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Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, II. Semester. IV. Band.

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muthiges Gewebe weben. Man sieht dann nicht blos eine touchirte, durch
die Strahlenbrechung entstandene Landschaft vor sich, sondern es spiegeln sich
wirkliche Gegenden mit allen denkbaren Farben in phantastischer Mischung ab,
und diese herrliche Erscheinung, die sich vorzüglich häufig beim Aufgange der
Sonne zeigt, hält sich zuweilen .mehre Stunden in ihrer vollen Pracht. ,

Wie der Himmel der Haide kennt aber auch das innere Auge des Haide-
bewohners eine Art solcher Spiegelbilder. Wie dort geschaut wird, was hinter
dem räumlichen Horizonte liegt, so hier, was sich hinter dem zeitlichen ver¬
birgt, das Zukünftige. Ich meine das sogenannte "zweite Gesicht", welches
in Schottland und Nordengland eine fast alltäglich vorkommende Gabe
sein soll, und auf den Haiden Schleswig-Holsteins gleichfalls bisweilen be¬
obachtet wird. Diese Fata Morgana der Seelen erscheint (Sie bemerken, ich
spreche als Gläubiger) immer nur einzelnen, mit der Sehergabe wie mit einer
Krankheit behafteten Personen, die im Uebrigen meist durchaus gesunde, oft
ganz prosaische Leute sind. Sie hat nichts mit Somnambulismus gemein,
und nimmt zu ihrem Gewebe in der Negel aus der Zukunft nur Dinge des
Alltagslebens. Der Seher sieht den Tischler sür einen der Nachbarn, der
noch wohl auf ist, einen Sarg zurech't hobeln, und der Nachbar stirbt wirklich
kurz nachher. Der Seher sieht einen Hochzeitszug an seinem Fenster vorüber¬
gehen, das Paar ist ihm bekannt, und Mann und Mädchen, die zur Zeit des
Gesichts noch in keinem Verhältniß zueinander standen, heirathen sich bald
darauf wirklich. Der Seher steht Feuer aus Dächern emporschlagen, die später
wirklich in Brand gerathen, er sieht es manchmal schon dem Balken, der bei
einem Bau zurechtgezimmert wird, an, daß er durch eine Feuersbrunst zerstört
zu werden bestimmt ist, u. s. w.

Mitunter greift das Schauen über die unmittelbare Umgebung und die
Region des Alltagslebens hinaus, mitunter ist der Zustand weniger ein zweites
Gesicht, als ein zweites Gehör. ' Im letztern Falle wird ein klagender Ruf
vor Häusern, denen ein Todesfall droht, und ein gespenstisches Hornbläser in
Gassen, wo später ein Feuer ausbricht, vernommen. Im ersterwähnten Falle
wird namentlich das Getümmel von Schlachten geschaut oder der Lärm der¬
selben gehört. Der Glaube an diese Gesichte ist uralt. Schon Neocorus
erzählt: "Im Jahre vor dem, da der König Johann und der Herzog von Hol¬
stein hereinkamen, um Dithmarschen einzunehmen, geschahen wunderbare Zeichen.
Denn in dem Sommer, als die Arbeitsleute die Gräben neben dem Wege am
Dusentdüwelswarf kleinem (d. h. schlemmten), erhub sich jeden Abend, wenn
die Sonne sich geneigt hatte und es dunkel werden wollte, ja auch bei Hellem
Tage, ein greuliches Getöse und Geprassel, allerlei Erscheinungen ließen sich
sehen und hören, daß sich die Arbeiter nie verspäten oder zur Abendzeit dahin
wagen dursten. Sie mußten oft ihre Arbeit stehen lassen und nach Hause


muthiges Gewebe weben. Man sieht dann nicht blos eine touchirte, durch
die Strahlenbrechung entstandene Landschaft vor sich, sondern es spiegeln sich
wirkliche Gegenden mit allen denkbaren Farben in phantastischer Mischung ab,
und diese herrliche Erscheinung, die sich vorzüglich häufig beim Aufgange der
Sonne zeigt, hält sich zuweilen .mehre Stunden in ihrer vollen Pracht. ,

Wie der Himmel der Haide kennt aber auch das innere Auge des Haide-
bewohners eine Art solcher Spiegelbilder. Wie dort geschaut wird, was hinter
dem räumlichen Horizonte liegt, so hier, was sich hinter dem zeitlichen ver¬
birgt, das Zukünftige. Ich meine das sogenannte „zweite Gesicht", welches
in Schottland und Nordengland eine fast alltäglich vorkommende Gabe
sein soll, und auf den Haiden Schleswig-Holsteins gleichfalls bisweilen be¬
obachtet wird. Diese Fata Morgana der Seelen erscheint (Sie bemerken, ich
spreche als Gläubiger) immer nur einzelnen, mit der Sehergabe wie mit einer
Krankheit behafteten Personen, die im Uebrigen meist durchaus gesunde, oft
ganz prosaische Leute sind. Sie hat nichts mit Somnambulismus gemein,
und nimmt zu ihrem Gewebe in der Negel aus der Zukunft nur Dinge des
Alltagslebens. Der Seher sieht den Tischler sür einen der Nachbarn, der
noch wohl auf ist, einen Sarg zurech't hobeln, und der Nachbar stirbt wirklich
kurz nachher. Der Seher sieht einen Hochzeitszug an seinem Fenster vorüber¬
gehen, das Paar ist ihm bekannt, und Mann und Mädchen, die zur Zeit des
Gesichts noch in keinem Verhältniß zueinander standen, heirathen sich bald
darauf wirklich. Der Seher steht Feuer aus Dächern emporschlagen, die später
wirklich in Brand gerathen, er sieht es manchmal schon dem Balken, der bei
einem Bau zurechtgezimmert wird, an, daß er durch eine Feuersbrunst zerstört
zu werden bestimmt ist, u. s. w.

