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Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, I. Semester. II. Band.

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Herrn über den europäischen Kontinent zu machen hoffte. Die acht Wojewod¬
schaften (das sogenannte Congreßkönigreich) sind, um es näher zu bezeichnen,
das breite Schild, welches die eigentliche Lebensmitte Rußlands, d. h. die
dicht bevölkerten Gubernien, welche um die Hauptstadt Moskau her lagern,
gegen einen tief eindringenden Stoß von Westen her decken, und zwar gilt
dies umsomehr, als ein in Polen stehendes russisches Heer dclogirt und zurück¬
geworfen sein muß, bevor man im Stande ist, den bezeichneten Angriff gegen
das russische Staatscentrum von einem der beiden Flügelräume her, von Ost¬
preußen oder von Ostgalizien aus zu unternehmen. Wage man diese letzteren
beiden gegeneinander ab, so unterliegt es keinem Zweifel, daß erstere Rich¬
tung, nämlich die vom Riemen her, auf Moskau für den zu führenden Stoß
die vorteilhaftere ist, und zwar deshalb, weil der Stoß von Süden (von
.Ostgalizien) her, durch die bekannte weitgedehnte Sumpflinie des Pripet in
die verfängliche Alternative versetzt wird, das Ziel entweder auf indirectem
Wege inmittelst einer nordwärtigen Schwenkung um Brescz Litewski zu er¬
reichen, was die vorherige Umstoßung der russischen Defensive in Polen
voraussetzt, oder, indem man sich südwärts der Sumpfzone hält, eine Armee
zur Deckung der bedrohten linken Flanke gegen Polen aufzustellen, im weiteren
Verlauf des Vormarsches aber den Dniepr in seinem mittleren Lauf zu svrciren,
während man beim ersteren Angriff es im freien Belieben haben würde, seinen
oberen Lauf zu umgehen.

Was aus dieser Sachlage klar erhellt, das ist die vergleichsweise größere
Befähigung, welche Preußen in Rücksicht auf einen gegen Rußland zu führen¬
den Offensivschlag vor Oestreich voraus hat. In der That ist kein Staat im
gleichen Maße wie jener günstig gelegen, um die Spitze einer Ossenstvarmee
bis Moskau vorzuschieben. Daher die immensen Anstrengungen, welche von
der russischen Diplomatie gemacht worden sind, um diese Großmacht am Eintritt
in die ihm feindliche Allianz zu hindern. Wenn andererseits die Westmächte
und Oestreich ein so großes Gewicht darauf legten, es für ihre Sache, die
Sache des Welltheils uno der Civilisation zu gewinnen, so geschah solches mit
vollstem Recht. Noch heute, in der letzten Stunde, kann man nicht genug die
Kurzsichtigkeit des Berliner Cabinets bedauern, welche zwar nicht verhindern
wird, daß der russisch-europäische Krieg eine entscheidende Gestaltung annimmt
und mit Energie und Erfolg auf Seite der Verbündeten geführt werden wird,
aber der dennoch die Schuld beizumessen sein mag, wenn er von Wechselfällen
nicht frei bleibt, wenn in ihm viel mehr Blut fließt, als sonst vergossen werden
würde; und wenn letzlich der Friedensschluß sich möglicherweise um Jahre hinaus¬
schiebt, während er anderen Falles, wenn Preußen sein herrliches Kriegsheer
von mehr als einer Halden Million Mann mit eingreifen ließe in die große, zur


Herrn über den europäischen Kontinent zu machen hoffte. Die acht Wojewod¬
schaften (das sogenannte Congreßkönigreich) sind, um es näher zu bezeichnen,
das breite Schild, welches die eigentliche Lebensmitte Rußlands, d. h. die
dicht bevölkerten Gubernien, welche um die Hauptstadt Moskau her lagern,
gegen einen tief eindringenden Stoß von Westen her decken, und zwar gilt
dies umsomehr, als ein in Polen stehendes russisches Heer dclogirt und zurück¬
geworfen sein muß, bevor man im Stande ist, den bezeichneten Angriff gegen
das russische Staatscentrum von einem der beiden Flügelräume her, von Ost¬
preußen oder von Ostgalizien aus zu unternehmen. Wage man diese letzteren
beiden gegeneinander ab, so unterliegt es keinem Zweifel, daß erstere Rich¬
tung, nämlich die vom Riemen her, auf Moskau für den zu führenden Stoß
die vorteilhaftere ist, und zwar deshalb, weil der Stoß von Süden (von
.Ostgalizien) her, durch die bekannte weitgedehnte Sumpflinie des Pripet in
die verfängliche Alternative versetzt wird, das Ziel entweder auf indirectem
Wege inmittelst einer nordwärtigen Schwenkung um Brescz Litewski zu er¬
reichen, was die vorherige Umstoßung der russischen Defensive in Polen
voraussetzt, oder, indem man sich südwärts der Sumpfzone hält, eine Armee
zur Deckung der bedrohten linken Flanke gegen Polen aufzustellen, im weiteren
Verlauf des Vormarsches aber den Dniepr in seinem mittleren Lauf zu svrciren,
während man beim ersteren Angriff es im freien Belieben haben würde, seinen
oberen Lauf zu umgehen.

Was aus dieser Sachlage klar erhellt, das ist die vergleichsweise größere
Befähigung, welche Preußen in Rücksicht auf einen gegen Rußland zu führen¬
den Offensivschlag vor Oestreich voraus hat. In der That ist kein Staat im
gleichen Maße wie jener günstig gelegen, um die Spitze einer Ossenstvarmee
bis Moskau vorzuschieben. Daher die immensen Anstrengungen, welche von
der russischen Diplomatie gemacht worden sind, um diese Großmacht am Eintritt
in die ihm feindliche Allianz zu hindern. Wenn andererseits die Westmächte
und Oestreich ein so großes Gewicht darauf legten, es für ihre Sache, die
Sache des Welltheils uno der Civilisation zu gewinnen, so geschah solches mit
vollstem Recht. Noch heute, in der letzten Stunde, kann man nicht genug die
Kurzsichtigkeit des Berliner Cabinets bedauern, welche zwar nicht verhindern
wird, daß der russisch-europäische Krieg eine entscheidende Gestaltung annimmt
und mit Energie und Erfolg auf Seite der Verbündeten geführt werden wird,
aber der dennoch die Schuld beizumessen sein mag, wenn er von Wechselfällen
nicht frei bleibt, wenn in ihm viel mehr Blut fließt, als sonst vergossen werden
würde; und wenn letzlich der Friedensschluß sich möglicherweise um Jahre hinaus¬
schiebt, während er anderen Falles, wenn Preußen sein herrliches Kriegsheer
von mehr als einer Halden Million Mann mit eingreifen ließe in die große, zur


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341580_99385/186>, abgerufen am 03.07.2024.