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Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, I. Semester. I. Band.

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für Deutschland dargestellt, trinkt dann das Gift und stürzt zusammen; die fran¬
zösische List siegt; der Held verscheidet, nachdem er ein "unausführbares" Testa¬
ment gemacht hat.

Schon diese Uebersicht zeigt Ihnen den Hauptfehler des Stücks: den
Mangel an Einheit. Lessing sagte, ein großes Genie könne sich oft über
die Einheiten des Orts, der Zeit und der Handlung wegsetzen, allein ein An¬
fänger thue besser, sich daran zu binden. In der That ist das Zusammenziehen
der zerstreutesten historischen Verhältnisse in eine künstlerische Einheit eine so
schwierige Aufgabe, daß sie den größten Meistern nur annäherungsweise und
dadurch gelungen ist, daß sie an die Hauptcharaktere durch psychologische Ver¬
tiefung und Privatbeziehungen derselben das Interesse zu knüpfen wußten, so
daß die Handlung, wenn auch örtlich, zeitlich und sachlich auseinandergehend,
dennoch einen persönlichen Mittelpunkt hatte (ne^ co"). Da aber die tiefere
psychologische Auffassung diesem Stück gänzlich abgeht, so empfindet man
umsomehr den Mangel der äußeren Einheit. Es ist in der That gar keine
spannende Verwicklung da. Wenn der Vorhang fällt, fragt man sich nicht: was
wird daraus werden? sondern was kann noch kommen? und blättert in Ge¬
danken in der Geschichte des dreißigjährigen Krieges. Es ist kein historisches
Drama, es sind historische Tableaur, und freilich nur zum Theil hübsche
und lebendige.

. Die Erposition im ersten Acte ist langweilig und mit historischen Details
überladen, jemehr Achtung man vor den Studien des Verfassers bekommt, desto-
mehr Kälte empfindet man gegen den Dichter. Selbst im dritten Acte, dem
bei weiten besten des Stückes, vergißt der Verfasser, daß er nicht die Todten-
listen mit abdrucken lassen soll. So fällt die Darstellung oft in die dürrste
Prosa. Es steckt eben in der Geschichte eine unsägliche Masse unverdaulicher
Details und wie schwer es sür den jugendlichen Dichter ist, sich dagegen zu
wehren, zeigt selbst Shakespeare im Verhältniß zu Holinshed in Heinrich VI.,
wo er jedoch aufs sichtlichste dagegen anstrebt und dadurch meistens in den
entgegengesetzten Fehler, der allzugeschmückten Rede fällt. Ueberhaupt wußte
Shakespeare wohl, daß sich die prosaische Form nicht für den Ernst der historischen
Tragödie schicke, und unser Verfasser hat schon darin (mit andern) gefehlt, daß er
sich des wesentlichen Kennzeichens der Dichtkunst, des HSi^k'vos ^o/os- beraubte,
ohne welchen ernsthafte Sachen zu dichten es der allergrößten Genialität bedarf.
Die Muse von Weimar spricht zwar nicht so schwülstig wie die Melpomene in
Braunschweig, aber sie verfällt in den entgegengesetzten Fehler und einzelne Phrasen
wie "der Sieg rauscht mit den Flügeln um Ihr Haupt"; "aus goldnen Herzen
klingt das Wort hell und frei", "der Lorbeer verschmäht es, süße Frucht zu tragen",
der Sturm des Todeskampfes brüllt schon in den ersten Stößen gegen mich
und wirbelt mir die Gedanken auf wie Staub", schwimmen nur wie einzelne


für Deutschland dargestellt, trinkt dann das Gift und stürzt zusammen; die fran¬
zösische List siegt; der Held verscheidet, nachdem er ein „unausführbares" Testa¬
ment gemacht hat.

Schon diese Uebersicht zeigt Ihnen den Hauptfehler des Stücks: den
Mangel an Einheit. Lessing sagte, ein großes Genie könne sich oft über
die Einheiten des Orts, der Zeit und der Handlung wegsetzen, allein ein An¬
fänger thue besser, sich daran zu binden. In der That ist das Zusammenziehen
der zerstreutesten historischen Verhältnisse in eine künstlerische Einheit eine so
schwierige Aufgabe, daß sie den größten Meistern nur annäherungsweise und
dadurch gelungen ist, daß sie an die Hauptcharaktere durch psychologische Ver¬
tiefung und Privatbeziehungen derselben das Interesse zu knüpfen wußten, so
daß die Handlung, wenn auch örtlich, zeitlich und sachlich auseinandergehend,
dennoch einen persönlichen Mittelpunkt hatte (ne^ co«). Da aber die tiefere
psychologische Auffassung diesem Stück gänzlich abgeht, so empfindet man
umsomehr den Mangel der äußeren Einheit. Es ist in der That gar keine
spannende Verwicklung da. Wenn der Vorhang fällt, fragt man sich nicht: was
wird daraus werden? sondern was kann noch kommen? und blättert in Ge¬
danken in der Geschichte des dreißigjährigen Krieges. Es ist kein historisches
Drama, es sind historische Tableaur, und freilich nur zum Theil hübsche
und lebendige.