Mitunter greift das Schauen über die unmittelbare Umgebung und die
Region des Alltagslebens hinaus, mitunter ist der Zustand weniger ein zweites
Gesicht, als ein zweites Gehör. ' Im letztern Falle wird ein klagender Ruf
vor Häusern, denen ein Todesfall droht, und ein gespenstisches Hornbläser in
Gassen, wo später ein Feuer ausbricht, vernommen. Im ersterwähnten Falle
wird namentlich das Getümmel von Schlachten geschaut oder der Lärm der¬
selben gehört. Der Glaube an diese Gesichte ist uralt. Schon Neocorus
erzählt: „Im Jahre vor dem, da der König Johann und der Herzog von Hol¬
stein hereinkamen, um Dithmarschen einzunehmen, geschahen wunderbare Zeichen.
Denn in dem Sommer, als die Arbeitsleute die Gräben neben dem Wege am
Dusentdüwelswarf kleinem (d. h. schlemmten), erhub sich jeden Abend, wenn
die Sonne sich geneigt hatte und es dunkel werden wollte, ja auch bei Hellem
Tage, ein greuliches Getöse und Geprassel, allerlei Erscheinungen ließen sich
sehen und hören, daß sich die Arbeiter nie verspäten oder zur Abendzeit dahin
wagen dursten. Sie mußten oft ihre Arbeit stehen lassen und nach Hause


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[0504] muthiges Gewebe weben. Man sieht dann nicht blos eine touchirte, durch die Strahlenbrechung entstandene Landschaft vor sich, sondern es spiegeln sich wirkliche Gegenden mit allen denkbaren Farben in phantastischer Mischung ab, und diese herrliche Erscheinung, die sich vorzüglich häufig beim Aufgange der Sonne zeigt, hält sich zuweilen .mehre Stunden in ihrer vollen Pracht. , Wie der Himmel der Haide kennt aber auch das innere Auge des Haide- bewohners eine Art solcher Spiegelbilder. Wie dort geschaut wird, was hinter dem räumlichen Horizonte liegt, so hier, was sich hinter dem zeitlichen ver¬ birgt, das Zukünftige. Ich meine das sogenannte „zweite Gesicht", welches in Schottland und Nordengland eine fast alltäglich vorkommende Gabe sein soll, und auf den Haiden Schleswig-Holsteins gleichfalls bisweilen be¬ obachtet wird. Diese Fata Morgana der Seelen erscheint (Sie bemerken, ich spreche als Gläubiger) immer nur einzelnen, mit der Sehergabe wie mit einer Krankheit behafteten Personen, die im Uebrigen meist durchaus gesunde, oft ganz prosaische Leute sind. Sie hat nichts mit Somnambulismus gemein, und nimmt zu ihrem Gewebe in der Negel aus der Zukunft nur Dinge des Alltagslebens. Der Seher sieht den Tischler sür einen der Nachbarn, der noch wohl auf ist, einen Sarg zurech't hobeln, und der Nachbar stirbt wirklich kurz nachher. Der Seher sieht einen Hochzeitszug an seinem Fenster vorüber¬ gehen, das Paar ist ihm bekannt, und Mann und Mädchen, die zur Zeit des Gesichts noch in keinem Verhältniß zueinander standen, heirathen sich bald darauf wirklich. Der Seher steht Feuer aus Dächern emporschlagen, die später wirklich in Brand gerathen, er sieht es manchmal schon dem Balken, der bei einem Bau zurechtgezimmert wird, an, daß er durch eine Feuersbrunst zerstört zu werden bestimmt ist, u. s. w. Mitunter greift das Schauen über die unmittelbare Umgebung und die Region des Alltagslebens hinaus, mitunter ist der Zustand weniger ein zweites Gesicht, als ein zweites Gehör. ' Im letztern Falle wird ein klagender Ruf vor Häusern, denen ein Todesfall droht, und ein gespenstisches Hornbläser in Gassen, wo später ein Feuer ausbricht, vernommen. Im ersterwähnten Falle wird namentlich das Getümmel von Schlachten geschaut oder der Lärm der¬ selben gehört. Der Glaube an diese Gesichte ist uralt. Schon Neocorus erzählt: „Im Jahre vor dem, da der König Johann und der Herzog von Hol¬ stein hereinkamen, um Dithmarschen einzunehmen, geschahen wunderbare Zeichen. Denn in dem Sommer, als die Arbeitsleute die Gräben neben dem Wege am Dusentdüwelswarf kleinem (d. h. schlemmten), erhub sich jeden Abend, wenn die Sonne sich geneigt hatte und es dunkel werden wollte, ja auch bei Hellem Tage, ein greuliches Getöse und Geprassel, allerlei Erscheinungen ließen sich sehen und hören, daß sich die Arbeiter nie verspäten oder zur Abendzeit dahin wagen dursten. Sie mußten oft ihre Arbeit stehen lassen und nach Hause

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341580_100453/504>, abgerufen am 23.07.2024.