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Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, II. Semester. IV. Band.

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weigert, Wiedertäufer und Katholiken polizeilich ausgetrieben, und Kinder mit
Gendarmen getauft werden.

Wir befinden uns in der glücklichen Lage ihm sagen zu können, daß
dieses Theorem aufs äußerste zu verwerfen ist, und warum. In einem einigen
Reiche darf nur ein Regiment, eine Gewalt herrschen, und das ist die Staats¬
gewalt. Sie kann tyrannisch sein, sie laßt sich ändern; aber grundsätzlich zwei
Gewalten nebeneinander aufrichten, heißt jede kraftvolle Einheit von Grund
aus unmöglich machen. Das Spiel zwischen Hierarchie und Kaiserthum,
welches im Mittelalter Europa spaltete, würde sich in jedem Land und
Ländchen erneuern; es gilt hier das Christuswort: "ein zwiespältig Reich
muß zerfallen." Dieser aus dem staatlich-volksthümlichen Leben hergenom¬
mene Grund wird der Hierarchie zu allen Zeiten und mehr oder weniger
in allen Ländern einen Damm entgegensetzen. Etwas ganz Anderes ist eine
geläuterte, würdige Kirchenprariö, die verträgt sich mit dem einigen Volks¬
leben sehr wohl, ja hat dasselbe zu Zeiten ganz außerordentlich vertieft und ge¬
kräftigt, was tausende von Beispielen allein schon aus l?er Geschichte unsres
Volks beweisen.

Wie häßlich ist dagegen dies aus Herrschsucht, Vuchstabenglaubcn und
Gehässigkeit zusammengesetzte Zerrbild. Und Klicfath wagt seine Zeitdauer
nicht geringer zu bestimmen, als bis ans Ende der Welt; denn, behauptet er,
"man kann nicht einmal sagen, daß der Staat seinen prohibitiven und cor-
rectiven Charakter immer mehr daran geben müsse, je mehr wir uns zeitlich dem
Ende dieses Weltlaufs zu bewegen. Der Fortschritt in der Kirche Gottes
liegt lediglich auf der objectiven, nicht auf der subjectiven Seite, besteht nicht
darin, daß die Menschen in immer größeren Massen dem Evangelium gläubig
und dem Geiste Gottes gehorsam werden, was doch der Fall sein müßte, wenn
Gesetz und Staat je länger je mehr entbehrlich werden sollten. Im Gegentheil
findet in der Kirche, was die subjective Gläubigkeit und Gottseligkeit betrifft,
ein fortgehendes Ebben und Fluten statt, und grade die letzte Zeit vor der
Vollendung wird den bestimmtesten Weissagungen des Herrn zufolge in dieser
Beziehung vorzugsweise arm sein." Und die Vollendung am Ende wird sich
"nicht in geschichtlicher Weise der Entwicklung, sondern durch das dann wieder
Platz greifende Wunder machen." (S. 420.) So unverständlich und gleichgiltig
das den meisten sein mag, so unsittlich erscheint es bei näherer Erwägung.
Wird es doch nie besser, wozu arbeiten und hoffen und ringen wir dann, daß
das Gute "wachse, wirke, fromme!"

Hiermit haben unsre Leser ein Bild dessen, was viele neue Altlutheraner
hob und erstreben; und das Urtheil über ein Buch, von welchem V. v. Strauß,
der Verfasser der berüchtigten Briefe über Staatskunst bescheiden meinte, eS
enthalte allein mehr Geist und Tiefsinn, als alle Erzeugnisse der abgelaufenen


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weigert, Wiedertäufer und Katholiken polizeilich ausgetrieben, und Kinder mit
Gendarmen getauft werden.

Wir befinden uns in der glücklichen Lage ihm sagen zu können, daß
dieses Theorem aufs äußerste zu verwerfen ist, und warum. In einem einigen
Reiche darf nur ein Regiment, eine Gewalt herrschen, und das ist die Staats¬
gewalt. Sie kann tyrannisch sein, sie laßt sich ändern; aber grundsätzlich zwei
Gewalten nebeneinander aufrichten, heißt jede kraftvolle Einheit von Grund
aus unmöglich machen. Das Spiel zwischen Hierarchie und Kaiserthum,
welches im Mittelalter Europa spaltete, würde sich in jedem Land und
Ländchen erneuern; es gilt hier das Christuswort: „ein zwiespältig Reich
muß zerfallen." Dieser aus dem staatlich-volksthümlichen Leben hergenom¬
mene Grund wird der Hierarchie zu allen Zeiten und mehr oder weniger
in allen Ländern einen Damm entgegensetzen. Etwas ganz Anderes ist eine
geläuterte, würdige Kirchenprariö, die verträgt sich mit dem einigen Volks¬
leben sehr wohl, ja hat dasselbe zu Zeiten ganz außerordentlich vertieft und ge¬
kräftigt, was tausende von Beispielen allein schon aus l?er Geschichte unsres
Volks beweisen.

