Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, I. Semester. I. Band.

Bild:
<< vorherige Seite
Noch einmal die Wertherbriefe.

Selten ist wol eine Reliquie eines Dichters mit ähnlicher Spannung erwar¬
tet worden als der Briefwechsel Goetlws mit der Kestnerschen Familie. Man
wußte, daß sie die Wahrheit zu der Dichtung des Werther enthielten, man
wußte, daß' sie sorgsam aufbewahrt wurden durch Einzelne, welche sie hatten
lesen dürfen; je lebhafter daS Entzücken dieser sich aussprach, um so unbegreif-
licher erschien es, daß man sie dem Publicum vorenthielt. Jetzt sind sie erschie¬
nen und haben selbst Männer, welche sonst zu den ewigen Publicationen
Goethescher Briefe unwillig oder spöttisch den Kopf schütteln, befriedigt und
erfreut. In der That aber ist das Murren über die vielen Briefe Goethes,
welche gedruckt werden, ungerecht und undankbar dem meisten gegenüber, was
bis jetzt erschienen ist. Bekanntlich faßt man die Literatur- und Kunstgeschichte
nicht mehr als ein lockeres Aggregat von biographischen Notizen und ästhetisch¬
kritischen Anmerkungen auf, sondern hat als ihre Aufgabe erkannt, den Künstler
als ein Individuum aufzufassen, das seinen Anlagen, seiner Bildung, seinem
Lebensgange nach in der bestimmten Zeit und unter den gegebenen Verhält¬
nissen sich so und nicht anders entwickelt hat, und diesen Entwicklungsgang in
seineu Werken nachzuweisen, und in gleicher Methode die einzelnen Erscheinun¬
gen zu einem Gesammtbilde der fortschreitenden Entwicklung einer Nation in
Literatur und Kunst zusammenzufassen. Da ist denn leicht einzusehen, wie müh¬
seliger Forschung es bedarf, um die zerstreuten, meist spärlichen Nachrichten zusam¬
menzubringen, welche den Dichter und Künstler individuell charakterisiren, ihn im
lebendigen Zusammenhang mit seiner Zeit zeigen, uns in sein Inneres wie
in seine Werkstatt blicken lassen, und wie dann scharfsinnige und doch oft un¬
sichere Combination nöthig ist, das Bild zu vollenden. Werden in jenen ent¬
legenen Regionen, die der Gelehrsamkeit verfallen sind, Entdeckungen solcher
Art gemacht, so ist große Freude, weil grade sie am meisten dazu helfen, den
Staub von dem verdunkelten Bilde abzublasen und es dem Publicum zugänglich
zu machen. Wieviel Ursache hat man also, dankbar zu sein, wenn für die
bedeutendsten Erscheinungen unsrer Literatur Documente zu ihrer genauen
Kenntniß und Würdigung in reicher Fülle sich ausbreiten. Wol wahr, daß


Greuzbole", I. I8so. <Z1
Noch einmal die Wertherbriefe.

