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Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, I. Semester. I. Band.

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weil ihre Empfindung nicht aus ihren innersten Lebensmotiven hervorgegangen
war, sondern um der Kunst willen sich an einem fremden Feuer gewärmt hatte.
Hegels Philosophie ging aus der Mitte dieses schönen Dichterkreises hervor,
aber er, der nur zu analystren und zu begreifen, nicht neu zu schaffen hatte,
stand gegen die Dichter in einem großen Vortheil. Sein Grundsatz, daß in
der Geschichte nichts verloren geht, daß jedes neue Zeitalter auf der Höhe aller
früheren steht, war wenigstens für das gegenwärtige Zeitalter in Beziehung auf
die Bildung vollkommen richtig, denn uns hatte sich die Bildung der ganzen
früheren Welt aufgeschlossen, wir standen in einem reichen, märchenhaften Bilver-
sal, und es kam nur darauf an, dieser Ueberfülle von Erscheinungen den sichern,
festen Blick entgegenzubringen, um sie in ihrem Zusammenhange zu begreifen.
Hegel ging an die Darstellung der Griechen mit der ganzen Wärme und Innig¬
keit, welche uns die Arbeit unsrer Dichter möglich gemacht hatte, aber er brachte
einen schärferen und umfassenderen Blick mit. Er ist auch hier nicht frei von
Irrthümern und einzelnen Willkürlichsten,'denn an das methodische Arbeiten
der eigentlichen Wissenschaft, die keinen Schritt weiter thut, bevor sie das ge¬
wonnene Terrain vollkommen beherrscht, war er nicht gewohnt, aber die Grund¬
züge des Gemäldes hat er festgestellt für alle Zeiten. Er faßte die Geschichte
der griechischen Philosophie nicht, wie es wol bisher zu geschehen pflegte, als
eine Reihenfolge einzelner Leistungen auf, die möglicherweise auch anders hätte
erfolgen können, sondern als die innere nothwendige Entwicklung des griechi¬
schen Geistes selbst, der in der consequenten Durcharbeitung des Begriffs endlich
dahin kommen mußte, seine eigentliche Heimat, die Welt der Vorstellungen und
Erscheinungen, zu zerstören. In diesem Sinn hat er auch bei den Sophisten
und Sokrates den Begriff der Schuld, den man bisher durch eine weichliche
Humanität abgeschwächt hatte, in seiner vollen tragischen Stärke wieder her¬
gestellt. Die Heroen der Weltgeschichte sind allerdings schuldig, denn jedes
neue Princip ist feindlich gegen das bestehende, aber es ist nicht eine willkür¬
liche Schuld, sondern dieselbe innere Nothwendigkeit, in welcher die ausbrechende
Blume die Knospe widerlegt; in -ihrer Schuld liegt ihre Größe. -- Wollte
man nun diesen Begriff der Nothwendigkeit in allen einzelnen Punkten der
Geschichte der Philosophie wiederfinden, so würde man zu großen Irrthümern
verleitet werden; aber der griechische Geist war eben von einer so indivivuellen
Lebendigkeit, von einer so freien plastischen Kraft, daß er sich in der That aus
sich selbst heraus entwickele, aus sich selbst heraus zerstörte. Die Geschichte der
griechischen Philosophie wie die der griechischen Poesie wird uns stets das
vollendetste Bild einer natürlichen Selbstentwicklung geben, wenn wir auch
aufhören werden, sie für unser eignes Schaffen als mustergiltig zu betrachten.

Da nun für Hegel das Streben nach dem Absoluten in der Form des
reinen Begriffs der innere Kern der geistigen Entwicklung war, so ist ihm auch


weil ihre Empfindung nicht aus ihren innersten Lebensmotiven hervorgegangen
war, sondern um der Kunst willen sich an einem fremden Feuer gewärmt hatte.
Hegels Philosophie ging aus der Mitte dieses schönen Dichterkreises hervor,
aber er, der nur zu analystren und zu begreifen, nicht neu zu schaffen hatte,
stand gegen die Dichter in einem großen Vortheil. Sein Grundsatz, daß in
der Geschichte nichts verloren geht, daß jedes neue Zeitalter auf der Höhe aller
früheren steht, war wenigstens für das gegenwärtige Zeitalter in Beziehung auf
die Bildung vollkommen richtig, denn uns hatte sich die Bildung der ganzen
früheren Welt aufgeschlossen, wir standen in einem reichen, märchenhaften Bilver-
sal, und es kam nur darauf an, dieser Ueberfülle von Erscheinungen den sichern,
festen Blick entgegenzubringen, um sie in ihrem Zusammenhange zu begreifen.
Hegel ging an die Darstellung der Griechen mit der ganzen Wärme und Innig¬
keit, welche uns die Arbeit unsrer Dichter möglich gemacht hatte, aber er brachte
einen schärferen und umfassenderen Blick mit. Er ist auch hier nicht frei von
Irrthümern und einzelnen Willkürlichsten,'denn an das methodische Arbeiten
der eigentlichen Wissenschaft, die keinen Schritt weiter thut, bevor sie das ge¬
wonnene Terrain vollkommen beherrscht, war er nicht gewohnt, aber die Grund¬
züge des Gemäldes hat er festgestellt für alle Zeiten. Er faßte die Geschichte
der griechischen Philosophie nicht, wie es wol bisher zu geschehen pflegte, als
eine Reihenfolge einzelner Leistungen auf, die möglicherweise auch anders hätte
erfolgen können, sondern als die innere nothwendige Entwicklung des griechi¬
schen Geistes selbst, der in der consequenten Durcharbeitung des Begriffs endlich
dahin kommen mußte, seine eigentliche Heimat, die Welt der Vorstellungen und
Erscheinungen, zu zerstören. In diesem Sinn hat er auch bei den Sophisten
und Sokrates den Begriff der Schuld, den man bisher durch eine weichliche
Humanität abgeschwächt hatte, in seiner vollen tragischen Stärke wieder her¬
gestellt. Die Heroen der Weltgeschichte sind allerdings schuldig, denn jedes
neue Princip ist feindlich gegen das bestehende, aber es ist nicht eine willkür¬
liche Schuld, sondern dieselbe innere Nothwendigkeit, in welcher die ausbrechende
Blume die Knospe widerlegt; in -ihrer Schuld liegt ihre Größe. — Wollte
man nun diesen Begriff der Nothwendigkeit in allen einzelnen Punkten der
Geschichte der Philosophie wiederfinden, so würde man zu großen Irrthümern
verleitet werden; aber der griechische Geist war eben von einer so indivivuellen
Lebendigkeit, von einer so freien plastischen Kraft, daß er sich in der That aus
sich selbst heraus entwickele, aus sich selbst heraus zerstörte. Die Geschichte der
griechischen Philosophie wie die der griechischen Poesie wird uns stets das
vollendetste Bild einer natürlichen Selbstentwicklung geben, wenn wir auch
aufhören werden, sie für unser eignes Schaffen als mustergiltig zu betrachten.

