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Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, I. Semester. I. Band.

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die Kleinigkeitskrämer sich auch dieses Stoffes bemächtigen und ihn geschmacklos
verarbeitet auf den Markt bringen; doch dagegen gibt es ein einfaches und
sicheres Mittel, und kommt einmal der rechte Mann, so wird er zeigen, welche
Schätze hier zu gewinnen sind. Und kaum für irgendeinen unsrer Dichter sind
Quellen der Art so wichtig als für Goethe. Nicht allein, daß sein Leben eine
lange und die für die Gegenwart wichtigste Periode unsrer Literaturgeschichte
umsaßt, daß er als Dichter den ersten Platz in derselben eingenommen, einen
in alle Kreise" unsres geistigen Lebens eingedrungenen maßgebenden Einfluß
geübt hat: seine Individualität, war der Art, daß der Dichter und der Mensch
nie zu trennen sind, und in demselben Sinne, wie er in der Beschreibung sei¬
nes Lebens von der Wahrheit, die zu geben seine Absicht war, die Dichtung
zu scheiden nicht im Stande war, ist in allen seinen Dichtungen die Wahrheit
des Selbsterlebten zu finden. Es ist daher kein Zufall noch bloße Neugier,
wenn man allgemein Goethes Leben auch in seinem Detail mit lebhafterem In¬
teresse verfolgt als das irgendeines unsrer Dichter, sondern das richtige Gefühl
oder die Einsicht, daß das Verständniß des Dichters wachse mit der Erkenntniß
des Menschen.

In jeder Beziehung gesteigert ist nun grade das Interesse dieser Brief¬
sammlung, schon weil sie den Werther angeht, und die Stellung dieses Romans
in unsrer Literatur allein macht authentische Nachrichten über seine Entstehung
interessant. Nun war aber derselbe mit wirklichen Erlebnissen des Dichters
enger verflochten als irgendeine andre seiner Dichtungen; das wußte man auch
damals und bei dem Eifer der nachspürenden wurde man, über das Factische
und Persönliche der zugrundeliegenden Verhältnisse bald recht unterrichtet.
Die authentische Bestätigung gab Goethe selbst in der Darstellung seines
Aufenthalts in Wetzlar. Jetzt liegen uns die Briefe selbst vor und' fordern
uns zum Vergleiche auf sowol mit der aus der jugendlich gährenden Leiden¬
schaft hervorgegangenen dichterischen Gestaltung dieser Erlebnisse im Roman,
als mit der vom reifen Mann, der ruhigen Blicks in die Vergangenheit zu¬
rückschaut, mit unverkennbarer Schonung lebender Personen gegebenen Dar¬
stellung. Man forsche nach in aller Literatur, wo eine ähnliche Aufgabe sich
darbietet und mit gleich schönem Erfolg. Zwar die Berichtigung einiger Facta
und Data, die größere Bestimmtheit dieser oder jener Züge ist dem gegenüber,
was man bereits wußte, nicht von großer Erheblichkeit. Aber erst jetzt kann man
in der Seele des Dichters lesen, die k.lar und offen vor uns liegt, wie sich
selten und gewiß nur ein reiner und edler Mensch offenbart. Wie groß auch
das Interesse der ästhetisch-kritischen Aufgabe sein mag, dem Dichter nach¬
zuforschen, wer ein Herz mitbringt zu den großen Männern unsrer Literatur,
dem wird nicht der geringste Gewinn die freudige Erhebung sein, welche das
über Vermuthen schöne und reine Verhältniß und die edle und kräftige Natur


die Kleinigkeitskrämer sich auch dieses Stoffes bemächtigen und ihn geschmacklos
verarbeitet auf den Markt bringen; doch dagegen gibt es ein einfaches und
sicheres Mittel, und kommt einmal der rechte Mann, so wird er zeigen, welche
Schätze hier zu gewinnen sind. Und kaum für irgendeinen unsrer Dichter sind
Quellen der Art so wichtig als für Goethe. Nicht allein, daß sein Leben eine
lange und die für die Gegenwart wichtigste Periode unsrer Literaturgeschichte
umsaßt, daß er als Dichter den ersten Platz in derselben eingenommen, einen
in alle Kreise« unsres geistigen Lebens eingedrungenen maßgebenden Einfluß
geübt hat: seine Individualität, war der Art, daß der Dichter und der Mensch
nie zu trennen sind, und in demselben Sinne, wie er in der Beschreibung sei¬
nes Lebens von der Wahrheit, die zu geben seine Absicht war, die Dichtung
zu scheiden nicht im Stande war, ist in allen seinen Dichtungen die Wahrheit
des Selbsterlebten zu finden. Es ist daher kein Zufall noch bloße Neugier,
wenn man allgemein Goethes Leben auch in seinem Detail mit lebhafterem In¬
teresse verfolgt als das irgendeines unsrer Dichter, sondern das richtige Gefühl
oder die Einsicht, daß das Verständniß des Dichters wachse mit der Erkenntniß
des Menschen.

In jeder Beziehung gesteigert ist nun grade das Interesse dieser Brief¬
sammlung, schon weil sie den Werther angeht, und die Stellung dieses Romans
in unsrer Literatur allein macht authentische Nachrichten über seine Entstehung
interessant. Nun war aber derselbe mit wirklichen Erlebnissen des Dichters
enger verflochten als irgendeine andre seiner Dichtungen; das wußte man auch
damals und bei dem Eifer der nachspürenden wurde man, über das Factische
und Persönliche der zugrundeliegenden Verhältnisse bald recht unterrichtet.
Die authentische Bestätigung gab Goethe selbst in der Darstellung seines
Aufenthalts in Wetzlar. Jetzt liegen uns die Briefe selbst vor und' fordern
uns zum Vergleiche auf sowol mit der aus der jugendlich gährenden Leiden¬
schaft hervorgegangenen dichterischen Gestaltung dieser Erlebnisse im Roman,
als mit der vom reifen Mann, der ruhigen Blicks in die Vergangenheit zu¬
rückschaut, mit unverkennbarer Schonung lebender Personen gegebenen Dar¬
stellung. Man forsche nach in aller Literatur, wo eine ähnliche Aufgabe sich
darbietet und mit gleich schönem Erfolg. Zwar die Berichtigung einiger Facta
und Data, die größere Bestimmtheit dieser oder jener Züge ist dem gegenüber,
was man bereits wußte, nicht von großer Erheblichkeit. Aber erst jetzt kann man
in der Seele des Dichters lesen, die k.lar und offen vor uns liegt, wie sich
selten und gewiß nur ein reiner und edler Mensch offenbart. Wie groß auch
das Interesse der ästhetisch-kritischen Aufgabe sein mag, dem Dichter nach¬
zuforschen, wer ein Herz mitbringt zu den großen Männern unsrer Literatur,
dem wird nicht der geringste Gewinn die freudige Erhebung sein, welche das
über Vermuthen schöne und reine Verhältniß und die edle und kräftige Natur


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341580_98851/170>, abgerufen am 01.10.2024.