Selten ist wol eine Reliquie eines Dichters mit ähnlicher Spannung erwar¬
tet worden als der Briefwechsel Goetlws mit der Kestnerschen Familie. Man
wußte, daß sie die Wahrheit zu der Dichtung des Werther enthielten, man
wußte, daß' sie sorgsam aufbewahrt wurden durch Einzelne, welche sie hatten
lesen dürfen; je lebhafter daS Entzücken dieser sich aussprach, um so unbegreif-
licher erschien es, daß man sie dem Publicum vorenthielt. Jetzt sind sie erschie¬
nen und haben selbst Männer, welche sonst zu den ewigen Publicationen
Goethescher Briefe unwillig oder spöttisch den Kopf schütteln, befriedigt und
erfreut. In der That aber ist das Murren über die vielen Briefe Goethes,
welche gedruckt werden, ungerecht und undankbar dem meisten gegenüber, was
bis jetzt erschienen ist. Bekanntlich faßt man die Literatur- und Kunstgeschichte
nicht mehr als ein lockeres Aggregat von biographischen Notizen und ästhetisch¬
kritischen Anmerkungen auf, sondern hat als ihre Aufgabe erkannt, den Künstler
als ein Individuum aufzufassen, das seinen Anlagen, seiner Bildung, seinem
Lebensgange nach in der bestimmten Zeit und unter den gegebenen Verhält¬
nissen sich so und nicht anders entwickelt hat, und diesen Entwicklungsgang in
seineu Werken nachzuweisen, und in gleicher Methode die einzelnen Erscheinun¬
gen zu einem Gesammtbilde der fortschreitenden Entwicklung einer Nation in
Literatur und Kunst zusammenzufassen. Da ist denn leicht einzusehen, wie müh¬
seliger Forschung es bedarf, um die zerstreuten, meist spärlichen Nachrichten zusam¬
menzubringen, welche den Dichter und Künstler individuell charakterisiren, ihn im
lebendigen Zusammenhang mit seiner Zeit zeigen, uns in sein Inneres wie
in seine Werkstatt blicken lassen, und wie dann scharfsinnige und doch oft un¬
sichere Combination nöthig ist, das Bild zu vollenden. Werden in jenen ent¬
legenen Regionen, die der Gelehrsamkeit verfallen sind, Entdeckungen solcher
Art gemacht, so ist große Freude, weil grade sie am meisten dazu helfen, den
Staub von dem verdunkelten Bilde abzublasen und es dem Publicum zugänglich
zu machen. Wieviel Ursache hat man also, dankbar zu sein, wenn für die
bedeutendsten Erscheinungen unsrer Literatur Documente zu ihrer genauen
Kenntniß und Würdigung in reicher Fülle sich ausbreiten. Wol wahr, daß


