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Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, I. Semester. I. Band.

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Wir wollen nicht von den theologischen Betrachtungen, von den argen
physikalischen Hypothesen und Analogien (z. B. daß die Seele nach Abstrei¬
fung des Körpers in einen andern Weltraum ebenso schnell und leicht über¬
pflanzt werden könne, wie das Licht von der Sonne zur Erde) reden, aus
denen die Broschüre zumeist besteht, sondern nur an einigen Beispielen die Ver¬
mengung Her Wissenschaft und des Glaubens nachweisen. Der Naturforscher
betrachte, sagt er zum Beispiel, die Welt als ein Kunstwerk und wenn er
gefragt werde, wie es entstanden, so müsse er antworten, entweder es habe sich
selbst gemacht, oder es sei gemacht worden. Die erstere Ansicht führe zum
Pantheismus und diesem zu entgehen nimmt also Wagner einen Schöpfer an
und gelangt aus diesem sehr gangbaren Wege zu einer bequemen Lösung der
schwierigen Frage, welche den Philosophen soviele Mühe gemacht hat. Die
Geologie, sagt er ferner, lehre uns, daß die anfängliche Beschaffenheit der
Erde die Existenz von Menschen auf derselben ganz unmöglich gemacht habe,
also seien sie später von Gott geschaffen und daraus könne man sehen, daß
derselbe die Welt nicht blos den Naturgesetzen überlasse, sondern sich noch
immer Um sie bekümmere und zeitgemäße Reformen (3ick) eintreten lasse. Der
Naturforscher wird aber zur Antwort auf solche Fragen nur sagen können, daß
er zu einem Urtheil über dieselben noch ganz incompetent sei und Wagner auf¬
fordern, nicht aus dem, was er beim Schweigen der Naturwissenschaft sich
nicht anders denken kann, sondern aus ihren positiven Resultaten seine Gründe
zu schöpfen -- nicht in sie hinein, sondern aus ihr heraus zu beweisen.

Am bezeichnendsten ist die Thesis am Schlüsse der Broschüre. Sie lautet:
"Es befindet sich in der ganzen biblischen Seelenlehre -- kein einziger Punkt,
welcher mit irgendeinem Lehrsatze der modernen -- Naturwissenschaft im
Widerspruch wäre. Die Bibel stellt, einem falschen Spiritualismus und
Materialismus gegenüber, in dem richtigen Dualismus des zu einem seelischen
Organismus vereinigten Geistes und Körpers die auch physiologisch allein
haltbare Grundlage einer wissenschaftlichen Psychologie und Anthropologie
auf." Der erste Satz ist genügsam, die Naturwissenschaft widerspricht überhaupt
keiner. Sittenlehre und darauf berufen sich auch Wagners Gegner für ihre
Ansicht; der zweite Satz ist aber entweder unwahr, oder, was fast dasselbe ist,
unerweislich. Wo eristirt denn eine wissenschaftliche Psychologie? wo hat
Wagner als Basis einer solchen die biblische Ansicht gefunden? wie endlich ist
die Physiologie im Stande die Grundlage einer Psychologie aufzustellen? wie
kann die Naturwissenschaft auch nur einen triftigen Grund für oder gegen die
Nichtigkeit der, biblischen Ansicht, wie sie irgendein Theolog versteht, bei¬
bringen? Für diese Fragen giebt es nur Verneinungen, aber Wagner stützt
sich offenbar aus folgenden Gedankengang: der Bibel zu glauben, erheischt die
Religion, die Physiologie schweigt, folglich stehen die biblischen Ansichten physio-
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Wir wollen nicht von den theologischen Betrachtungen, von den argen
physikalischen Hypothesen und Analogien (z. B. daß die Seele nach Abstrei¬
fung des Körpers in einen andern Weltraum ebenso schnell und leicht über¬
pflanzt werden könne, wie das Licht von der Sonne zur Erde) reden, aus
denen die Broschüre zumeist besteht, sondern nur an einigen Beispielen die Ver¬
mengung Her Wissenschaft und des Glaubens nachweisen. Der Naturforscher
betrachte, sagt er zum Beispiel, die Welt als ein Kunstwerk und wenn er
gefragt werde, wie es entstanden, so müsse er antworten, entweder es habe sich
selbst gemacht, oder es sei gemacht worden. Die erstere Ansicht führe zum
Pantheismus und diesem zu entgehen nimmt also Wagner einen Schöpfer an
und gelangt aus diesem sehr gangbaren Wege zu einer bequemen Lösung der
schwierigen Frage, welche den Philosophen soviele Mühe gemacht hat. Die
Geologie, sagt er ferner, lehre uns, daß die anfängliche Beschaffenheit der
Erde die Existenz von Menschen auf derselben ganz unmöglich gemacht habe,
also seien sie später von Gott geschaffen und daraus könne man sehen, daß
derselbe die Welt nicht blos den Naturgesetzen überlasse, sondern sich noch
immer Um sie bekümmere und zeitgemäße Reformen (3ick) eintreten lasse. Der
Naturforscher wird aber zur Antwort auf solche Fragen nur sagen können, daß
er zu einem Urtheil über dieselben noch ganz incompetent sei und Wagner auf¬
fordern, nicht aus dem, was er beim Schweigen der Naturwissenschaft sich
nicht anders denken kann, sondern aus ihren positiven Resultaten seine Gründe
zu schöpfen — nicht in sie hinein, sondern aus ihr heraus zu beweisen.

Am bezeichnendsten ist die Thesis am Schlüsse der Broschüre. Sie lautet:
„Es befindet sich in der ganzen biblischen Seelenlehre — kein einziger Punkt,
welcher mit irgendeinem Lehrsatze der modernen — Naturwissenschaft im
Widerspruch wäre. Die Bibel stellt, einem falschen Spiritualismus und
Materialismus gegenüber, in dem richtigen Dualismus des zu einem seelischen
Organismus vereinigten Geistes und Körpers die auch physiologisch allein
haltbare Grundlage einer wissenschaftlichen Psychologie und Anthropologie
auf." Der erste Satz ist genügsam, die Naturwissenschaft widerspricht überhaupt
keiner. Sittenlehre und darauf berufen sich auch Wagners Gegner für ihre
Ansicht; der zweite Satz ist aber entweder unwahr, oder, was fast dasselbe ist,
unerweislich. Wo eristirt denn eine wissenschaftliche Psychologie? wo hat
Wagner als Basis einer solchen die biblische Ansicht gefunden? wie endlich ist
die Physiologie im Stande die Grundlage einer Psychologie aufzustellen? wie
kann die Naturwissenschaft auch nur einen triftigen Grund für oder gegen die
Nichtigkeit der, biblischen Ansicht, wie sie irgendein Theolog versteht, bei¬
bringen? Für diese Fragen giebt es nur Verneinungen, aber Wagner stützt
sich offenbar aus folgenden Gedankengang: der Bibel zu glauben, erheischt die
Religion, die Physiologie schweigt, folglich stehen die biblischen Ansichten physio-
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341580_98851/35>, abgerufen am 25.08.2024.