Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, I. Semester. II. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

gutgeführten Nachweise, daß diese biblische Tradition unrichtig ist, nicht folgen,
denn daß die Geschichte der Sündflut wie der Schöpfung nur ein Mvthus
ist, ist nicht allein an sich klar, sondern durch geologische und historische For¬
schungen hinlänglich bewiesen. Jeden, der hieran zweifelt, aber möchten wir
auf die Ausführung des Verfassers verweisen, sie ist durchaus unwiderleglich,
muß aber im Zusammenhange gelesen werden.

Ebensowenig wollen wir uns in die Erörterungen über die Existenz der
Seele einlassen, da wir unsre Meinung über die Wagnerschen Ansichten schon
früher in diesen Blättern ausgesprochen haben. Goethes Verse:


"Du hast Unsterblichkeit im Sinn;
Kannst du uns deine Gründe nennen?"
Gar wohl! Der Hauptgrund liegt darin,
Daß wir sie nicht entbehren können.

bezeichnen jenen Standpunkt treffend, aber Vogt geht weiter und behauptet allen
Ernstes, die Unmöglichkeit der Unsterblichkeit bewiesen zu haben. Die Stärke
seiner Beweisführung legt er in die folgenden Sätze: "Wir sehen täglich die
allmälige Entwicklung aller geistigen Funktionen im Kinde. Von den ersten
Reflexbewegungen im Mutterleibe an bis zu dem erwachsenen Alter beobachten
wir eine ununterbrochene Reihe allmäliger Ausbildung in Empfindung, Bewe-
gung, Bewußtsein, Urtheilsvermögen, Willenskraft und überhaupt allen geistigen
Vermögen. Wir sehen diese Entwicklung in strengster Uebereinstimmung mit der
Ausbildung des Organs. (Dieser Satz kann nur ganz im Allgemeinen als rich¬
tig angesehen werden, weil das Verhältniß beider Entwicklungsvvrgänge zu¬
einander fast ganz unbekannt ist. Res.) Wir sehen täglich eine ähnliche rück¬
schreitende Metamorphose der geistigen Functionen bei dem Greise. Nicht nur
die Abstumpfung der Sinne, auch die Abstumpfung aller geistigen Functionen
tritt allmälig ein und schreitet mehr und mehr vor -- Hand in Hand gehend
mit der allmäligen Verödung des Organs (ebenfalls nur bedingt richtig.) Wir
sehen täglich Veränderungen einzelner geistiger Functionen und Eigenschaften
durch bestimmte locale Krankheiten einzelner Hirntheile entstehen. (Dieser Punkt
ist noch so dunkel, daß sich selbst aus den Verwundungen der einzelnen Hirn¬
theile z. B. im Kriege ihre Functionen nicht haben ergeben wollen, daß jene
sogar mitunter gar keine physischen Störungen nach sich gezogen haben, daß end¬
lich bei Geisteskrankheiten materielle Hirnveränderungen sehr selten zu entdecken
sind; der Satz ist also ebenfalls nur bedingt richtig.) Diese Thatsachen, fährt er
fort, seien mit der Annahme einer unsterblichen, individuellen, in das Gehirn
eingepflanzten Seelensubstanz unvereinbar, denn die Eigenschaft, welche mit einem
materiellen Substrat sich entwickle, leide und sich zurückbilde, müsse mit demsel¬
ben auch vergehen. Allerdings wird diesen Schluß Niemand, am wenigsten ein
Naturforscher umstoßen können, aber auch die Gegner werden dadurch nicht


gutgeführten Nachweise, daß diese biblische Tradition unrichtig ist, nicht folgen,
denn daß die Geschichte der Sündflut wie der Schöpfung nur ein Mvthus
ist, ist nicht allein an sich klar, sondern durch geologische und historische For¬
schungen hinlänglich bewiesen. Jeden, der hieran zweifelt, aber möchten wir
auf die Ausführung des Verfassers verweisen, sie ist durchaus unwiderleglich,
muß aber im Zusammenhange gelesen werden.

Ebensowenig wollen wir uns in die Erörterungen über die Existenz der
Seele einlassen, da wir unsre Meinung über die Wagnerschen Ansichten schon
früher in diesen Blättern ausgesprochen haben. Goethes Verse:


„Du hast Unsterblichkeit im Sinn;
Kannst du uns deine Gründe nennen?"
Gar wohl! Der Hauptgrund liegt darin,
Daß wir sie nicht entbehren können.

