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Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, I. Semester. I. Band.

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sich als ein Nesnst.it wissenschaftlicher Forschungen, und doch tritt dabei Her
sonderbare Umstand ein, daß' jedes derselben die Resultate der andern, als
einen absoluten Unsinn verwirft. Wenn man auf die 'Freihändler hören
wollte, so müßte man alle Schutzzöllner ins Irrenhaus sperren, und wendet
man sich an die Schutzzöllner, so verdienten alle Freihändler nach Cayenne
deportirt zu werden. Das ist ein sehr böses Zeichen für die wissenschaftliche
Haltung dieser Systeme, und man würde den Versuch aufgeben müssen, in dieser
babylonischen Sprachverwirrung irgendeine Verständigung zu erzielen, wenn
man nicht aus einem andern Umstand einigen Trost schöpfen könnte. Während
sich nämlich jene Systeme in den idealen Anforderungen an den Staat, in der
Lehre von dem, was kommen soll, um die Menschheit zu beglücken, vollständig
widersprechen, stimmen sie über die Gesetze, nach denen der Verkehr der Völker
untereinander sich geregelt hat, wenigstens bis zu einem gewissen Grade mit:
einander überein. Hier ist nun die Möglichkeit einer wirklich wissenschaftlichen
Begründung der Nationalökonomie gegeben. Während bisher jedes national¬
ökonomische System damit anfing, ein abstractes Princip aufzustellen, eine
Zauberformel, durch welche die Menschheit ohne weiteres glücklich gemacht
werden könne, ist man nun zu der Ueberzeugung gekommen, daß man zunächst
den entgegengesetzten Weg einschlagen, daß man zunächst diejenigen Begriffe,
die durch Erfahrung oder durch Raisonnement feststehen, wissenschaftlich zusam¬
menfassen muß, ehe man mit Postulaten an den Staat und an die Menschheit
im allgemeinen hervortreten darf.

Der Mann, dem die Nationalökonomie vorzugsweise diese nothwendige
und zweckmäßige Wendung verdankt, ist Professor Röscher in Leipzig. Freilich
liegt die Wendung auch in der Zeit im allgemeinen. Wir haben schon mehr¬
fach darauf hingewiesen, daß die Philosophie und das Denken unsrer Zeit
überhaupt sich allmälig von dem unfruchtbaren Idealismus und den leiden-'
schaftlichen Anforderungen zum Studium der Wirklichkeit abwendet. Ueberall
begreift man, daß die Begriffe, welche sich auf den menschlichen Geist und das
menschliche Leben beziehen, nur eine bedingte Wahrheit haben., d. h., eine
Wahrheit, die nur unter bestimmten historischen Voraussetzungen giltig ist.
Wenn die früheren Systematiker der Nationalökonomie Lehrsätze aufzustellen
suchten, die für alle Zeiten und Völker gleichmäßig wahr und unter allen Um¬
ständen unmittelbar anwendbar sein sollten, so sucht dagegen die neue Methode
zunächst festzustellen, welche Bedingungen hinzukommen müssen, um die Wahr¬
heit des einen oder des andern Lehrsatzes hervortreten zu lassen.

Herr Röscher nennt seine Methode die physiologische oder die historische.
Beide Bezeichnungen haben ihren natürlichen Grund. Die erste bezieht sich
auf die neue Methode in der Medicin, die nicht mehr darauf ausgeht, für jede
mögliche Krankheit ein Specificum zu finden, durch welches sie unmittelbar


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sich als ein Nesnst.it wissenschaftlicher Forschungen, und doch tritt dabei Her
sonderbare Umstand ein, daß' jedes derselben die Resultate der andern, als
einen absoluten Unsinn verwirft. Wenn man auf die 'Freihändler hören
wollte, so müßte man alle Schutzzöllner ins Irrenhaus sperren, und wendet
man sich an die Schutzzöllner, so verdienten alle Freihändler nach Cayenne
deportirt zu werden. Das ist ein sehr böses Zeichen für die wissenschaftliche
Haltung dieser Systeme, und man würde den Versuch aufgeben müssen, in dieser
babylonischen Sprachverwirrung irgendeine Verständigung zu erzielen, wenn
man nicht aus einem andern Umstand einigen Trost schöpfen könnte. Während
sich nämlich jene Systeme in den idealen Anforderungen an den Staat, in der
Lehre von dem, was kommen soll, um die Menschheit zu beglücken, vollständig
widersprechen, stimmen sie über die Gesetze, nach denen der Verkehr der Völker
untereinander sich geregelt hat, wenigstens bis zu einem gewissen Grade mit:
einander überein. Hier ist nun die Möglichkeit einer wirklich wissenschaftlichen
Begründung der Nationalökonomie gegeben. Während bisher jedes national¬
ökonomische System damit anfing, ein abstractes Princip aufzustellen, eine
Zauberformel, durch welche die Menschheit ohne weiteres glücklich gemacht
werden könne, ist man nun zu der Ueberzeugung gekommen, daß man zunächst
den entgegengesetzten Weg einschlagen, daß man zunächst diejenigen Begriffe,
die durch Erfahrung oder durch Raisonnement feststehen, wissenschaftlich zusam¬
menfassen muß, ehe man mit Postulaten an den Staat und an die Menschheit
im allgemeinen hervortreten darf.

Der Mann, dem die Nationalökonomie vorzugsweise diese nothwendige
und zweckmäßige Wendung verdankt, ist Professor Röscher in Leipzig. Freilich
liegt die Wendung auch in der Zeit im allgemeinen. Wir haben schon mehr¬
fach darauf hingewiesen, daß die Philosophie und das Denken unsrer Zeit
überhaupt sich allmälig von dem unfruchtbaren Idealismus und den leiden-'
schaftlichen Anforderungen zum Studium der Wirklichkeit abwendet. Ueberall
begreift man, daß die Begriffe, welche sich auf den menschlichen Geist und das
menschliche Leben beziehen, nur eine bedingte Wahrheit haben., d. h., eine
Wahrheit, die nur unter bestimmten historischen Voraussetzungen giltig ist.
Wenn die früheren Systematiker der Nationalökonomie Lehrsätze aufzustellen
suchten, die für alle Zeiten und Völker gleichmäßig wahr und unter allen Um¬
ständen unmittelbar anwendbar sein sollten, so sucht dagegen die neue Methode
zunächst festzustellen, welche Bedingungen hinzukommen müssen, um die Wahr¬
heit des einen oder des andern Lehrsatzes hervortreten zu lassen.

Herr Röscher nennt seine Methode die physiologische oder die historische.
Beide Bezeichnungen haben ihren natürlichen Grund. Die erste bezieht sich
auf die neue Methode in der Medicin, die nicht mehr darauf ausgeht, für jede
mögliche Krankheit ein Specificum zu finden, durch welches sie unmittelbar


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341580_98851/459>, abgerufen am 28.09.2024.