Greuzbole», I. I8so. <Z1
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <div n="2">
            <pb facs="#f0169" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/99021"/>
          </div>
        </div>
        <div n="1">
          <head> Noch einmal die Wertherbriefe.</head><lb/>
          <p xml:id="ID_567" next="#ID_568"> Selten ist wol eine Reliquie eines Dichters mit ähnlicher Spannung erwar¬<lb/>
tet worden als der Briefwechsel Goetlws mit der Kestnerschen Familie. Man<lb/>
wußte, daß sie die Wahrheit zu der Dichtung des Werther enthielten, man<lb/>
wußte, daß' sie sorgsam aufbewahrt wurden durch Einzelne, welche sie hatten<lb/>
lesen dürfen; je lebhafter daS Entzücken dieser sich aussprach, um so unbegreif-<lb/>
licher erschien es, daß man sie dem Publicum vorenthielt. Jetzt sind sie erschie¬<lb/>
nen und haben selbst Männer, welche sonst zu den ewigen Publicationen<lb/>
Goethescher Briefe unwillig oder spöttisch den Kopf schütteln, befriedigt und<lb/>
erfreut. In der That aber ist das Murren über die vielen Briefe Goethes,<lb/>
welche gedruckt werden, ungerecht und undankbar dem meisten gegenüber, was<lb/>
bis jetzt erschienen ist. Bekanntlich faßt man die Literatur- und Kunstgeschichte<lb/>
nicht mehr als ein lockeres Aggregat von biographischen Notizen und ästhetisch¬<lb/>
kritischen Anmerkungen auf, sondern hat als ihre Aufgabe erkannt, den Künstler<lb/>
als ein Individuum aufzufassen, das seinen Anlagen, seiner Bildung, seinem<lb/>
Lebensgange nach in der bestimmten Zeit und unter den gegebenen Verhält¬<lb/>
nissen sich so und nicht anders entwickelt hat, und diesen Entwicklungsgang in<lb/>
seineu Werken nachzuweisen, und in gleicher Methode die einzelnen Erscheinun¬<lb/>
gen zu einem Gesammtbilde der fortschreitenden Entwicklung einer Nation in<lb/>
Literatur und Kunst zusammenzufassen. Da ist denn leicht einzusehen, wie müh¬<lb/>
seliger Forschung es bedarf, um die zerstreuten, meist spärlichen Nachrichten zusam¬<lb/>
menzubringen, welche den Dichter und Künstler individuell charakterisiren, ihn im<lb/>
lebendigen Zusammenhang mit seiner Zeit zeigen, uns in sein Inneres wie<lb/>
in seine Werkstatt blicken lassen, und wie dann scharfsinnige und doch oft un¬<lb/>
sichere Combination nöthig ist, das Bild zu vollenden. Werden in jenen ent¬<lb/>
legenen Regionen, die der Gelehrsamkeit verfallen sind, Entdeckungen solcher<lb/>
Art gemacht, so ist große Freude, weil grade sie am meisten dazu helfen, den<lb/>
Staub von dem verdunkelten Bilde abzublasen und es dem Publicum zugänglich<lb/>
zu machen. Wieviel Ursache hat man also, dankbar zu sein, wenn für die<lb/>
bedeutendsten Erscheinungen unsrer Literatur Documente zu ihrer genauen<lb/>
Kenntniß und Würdigung in reicher Fülle sich ausbreiten. Wol wahr, daß</p><lb/>
          <fw type="sig" place="bottom"> Greuzbole», I. I8so. &lt;Z1</fw><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0169] Noch einmal die Wertherbriefe. Selten ist wol eine Reliquie eines Dichters mit ähnlicher Spannung erwar¬ tet worden als der Briefwechsel Goetlws mit der Kestnerschen Familie. Man wußte, daß sie die Wahrheit zu der Dichtung des Werther enthielten, man wußte, daß' sie sorgsam aufbewahrt wurden durch Einzelne, welche sie hatten lesen dürfen; je lebhafter daS Entzücken dieser sich aussprach, um so unbegreif- licher erschien es, daß man sie dem Publicum vorenthielt. Jetzt sind sie erschie¬ nen und haben selbst Männer, welche sonst zu den ewigen Publicationen Goethescher Briefe unwillig oder spöttisch den Kopf schütteln, befriedigt und erfreut. In der That aber ist das Murren über die vielen Briefe Goethes, welche gedruckt werden, ungerecht und undankbar dem meisten gegenüber, was bis jetzt erschienen ist. Bekanntlich faßt man die Literatur- und Kunstgeschichte nicht mehr als ein lockeres Aggregat von biographischen Notizen und ästhetisch¬ kritischen Anmerkungen auf, sondern hat als ihre Aufgabe erkannt, den Künstler als ein Individuum aufzufassen, das seinen Anlagen, seiner Bildung, seinem Lebensgange nach in der bestimmten Zeit und unter den gegebenen Verhält¬ nissen sich so und nicht anders entwickelt hat, und diesen Entwicklungsgang in seineu Werken nachzuweisen, und in gleicher Methode die einzelnen Erscheinun¬ gen zu einem Gesammtbilde der fortschreitenden Entwicklung einer Nation in Literatur und Kunst zusammenzufassen. Da ist denn leicht einzusehen, wie müh¬ seliger Forschung es bedarf, um die zerstreuten, meist spärlichen Nachrichten zusam¬ menzubringen, welche den Dichter und Künstler individuell charakterisiren, ihn im lebendigen Zusammenhang mit seiner Zeit zeigen, uns in sein Inneres wie in seine Werkstatt blicken lassen, und wie dann scharfsinnige und doch oft un¬ sichere Combination nöthig ist, das Bild zu vollenden. Werden in jenen ent¬ legenen Regionen, die der Gelehrsamkeit verfallen sind, Entdeckungen solcher Art gemacht, so ist große Freude, weil grade sie am meisten dazu helfen, den Staub von dem verdunkelten Bilde abzublasen und es dem Publicum zugänglich zu machen. Wieviel Ursache hat man also, dankbar zu sein, wenn für die bedeutendsten Erscheinungen unsrer Literatur Documente zu ihrer genauen Kenntniß und Würdigung in reicher Fülle sich ausbreiten. Wol wahr, daß Greuzbole», I. I8so. <Z1

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341580_98851
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341580_98851/169
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341580_98851/169>, abgerufen am 01.07.2024.