Da nun für Hegel das Streben nach dem Absoluten in der Form des
reinen Begriffs der innere Kern der geistigen Entwicklung war, so ist ihm auch


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[0255] weil ihre Empfindung nicht aus ihren innersten Lebensmotiven hervorgegangen war, sondern um der Kunst willen sich an einem fremden Feuer gewärmt hatte. Hegels Philosophie ging aus der Mitte dieses schönen Dichterkreises hervor, aber er, der nur zu analystren und zu begreifen, nicht neu zu schaffen hatte, stand gegen die Dichter in einem großen Vortheil. Sein Grundsatz, daß in der Geschichte nichts verloren geht, daß jedes neue Zeitalter auf der Höhe aller früheren steht, war wenigstens für das gegenwärtige Zeitalter in Beziehung auf die Bildung vollkommen richtig, denn uns hatte sich die Bildung der ganzen früheren Welt aufgeschlossen, wir standen in einem reichen, märchenhaften Bilver- sal, und es kam nur darauf an, dieser Ueberfülle von Erscheinungen den sichern, festen Blick entgegenzubringen, um sie in ihrem Zusammenhange zu begreifen. Hegel ging an die Darstellung der Griechen mit der ganzen Wärme und Innig¬ keit, welche uns die Arbeit unsrer Dichter möglich gemacht hatte, aber er brachte einen schärferen und umfassenderen Blick mit. Er ist auch hier nicht frei von Irrthümern und einzelnen Willkürlichsten,'denn an das methodische Arbeiten der eigentlichen Wissenschaft, die keinen Schritt weiter thut, bevor sie das ge¬ wonnene Terrain vollkommen beherrscht, war er nicht gewohnt, aber die Grund¬ züge des Gemäldes hat er festgestellt für alle Zeiten. Er faßte die Geschichte der griechischen Philosophie nicht, wie es wol bisher zu geschehen pflegte, als eine Reihenfolge einzelner Leistungen auf, die möglicherweise auch anders hätte erfolgen können, sondern als die innere nothwendige Entwicklung des griechi¬ schen Geistes selbst, der in der consequenten Durcharbeitung des Begriffs endlich dahin kommen mußte, seine eigentliche Heimat, die Welt der Vorstellungen und Erscheinungen, zu zerstören. In diesem Sinn hat er auch bei den Sophisten und Sokrates den Begriff der Schuld, den man bisher durch eine weichliche Humanität abgeschwächt hatte, in seiner vollen tragischen Stärke wieder her¬ gestellt. Die Heroen der Weltgeschichte sind allerdings schuldig, denn jedes neue Princip ist feindlich gegen das bestehende, aber es ist nicht eine willkür¬ liche Schuld, sondern dieselbe innere Nothwendigkeit, in welcher die ausbrechende Blume die Knospe widerlegt; in -ihrer Schuld liegt ihre Größe. — Wollte man nun diesen Begriff der Nothwendigkeit in allen einzelnen Punkten der Geschichte der Philosophie wiederfinden, so würde man zu großen Irrthümern verleitet werden; aber der griechische Geist war eben von einer so indivivuellen Lebendigkeit, von einer so freien plastischen Kraft, daß er sich in der That aus sich selbst heraus entwickele, aus sich selbst heraus zerstörte. Die Geschichte der griechischen Philosophie wie die der griechischen Poesie wird uns stets das vollendetste Bild einer natürlichen Selbstentwicklung geben, wenn wir auch aufhören werden, sie für unser eignes Schaffen als mustergiltig zu betrachten. Da nun für Hegel das Streben nach dem Absoluten in der Form des reinen Begriffs der innere Kern der geistigen Entwicklung war, so ist ihm auch

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341580_98851/255>, abgerufen am 28.09.2024.