Zeichnungen und Material und man muß sagen, daß, wenn seine Arbeiten auch keinen künstlerischen Werth haben, sie immerhin merkwürdig sind, da Leben und Bewegung, ja eine Art Naturbeobachtung darin ist. In zwei zierlichen Glasschränkchen aufgereiht zieren sie den Mittelraum und werden von Besuchern der Anstalt gekauft. — Zahlreicher ist die Musik vertreten, denn es eristirt ein starker Sängerchor, der bei den kirchlichen Festen die liturgischen Gesänge ausführt. Wir hörten eine solche Uebung mit vielem Erstaunen über die Exactitude der Ausführung. — Was die Literatur betrifft, so hat die Anstalt allerdings keine productiven Kräfte aufzuweisen, allein der Geschmack an Lectüre ist wenigstens außerordentlich ausgebildet. Die Anstalt ent¬ hält eine ziemlich zahlreiche Bibliothek, die neben den unvermeidlichen Werken mit stark pietistischen Anstrich auch einige gute Volks- und Kinderschriften enthält, — unter andern auch Jung-Stillings Werke; diese lagen in der Bäckerei. Die Bücher werden so stark begehrt, daß sie immer aus einer Zelle in die andre wandern müssen, obgleich die Zeit zum Lesen natürlich äußerst karg zu¬ gemessen ist, nämlich eine halbe Stunde Nachmittag und Sonntag den ganzen Nachmittag; denn Licht gibt eS gar nicht, oder doch nur, wo eine Arbeit zu vollenden ist; die einbrechende Dunkelheit endigt auch den Tag und der Ge¬ fangene hat in den übrigen Stunden der Nacht und Einsamkeit bis zum Schlafe noch Zeit genug, sich nach der Arbeit als feiner Trösterin zu sehnen. Sehr verschiedenartig waren die Empfindungen, die sich mir aufdrängten, als ich, die Räume des Gefängnisses hinter mir lassend, wieder in die freie Luft, unter den blauen Himmel trat. — Bei allem Bewußtsein von der Noth¬ wendigkeit und Unentbehrlichkeit solcher Anstalten überkam mich doch eine Art von Empörung darüber, daß es sündhaften Menschen erlaubt sei, ihren Mitmenschen gegenüber die Rolle der Vergeltung zu übernehmen, ach wie oft! mit dem Be¬ wußtsein vor jenen vielleicht nichts voraus zu haben, als eine glücklichere Jugend, eine größere Freiheit von Versuchungen!—Andrerseits aber erfüllte mich eine große Ehrfurcht vor menschlicher Willenskraft, der es hier gelungen ist, mit einfachen Mitteln Kräfte zum Wohle des Ganzen zu verwenden, die sonst ihm nur Schaden und Verderben gebracht hätten. — Trotz dieser vortrefflichen Ein¬ richtung übersteigt die Ausgabe die Einnahme noch immer so bedeutend, daß der Staat genöthigt ist, jährlich L0,000 Thlr. zuzuschießen, um die Anstalt auf der Höhe zu erhalten, die sie jetzt einnimmt, ein Factum, das geeignet ist, zu Betrachtungen sehr niederschlagender Art zu führen. Denn wenn die

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341580_99385/194>, abgerufen am 03.07.2024.