bezeichnen jenen Standpunkt treffend, aber Vogt geht weiter und behauptet allen
Ernstes, die Unmöglichkeit der Unsterblichkeit bewiesen zu haben. Die Stärke
seiner Beweisführung legt er in die folgenden Sätze: „Wir sehen täglich die
allmälige Entwicklung aller geistigen Funktionen im Kinde. Von den ersten
Reflexbewegungen im Mutterleibe an bis zu dem erwachsenen Alter beobachten
wir eine ununterbrochene Reihe allmäliger Ausbildung in Empfindung, Bewe-
gung, Bewußtsein, Urtheilsvermögen, Willenskraft und überhaupt allen geistigen
Vermögen. Wir sehen diese Entwicklung in strengster Uebereinstimmung mit der
Ausbildung des Organs. (Dieser Satz kann nur ganz im Allgemeinen als rich¬
tig angesehen werden, weil das Verhältniß beider Entwicklungsvvrgänge zu¬
einander fast ganz unbekannt ist. Res.) Wir sehen täglich eine ähnliche rück¬
schreitende Metamorphose der geistigen Functionen bei dem Greise. Nicht nur
die Abstumpfung der Sinne, auch die Abstumpfung aller geistigen Functionen
tritt allmälig ein und schreitet mehr und mehr vor — Hand in Hand gehend
mit der allmäligen Verödung des Organs (ebenfalls nur bedingt richtig.) Wir
sehen täglich Veränderungen einzelner geistiger Functionen und Eigenschaften
durch bestimmte locale Krankheiten einzelner Hirntheile entstehen. (Dieser Punkt
ist noch so dunkel, daß sich selbst aus den Verwundungen der einzelnen Hirn¬
theile z. B. im Kriege ihre Functionen nicht haben ergeben wollen, daß jene
sogar mitunter gar keine physischen Störungen nach sich gezogen haben, daß end¬
lich bei Geisteskrankheiten materielle Hirnveränderungen sehr selten zu entdecken
sind; der Satz ist also ebenfalls nur bedingt richtig.) Diese Thatsachen, fährt er
fort, seien mit der Annahme einer unsterblichen, individuellen, in das Gehirn
eingepflanzten Seelensubstanz unvereinbar, denn die Eigenschaft, welche mit einem
materiellen Substrat sich entwickle, leide und sich zurückbilde, müsse mit demsel¬
ben auch vergehen. Allerdings wird diesen Schluß Niemand, am wenigsten ein
Naturforscher umstoßen können, aber auch die Gegner werden dadurch nicht


