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Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, I. Semester. II. Band.

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dahin ziemlich resultatlos gebliebene Vorspiel bei weitem übertreffen: sowos
in Ansehung der räumlichen Dimensionen des Schauplatzes, als was den ge¬
machten Kraftaufwand und namentlich die Entscheidungsgewalt anlangt, die
ihm innewohnt.

In der That hat Rußland sich auf nichts Geringeres gefaßt zu machen,
als auf einen combinirten Angriff verschiedener Armeen, welcher seine ganze
weitgespannte, gegen Europa gewendete Fronte, vom Eismeer bis tief hinunter
zum Pontus, einschließlich der Krim, wo der Kampf schon entbrannt ist, um¬
fassen dürfte. Bei dieser Offensive sind die Streitkräfte der beiden Seemächte,
wie sich das von selbst versteht, auf die Flügel, d. h. an das baltische und
schwarze Meer hingewiesen; Oestreich aber hätte die große Aufgabe, den ganzen
Raum zwischen ihnen, eine Strecke von mindestens zweihundert geographischen
Meilen auszufüllen, wenn anders die Angriffslinie nicht unterbrochen werden,
soll. Diese Aufgabe wäre minder schwierig, wenn Preußen sich als actives
Glied der Allianz anschlösse, oder, mit anderen Worten, sich bestimmen ließe,
das zu thun, was wir sür eine Erfüllung seiner politischen Pflichten gegen¬
über dem Welttheile halten, dessen Staatssystem es angehört.

Träte Preußen als Bundesgenosse Oestreichs und der Westmächte
handelnd auf, so würde es keiner Frage mehr unterliegen, daß Rußland in
den nächsten Monaten mit Uebermacht auf seiner ganzen Westfronte an¬
gegriffen, und namentlich in Polen, wo seine Heere von denen der beiden
deutschen Großmächte zwischen sich genommen werden könnten, schnell über¬
wunden sein würde. Der Widerstand des preußischen Cabinets indeß, gegenüber
den seitherigen und letztlichen Bemühungen der alliirten Mächte, es in ihren
Kreis hineinzuziehen, erregt zunächst die Frage, wie die Lücke auszufüllen sein
wird, welche seine Nichtbetheiligung am Kriege grade auf der entscheidendsten
Stelle in der weitgedehnten Angriffsfronte entstehen läßt; ob hier Oestreich
alles zu leisten haben wird, oder ob die Westmächte im Stande sind, einen
Theil der großen (für die Kräfte jenes Staates vielleicht zu großen) Last
auf sich zu nehmen.

Bevor ich in eine Erörterung über diese Frage eingehe, will ich hier im
Kurzen die Bedeutung Weichselpolens oder desjenigen Raumes, um welchen
es sich hier handelt, für eine russische Defensive gegenüber dem vereinigten
Europa erörtern.

Man kann im Allgemeinen die Weichselländer als den Ausgangspunkt
jedes gegen Nußland gewendeten entscheidenden Angriffs ansehen. Von hier
aus unternahm Karl XII. im Jahre -1709 seinen denkwürdigen Zug nach dem
Innern des Zarenreiches, der auf den Ebenen von Pultawa ein frühes und
jähes Ende finden sollte. Hier auch legte Napoleon I. die Basis jenes Riesen-
feldzuges fest, mit dem er den Kaiser Alexander zu überwinden und sich zum


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dahin ziemlich resultatlos gebliebene Vorspiel bei weitem übertreffen: sowos
in Ansehung der räumlichen Dimensionen des Schauplatzes, als was den ge¬
machten Kraftaufwand und namentlich die Entscheidungsgewalt anlangt, die
ihm innewohnt.

In der That hat Rußland sich auf nichts Geringeres gefaßt zu machen,
als auf einen combinirten Angriff verschiedener Armeen, welcher seine ganze
weitgespannte, gegen Europa gewendete Fronte, vom Eismeer bis tief hinunter
zum Pontus, einschließlich der Krim, wo der Kampf schon entbrannt ist, um¬
fassen dürfte. Bei dieser Offensive sind die Streitkräfte der beiden Seemächte,
wie sich das von selbst versteht, auf die Flügel, d. h. an das baltische und
schwarze Meer hingewiesen; Oestreich aber hätte die große Aufgabe, den ganzen
Raum zwischen ihnen, eine Strecke von mindestens zweihundert geographischen
Meilen auszufüllen, wenn anders die Angriffslinie nicht unterbrochen werden,
soll. Diese Aufgabe wäre minder schwierig, wenn Preußen sich als actives
Glied der Allianz anschlösse, oder, mit anderen Worten, sich bestimmen ließe,
das zu thun, was wir sür eine Erfüllung seiner politischen Pflichten gegen¬
über dem Welttheile halten, dessen Staatssystem es angehört.

Träte Preußen als Bundesgenosse Oestreichs und der Westmächte
handelnd auf, so würde es keiner Frage mehr unterliegen, daß Rußland in
den nächsten Monaten mit Uebermacht auf seiner ganzen Westfronte an¬
gegriffen, und namentlich in Polen, wo seine Heere von denen der beiden
deutschen Großmächte zwischen sich genommen werden könnten, schnell über¬
wunden sein würde. Der Widerstand des preußischen Cabinets indeß, gegenüber
den seitherigen und letztlichen Bemühungen der alliirten Mächte, es in ihren
Kreis hineinzuziehen, erregt zunächst die Frage, wie die Lücke auszufüllen sein
wird, welche seine Nichtbetheiligung am Kriege grade auf der entscheidendsten
Stelle in der weitgedehnten Angriffsfronte entstehen läßt; ob hier Oestreich
alles zu leisten haben wird, oder ob die Westmächte im Stande sind, einen
Theil der großen (für die Kräfte jenes Staates vielleicht zu großen) Last
auf sich zu nehmen.

Bevor ich in eine Erörterung über diese Frage eingehe, will ich hier im
Kurzen die Bedeutung Weichselpolens oder desjenigen Raumes, um welchen
es sich hier handelt, für eine russische Defensive gegenüber dem vereinigten
Europa erörtern.

Man kann im Allgemeinen die Weichselländer als den Ausgangspunkt
jedes gegen Nußland gewendeten entscheidenden Angriffs ansehen. Von hier
aus unternahm Karl XII. im Jahre -1709 seinen denkwürdigen Zug nach dem
Innern des Zarenreiches, der auf den Ebenen von Pultawa ein frühes und
jähes Ende finden sollte. Hier auch legte Napoleon I. die Basis jenes Riesen-
feldzuges fest, mit dem er den Kaiser Alexander zu überwinden und sich zum


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341580_99385/185>, abgerufen am 03.07.2024.