. Die Erposition im ersten Acte ist langweilig und mit historischen Details
überladen, jemehr Achtung man vor den Studien des Verfassers bekommt, desto-
mehr Kälte empfindet man gegen den Dichter. Selbst im dritten Acte, dem
bei weiten besten des Stückes, vergißt der Verfasser, daß er nicht die Todten-
listen mit abdrucken lassen soll. So fällt die Darstellung oft in die dürrste
Prosa. Es steckt eben in der Geschichte eine unsägliche Masse unverdaulicher
Details und wie schwer es sür den jugendlichen Dichter ist, sich dagegen zu
wehren, zeigt selbst Shakespeare im Verhältniß zu Holinshed in Heinrich VI.,
wo er jedoch aufs sichtlichste dagegen anstrebt und dadurch meistens in den
entgegengesetzten Fehler, der allzugeschmückten Rede fällt. Ueberhaupt wußte
Shakespeare wohl, daß sich die prosaische Form nicht für den Ernst der historischen
Tragödie schicke, und unser Verfasser hat schon darin (mit andern) gefehlt, daß er
sich des wesentlichen Kennzeichens der Dichtkunst, des HSi^k'vos ^o/os- beraubte,
ohne welchen ernsthafte Sachen zu dichten es der allergrößten Genialität bedarf.
Die Muse von Weimar spricht zwar nicht so schwülstig wie die Melpomene in
Braunschweig, aber sie verfällt in den entgegengesetzten Fehler und einzelne Phrasen
wie „der Sieg rauscht mit den Flügeln um Ihr Haupt"; „aus goldnen Herzen
klingt das Wort hell und frei", „der Lorbeer verschmäht es, süße Frucht zu tragen",
der Sturm des Todeskampfes brüllt schon in den ersten Stößen gegen mich
und wirbelt mir die Gedanken auf wie Staub", schwimmen nur wie einzelne


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[0352] für Deutschland dargestellt, trinkt dann das Gift und stürzt zusammen; die fran¬ zösische List siegt; der Held verscheidet, nachdem er ein „unausführbares" Testa¬ ment gemacht hat. Schon diese Uebersicht zeigt Ihnen den Hauptfehler des Stücks: den Mangel an Einheit. Lessing sagte, ein großes Genie könne sich oft über die Einheiten des Orts, der Zeit und der Handlung wegsetzen, allein ein An¬ fänger thue besser, sich daran zu binden. In der That ist das Zusammenziehen der zerstreutesten historischen Verhältnisse in eine künstlerische Einheit eine so schwierige Aufgabe, daß sie den größten Meistern nur annäherungsweise und dadurch gelungen ist, daß sie an die Hauptcharaktere durch psychologische Ver¬ tiefung und Privatbeziehungen derselben das Interesse zu knüpfen wußten, so daß die Handlung, wenn auch örtlich, zeitlich und sachlich auseinandergehend, dennoch einen persönlichen Mittelpunkt hatte (ne^ co«). Da aber die tiefere psychologische Auffassung diesem Stück gänzlich abgeht, so empfindet man umsomehr den Mangel der äußeren Einheit. Es ist in der That gar keine spannende Verwicklung da. Wenn der Vorhang fällt, fragt man sich nicht: was wird daraus werden? sondern was kann noch kommen? und blättert in Ge¬ danken in der Geschichte des dreißigjährigen Krieges. Es ist kein historisches Drama, es sind historische Tableaur, und freilich nur zum Theil hübsche und lebendige. . Die Erposition im ersten Acte ist langweilig und mit historischen Details überladen, jemehr Achtung man vor den Studien des Verfassers bekommt, desto- mehr Kälte empfindet man gegen den Dichter. Selbst im dritten Acte, dem bei weiten besten des Stückes, vergißt der Verfasser, daß er nicht die Todten- listen mit abdrucken lassen soll. So fällt die Darstellung oft in die dürrste Prosa. Es steckt eben in der Geschichte eine unsägliche Masse unverdaulicher Details und wie schwer es sür den jugendlichen Dichter ist, sich dagegen zu wehren, zeigt selbst Shakespeare im Verhältniß zu Holinshed in Heinrich VI., wo er jedoch aufs sichtlichste dagegen anstrebt und dadurch meistens in den entgegengesetzten Fehler, der allzugeschmückten Rede fällt. Ueberhaupt wußte Shakespeare wohl, daß sich die prosaische Form nicht für den Ernst der historischen Tragödie schicke, und unser Verfasser hat schon darin (mit andern) gefehlt, daß er sich des wesentlichen Kennzeichens der Dichtkunst, des HSi^k'vos ^o/os- beraubte, ohne welchen ernsthafte Sachen zu dichten es der allergrößten Genialität bedarf. Die Muse von Weimar spricht zwar nicht so schwülstig wie die Melpomene in Braunschweig, aber sie verfällt in den entgegengesetzten Fehler und einzelne Phrasen wie „der Sieg rauscht mit den Flügeln um Ihr Haupt"; „aus goldnen Herzen klingt das Wort hell und frei", „der Lorbeer verschmäht es, süße Frucht zu tragen", der Sturm des Todeskampfes brüllt schon in den ersten Stößen gegen mich und wirbelt mir die Gedanken auf wie Staub", schwimmen nur wie einzelne

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341580_98851/352>, abgerufen am 26.06.2024.