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Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, I. Semester. I. Band.

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daß der gegenwärtige Kampf an Tragweite nur dem Kampf der Jahre 18-12
bis 181S an die Seite zu stellen sein könnte. Die Krisis von 1848 war nur
dem Anschein nach von Wichtigkeit, und gleich zu Anfang derselben hätte jeder
Einsichtsvolle davon überzeugt sein müssen, wenn sie nicht freilich dem Zufall
einen so weiten Spielraum dargeboten hätte, daß dabei jede Berechnung über¬
haupt aufhören mußte. Sie war weiter nichts, als der Ausbruch einer dun¬
keln, unklaren Gährung, in welcher alle ungesunden Stoffe des europäischen
Staatskörpers zum Vorschein kamen; aber keineswegs der Ausbruch eines
neuen organischen, lebensvollen Keimes, der die alten Bildungen als seinen
Stoff verbrauchte. In der gegenwärtigen Krisis dagegen gehl der mächtige
Trieb des Instincts mit dem realen Bewußtsein der Völker Hand in Hand;
und 'wenn sie nicht durch ein ganz unwahrscheinliches Nachgeben Rußlands
unterbrochen wird, so wächst sie von Tage zu Tage mit der Gewalt einer
Lawine, wie sie bisher in stetigem Fortschritt gewachsen ist, von der ersten
Sendung des Fürsten Menschikoff bis zum Decembervertrag, und sie wird nicht
eher aufhören, als bis das bisher sogenannte europäische Gleichgewicht eine
ganz neue Gestalt angenommen hat.

In diesem Conflict nun sind wir in der zweiten Hälfte des vorigen Jah¬
res in der unangenehmen Lage gewesen, unsern Sympathien''zu Gunsten uns¬
rer Ueberzeugung Gewalt anthun zu müssen. Wir haben von 1848 an bis
zum Ausbruch der orientalischen Krisis bei den fortgesetzten Reibungen zwischen
Oestreich und Preußen es stets mit Preußen gegen Oestreich gehalten, so¬
wenig wir uns auch mit dem Gang der preußischen Politik einverstanden er¬
klären konnten.. Nicht blos der zufällige Umstand, daß wir Preußen sind,
hat uns dazu veranlaßt, sondern einmal die Betrachtung, daß für die Kulturstufe,
der wir angehören, der preußische Staat der richtige Ausdruck ist, und nicht
Oestreich, sodann der Umstand, daß das, was die preußische Negierung wollte,
sowenig Beifall auch die Art und Weise verdiente, wie sie es ausführte, den¬
noch unsern eignen Ueberzeugungen näher stand, als das, was Oestreich wollte.
Der letzte Punkt hat sich seit dem Ausbruch der orientalischen
Krisis geändert, der erste nicht, wenigstens für jetzt nicht.

Wenn wir mit den unbefangenen Augen, welche die Beurtheilung der
Gegenwart ebenso erheischt, wie die der Vergangenheit, das Verhalten der
beiden Regierungen während der orientalischen Krisis betrachten, so müßten
wir es aussprechen, daß die östreichische Negierung vom Anfang bis zum
gegenwärtigen Augenblick mit der größten Umsicht und Entschlossenheit, mit
ebenso großer Besonnenheit als Energie zu Werke gegangen ist, daß in ihrem
Verfahren ein jeder Schritt den folgenden mit Nothwendigkeit bedingte, daß
trotz der Langsamkeit dieser Schritte ein stetiger Fortgang zu bemerken war,
daß die Politik nach .einer bestimmten Richtung hinging, und daß in jeden/
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daß der gegenwärtige Kampf an Tragweite nur dem Kampf der Jahre 18-12
bis 181S an die Seite zu stellen sein könnte. Die Krisis von 1848 war nur
dem Anschein nach von Wichtigkeit, und gleich zu Anfang derselben hätte jeder
Einsichtsvolle davon überzeugt sein müssen, wenn sie nicht freilich dem Zufall
einen so weiten Spielraum dargeboten hätte, daß dabei jede Berechnung über¬
haupt aufhören mußte. Sie war weiter nichts, als der Ausbruch einer dun¬
keln, unklaren Gährung, in welcher alle ungesunden Stoffe des europäischen
Staatskörpers zum Vorschein kamen; aber keineswegs der Ausbruch eines
neuen organischen, lebensvollen Keimes, der die alten Bildungen als seinen
Stoff verbrauchte. In der gegenwärtigen Krisis dagegen gehl der mächtige
Trieb des Instincts mit dem realen Bewußtsein der Völker Hand in Hand;
und 'wenn sie nicht durch ein ganz unwahrscheinliches Nachgeben Rußlands
unterbrochen wird, so wächst sie von Tage zu Tage mit der Gewalt einer
Lawine, wie sie bisher in stetigem Fortschritt gewachsen ist, von der ersten
Sendung des Fürsten Menschikoff bis zum Decembervertrag, und sie wird nicht
eher aufhören, als bis das bisher sogenannte europäische Gleichgewicht eine
ganz neue Gestalt angenommen hat.

In diesem Conflict nun sind wir in der zweiten Hälfte des vorigen Jah¬
res in der unangenehmen Lage gewesen, unsern Sympathien''zu Gunsten uns¬
rer Ueberzeugung Gewalt anthun zu müssen. Wir haben von 1848 an bis
zum Ausbruch der orientalischen Krisis bei den fortgesetzten Reibungen zwischen
Oestreich und Preußen es stets mit Preußen gegen Oestreich gehalten, so¬
wenig wir uns auch mit dem Gang der preußischen Politik einverstanden er¬
klären konnten.. Nicht blos der zufällige Umstand, daß wir Preußen sind,
hat uns dazu veranlaßt, sondern einmal die Betrachtung, daß für die Kulturstufe,
der wir angehören, der preußische Staat der richtige Ausdruck ist, und nicht
Oestreich, sodann der Umstand, daß das, was die preußische Negierung wollte,
sowenig Beifall auch die Art und Weise verdiente, wie sie es ausführte, den¬
noch unsern eignen Ueberzeugungen näher stand, als das, was Oestreich wollte.
Der letzte Punkt hat sich seit dem Ausbruch der orientalischen
Krisis geändert, der erste nicht, wenigstens für jetzt nicht.

Wenn wir mit den unbefangenen Augen, welche die Beurtheilung der
Gegenwart ebenso erheischt, wie die der Vergangenheit, das Verhalten der
beiden Regierungen während der orientalischen Krisis betrachten, so müßten
wir es aussprechen, daß die östreichische Negierung vom Anfang bis zum
gegenwärtigen Augenblick mit der größten Umsicht und Entschlossenheit, mit
ebenso großer Besonnenheit als Energie zu Werke gegangen ist, daß in ihrem
Verfahren ein jeder Schritt den folgenden mit Nothwendigkeit bedingte, daß
trotz der Langsamkeit dieser Schritte ein stetiger Fortgang zu bemerken war,
daß die Politik nach .einer bestimmten Richtung hinging, und daß in jeden/
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341580_98851/11>, abgerufen am 26.06.2024.