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Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, II. Semester. IV. Band.

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hegt zu haben scheint und ihr das Leben möglichst zu verbittern suchte. Endlich
im Jahre -I83-I faßte Aurora einen Entschluß. Sie traf mit ihrem Mann
das freundschaftliche Uebereinkommen, daß sie mit ihrer Tochter die Hälfte des
Jahres in Paris leben wollte, wofür er ihr eine mäßige Summe aussetzte,
die andere Hälfte in Nohcint. Jene Summe reichte für eine bequeme Existenz in
Paris nicht völlig aus, sie mußte also das Nöthige dazu verdienen. Sie hatte
es schon mit Handarbeiten und Aehnlichem versucht, es war nicht gegangen,
und sie beschloß daher, von der Schnflstellerei zu leben. Ihr Mann gab seine
Einwilligung dazu, weil er es für eine Caprice hielt, die satt vorübergehen
würde; aber schon durch diese Einwilligung verwirkte er eigentlich sein eheliches
Recht. Uebrigens war von einem Bruch durchaus nicht die Rede gewesen,
im Gegentheil scheinen die Verhältnisse, da sie einander weniger sahen, sein
besseres Ansehen genommen zu haben.

Bis dahin ist die Erzählung sehr klar und deutlich; mit dem Aufenthalt
in Paris wird das Gemälde etwas verwaschen. Aurora erzählt in der Einlei¬
tung, daß alle ihre Neigungen sehr ernsthafter Natur gewesen sind, aber sie
verschweigt uns die Einzeln heilen. An sich finden wir das vollkommen gerecht¬
fertigt, wenn nur in den Denkwürdigkeiten nicht andere Dinge vorkämen, die
eine ebenso fragliche Berechtigung hätten.

Um Romane schreiben zu können, mußte sie das Leben studiren. Ihre
Einkünfte reichten aber dazu nicht aus, die Genüsse der Hauptstadt als Dame
mitzumachen; sie zog also Mannskleider an und verband sich mit mehrern
jungen Leuten aus ihrer Provinz, die in Paris ihr Glück machen wollten,
um in der Form eines jungen Studenten die Theater und andere öffentliche
Orte zu besuchen- "Ich kann nicht beschreiben," erzählt sie, "welches Vergnügen
mir meine Stiefel machten. Gern hätte ich mit.ihnen geschlafen. Auf diesen
eisenbeschlagenen Absätzen stand ich fest auf dem Trottoir; ich lief von einem
Ende der Stadt zum andern, ich hülle allenfalls die ganze Welt umkreist.
Meine Kleider durften das Wetter nicht scheuen, ich ging zu jeder Zeit aus,
und niemand merkte meine Verkleidung." Einige spaßhafte Anekdoten über
Mißverständnisse, die sich daraus ergaben, theilt sie selbst mit. In dieser Zeit
knüpfte sie mehre intime und bleibende Verhältnisse an. Ueber den Umfang
derselben spricht sie sich selbst aus. "Glaubt mir, das Herz ist weit genug,
um viele Neigungen zu Herbergen, und je zahlreicher, aufrichtiger und hinge¬
bender sie sind, desto mehr wird es an Kraft und Wärme wachsen. Seine
Natur ist göttlich, und wenn es zuweilen unter dem Gewicht der Enttäu¬
schungen erdrückt und erstorben scheint, so bezeigt grade die Tiefe dieses Leids
sein unsterbliches Leben. Habt daher keine Furcht, den Aufschwung des
Wohlwollens und der Sympathie auf das vollste zu empfinden, die süßen und
peinlichen Erregungen und Sorgen zu tragen, aber nebenbei errichtet noch den


hegt zu haben scheint und ihr das Leben möglichst zu verbittern suchte. Endlich
im Jahre -I83-I faßte Aurora einen Entschluß. Sie traf mit ihrem Mann
das freundschaftliche Uebereinkommen, daß sie mit ihrer Tochter die Hälfte des
Jahres in Paris leben wollte, wofür er ihr eine mäßige Summe aussetzte,
die andere Hälfte in Nohcint. Jene Summe reichte für eine bequeme Existenz in
Paris nicht völlig aus, sie mußte also das Nöthige dazu verdienen. Sie hatte
es schon mit Handarbeiten und Aehnlichem versucht, es war nicht gegangen,
und sie beschloß daher, von der Schnflstellerei zu leben. Ihr Mann gab seine
Einwilligung dazu, weil er es für eine Caprice hielt, die satt vorübergehen
würde; aber schon durch diese Einwilligung verwirkte er eigentlich sein eheliches
Recht. Uebrigens war von einem Bruch durchaus nicht die Rede gewesen,
im Gegentheil scheinen die Verhältnisse, da sie einander weniger sahen, sein
besseres Ansehen genommen zu haben.

Bis dahin ist die Erzählung sehr klar und deutlich; mit dem Aufenthalt
in Paris wird das Gemälde etwas verwaschen. Aurora erzählt in der Einlei¬
tung, daß alle ihre Neigungen sehr ernsthafter Natur gewesen sind, aber sie
verschweigt uns die Einzeln heilen. An sich finden wir das vollkommen gerecht¬
fertigt, wenn nur in den Denkwürdigkeiten nicht andere Dinge vorkämen, die
eine ebenso fragliche Berechtigung hätten.

Um Romane schreiben zu können, mußte sie das Leben studiren. Ihre
Einkünfte reichten aber dazu nicht aus, die Genüsse der Hauptstadt als Dame
mitzumachen; sie zog also Mannskleider an und verband sich mit mehrern
jungen Leuten aus ihrer Provinz, die in Paris ihr Glück machen wollten,
um in der Form eines jungen Studenten die Theater und andere öffentliche
Orte zu besuchen- „Ich kann nicht beschreiben," erzählt sie, „welches Vergnügen
mir meine Stiefel machten. Gern hätte ich mit.ihnen geschlafen. Auf diesen
eisenbeschlagenen Absätzen stand ich fest auf dem Trottoir; ich lief von einem
Ende der Stadt zum andern, ich hülle allenfalls die ganze Welt umkreist.
Meine Kleider durften das Wetter nicht scheuen, ich ging zu jeder Zeit aus,
und niemand merkte meine Verkleidung." Einige spaßhafte Anekdoten über
Mißverständnisse, die sich daraus ergaben, theilt sie selbst mit. In dieser Zeit
knüpfte sie mehre intime und bleibende Verhältnisse an. Ueber den Umfang
derselben spricht sie sich selbst aus. „Glaubt mir, das Herz ist weit genug,
um viele Neigungen zu Herbergen, und je zahlreicher, aufrichtiger und hinge¬
bender sie sind, desto mehr wird es an Kraft und Wärme wachsen. Seine
Natur ist göttlich, und wenn es zuweilen unter dem Gewicht der Enttäu¬
schungen erdrückt und erstorben scheint, so bezeigt grade die Tiefe dieses Leids
sein unsterbliches Leben. Habt daher keine Furcht, den Aufschwung des
Wohlwollens und der Sympathie auf das vollste zu empfinden, die süßen und
peinlichen Erregungen und Sorgen zu tragen, aber nebenbei errichtet noch den


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341580_100453/492>, abgerufen am 15.01.2025.