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0110" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/99496"/>
          <p xml:id="ID_352" prev="#ID_351"> gutgeführten Nachweise, daß diese biblische Tradition unrichtig ist, nicht folgen,<lb/>
denn daß die Geschichte der Sündflut wie der Schöpfung nur ein Mvthus<lb/>
ist, ist nicht allein an sich klar, sondern durch geologische und historische For¬<lb/>
schungen hinlänglich bewiesen. Jeden, der hieran zweifelt, aber möchten wir<lb/>
auf die Ausführung des Verfassers verweisen, sie ist durchaus unwiderleglich,<lb/>
muß aber im Zusammenhange gelesen werden.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_353" next="#ID_354"> Ebensowenig wollen wir uns in die Erörterungen über die Existenz der<lb/>
Seele einlassen, da wir unsre Meinung über die Wagnerschen Ansichten schon<lb/>
früher in diesen Blättern ausgesprochen haben.  Goethes Verse:</p><lb/>
          <quote>
            <lg xml:id="POEMID_1" type="poem">
              <l> &#x201E;Du hast Unsterblichkeit im Sinn;<lb/>
Kannst du uns deine Gründe nennen?"<lb/>
Gar wohl! Der Hauptgrund liegt darin,<lb/>
Daß wir sie nicht entbehren können.</l>
            </lg>
          </quote><lb/>
          <p xml:id="ID_354" prev="#ID_353" next="#ID_355"> bezeichnen jenen Standpunkt treffend, aber Vogt geht weiter und behauptet allen<lb/>
Ernstes, die Unmöglichkeit der Unsterblichkeit bewiesen zu haben.  Die Stärke<lb/>
seiner Beweisführung legt er in die folgenden Sätze: &#x201E;Wir sehen täglich die<lb/>
allmälige Entwicklung aller geistigen Funktionen im Kinde.  Von den ersten<lb/>
Reflexbewegungen im Mutterleibe an bis zu dem erwachsenen Alter beobachten<lb/>
wir eine ununterbrochene Reihe allmäliger Ausbildung in Empfindung, Bewe-<lb/>
gung, Bewußtsein, Urtheilsvermögen, Willenskraft und überhaupt allen geistigen<lb/>
Vermögen. Wir sehen diese Entwicklung in strengster Uebereinstimmung mit der<lb/>
Ausbildung des Organs. (Dieser Satz kann nur ganz im Allgemeinen als rich¬<lb/>
tig angesehen werden, weil das Verhältniß beider Entwicklungsvvrgänge zu¬<lb/>
einander fast ganz unbekannt ist. Res.)  Wir sehen täglich eine ähnliche rück¬<lb/>
schreitende Metamorphose der geistigen Functionen bei dem Greise.  Nicht nur<lb/>
die Abstumpfung der Sinne, auch die Abstumpfung aller geistigen Functionen<lb/>
tritt allmälig ein und schreitet mehr und mehr vor &#x2014; Hand in Hand gehend<lb/>
mit der allmäligen Verödung des Organs (ebenfalls nur bedingt richtig.) Wir<lb/>
sehen täglich Veränderungen einzelner geistiger Functionen und Eigenschaften<lb/>
durch bestimmte locale Krankheiten einzelner Hirntheile entstehen.  (Dieser Punkt<lb/>
ist noch so dunkel, daß sich selbst aus den Verwundungen der einzelnen Hirn¬<lb/>
theile z. B. im Kriege ihre Functionen nicht haben ergeben wollen, daß jene<lb/>
sogar mitunter gar keine physischen Störungen nach sich gezogen haben, daß end¬<lb/>
lich bei Geisteskrankheiten materielle Hirnveränderungen sehr selten zu entdecken<lb/>
sind; der Satz ist also ebenfalls nur bedingt richtig.) Diese Thatsachen, fährt er<lb/>
fort, seien mit der Annahme einer unsterblichen, individuellen, in das Gehirn<lb/>
eingepflanzten Seelensubstanz unvereinbar, denn die Eigenschaft, welche mit einem<lb/>
materiellen Substrat sich entwickle, leide und sich zurückbilde, müsse mit demsel¬<lb/>
ben auch vergehen. Allerdings wird diesen Schluß Niemand, am wenigsten ein<lb/>
Naturforscher umstoßen können, aber auch die Gegner werden dadurch nicht</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0110] gutgeführten Nachweise, daß diese biblische Tradition unrichtig ist, nicht folgen, denn daß die Geschichte der Sündflut wie der Schöpfung nur ein Mvthus ist, ist nicht allein an sich klar, sondern durch geologische und historische For¬ schungen hinlänglich bewiesen. Jeden, der hieran zweifelt, aber möchten wir auf die Ausführung des Verfassers verweisen, sie ist durchaus unwiderleglich, muß aber im Zusammenhange gelesen werden. Ebensowenig wollen wir uns in die Erörterungen über die Existenz der Seele einlassen, da wir unsre Meinung über die Wagnerschen Ansichten schon früher in diesen Blättern ausgesprochen haben. Goethes Verse: „Du hast Unsterblichkeit im Sinn; Kannst du uns deine Gründe nennen?" Gar wohl! Der Hauptgrund liegt darin, Daß wir sie nicht entbehren können. bezeichnen jenen Standpunkt treffend, aber Vogt geht weiter und behauptet allen Ernstes, die Unmöglichkeit der Unsterblichkeit bewiesen zu haben. Die Stärke seiner Beweisführung legt er in die folgenden Sätze: „Wir sehen täglich die allmälige Entwicklung aller geistigen Funktionen im Kinde. Von den ersten Reflexbewegungen im Mutterleibe an bis zu dem erwachsenen Alter beobachten wir eine ununterbrochene Reihe allmäliger Ausbildung in Empfindung, Bewe- gung, Bewußtsein, Urtheilsvermögen, Willenskraft und überhaupt allen geistigen Vermögen. Wir sehen diese Entwicklung in strengster Uebereinstimmung mit der Ausbildung des Organs. (Dieser Satz kann nur ganz im Allgemeinen als rich¬ tig angesehen werden, weil das Verhältniß beider Entwicklungsvvrgänge zu¬ einander fast ganz unbekannt ist. Res.) Wir sehen täglich eine ähnliche rück¬ schreitende Metamorphose der geistigen Functionen bei dem Greise. Nicht nur die Abstumpfung der Sinne, auch die Abstumpfung aller geistigen Functionen tritt allmälig ein und schreitet mehr und mehr vor — Hand in Hand gehend mit der allmäligen Verödung des Organs (ebenfalls nur bedingt richtig.) Wir sehen täglich Veränderungen einzelner geistiger Functionen und Eigenschaften durch bestimmte locale Krankheiten einzelner Hirntheile entstehen. (Dieser Punkt ist noch so dunkel, daß sich selbst aus den Verwundungen der einzelnen Hirn¬ theile z. B. im Kriege ihre Functionen nicht haben ergeben wollen, daß jene sogar mitunter gar keine physischen Störungen nach sich gezogen haben, daß end¬ lich bei Geisteskrankheiten materielle Hirnveränderungen sehr selten zu entdecken sind; der Satz ist also ebenfalls nur bedingt richtig.) Diese Thatsachen, fährt er fort, seien mit der Annahme einer unsterblichen, individuellen, in das Gehirn eingepflanzten Seelensubstanz unvereinbar, denn die Eigenschaft, welche mit einem materiellen Substrat sich entwickle, leide und sich zurückbilde, müsse mit demsel¬ ben auch vergehen. Allerdings wird diesen Schluß Niemand, am wenigsten ein Naturforscher umstoßen können, aber auch die Gegner werden dadurch nicht

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341580_99385
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341580_99385/110
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341580_99385/110>, abgerufen am 01.07.2024.