Wie häßlich ist dagegen dies aus Herrschsucht, Vuchstabenglaubcn und
Gehässigkeit zusammengesetzte Zerrbild. Und Klicfath wagt seine Zeitdauer
nicht geringer zu bestimmen, als bis ans Ende der Welt; denn, behauptet er,
„man kann nicht einmal sagen, daß der Staat seinen prohibitiven und cor-
rectiven Charakter immer mehr daran geben müsse, je mehr wir uns zeitlich dem
Ende dieses Weltlaufs zu bewegen. Der Fortschritt in der Kirche Gottes
liegt lediglich auf der objectiven, nicht auf der subjectiven Seite, besteht nicht
darin, daß die Menschen in immer größeren Massen dem Evangelium gläubig
und dem Geiste Gottes gehorsam werden, was doch der Fall sein müßte, wenn
Gesetz und Staat je länger je mehr entbehrlich werden sollten. Im Gegentheil
findet in der Kirche, was die subjective Gläubigkeit und Gottseligkeit betrifft,
ein fortgehendes Ebben und Fluten statt, und grade die letzte Zeit vor der
Vollendung wird den bestimmtesten Weissagungen des Herrn zufolge in dieser
Beziehung vorzugsweise arm sein." Und die Vollendung am Ende wird sich
»nicht in geschichtlicher Weise der Entwicklung, sondern durch das dann wieder
Platz greifende Wunder machen." (S. 420.) So unverständlich und gleichgiltig
das den meisten sein mag, so unsittlich erscheint es bei näherer Erwägung.
Wird es doch nie besser, wozu arbeiten und hoffen und ringen wir dann, daß
das Gute „wachse, wirke, fromme!"

Hiermit haben unsre Leser ein Bild dessen, was viele neue Altlutheraner
hob und erstreben; und das Urtheil über ein Buch, von welchem V. v. Strauß,
der Verfasser der berüchtigten Briefe über Staatskunst bescheiden meinte, eS
enthalte allein mehr Geist und Tiefsinn, als alle Erzeugnisse der abgelaufenen


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[0427] weigert, Wiedertäufer und Katholiken polizeilich ausgetrieben, und Kinder mit Gendarmen getauft werden. Wir befinden uns in der glücklichen Lage ihm sagen zu können, daß dieses Theorem aufs äußerste zu verwerfen ist, und warum. In einem einigen Reiche darf nur ein Regiment, eine Gewalt herrschen, und das ist die Staats¬ gewalt. Sie kann tyrannisch sein, sie laßt sich ändern; aber grundsätzlich zwei Gewalten nebeneinander aufrichten, heißt jede kraftvolle Einheit von Grund aus unmöglich machen. Das Spiel zwischen Hierarchie und Kaiserthum, welches im Mittelalter Europa spaltete, würde sich in jedem Land und Ländchen erneuern; es gilt hier das Christuswort: „ein zwiespältig Reich muß zerfallen." Dieser aus dem staatlich-volksthümlichen Leben hergenom¬ mene Grund wird der Hierarchie zu allen Zeiten und mehr oder weniger in allen Ländern einen Damm entgegensetzen. Etwas ganz Anderes ist eine geläuterte, würdige Kirchenprariö, die verträgt sich mit dem einigen Volks¬ leben sehr wohl, ja hat dasselbe zu Zeiten ganz außerordentlich vertieft und ge¬ kräftigt, was tausende von Beispielen allein schon aus l?er Geschichte unsres Volks beweisen. Wie häßlich ist dagegen dies aus Herrschsucht, Vuchstabenglaubcn und Gehässigkeit zusammengesetzte Zerrbild. Und Klicfath wagt seine Zeitdauer nicht geringer zu bestimmen, als bis ans Ende der Welt; denn, behauptet er, „man kann nicht einmal sagen, daß der Staat seinen prohibitiven und cor- rectiven Charakter immer mehr daran geben müsse, je mehr wir uns zeitlich dem Ende dieses Weltlaufs zu bewegen. Der Fortschritt in der Kirche Gottes liegt lediglich auf der objectiven, nicht auf der subjectiven Seite, besteht nicht darin, daß die Menschen in immer größeren Massen dem Evangelium gläubig und dem Geiste Gottes gehorsam werden, was doch der Fall sein müßte, wenn Gesetz und Staat je länger je mehr entbehrlich werden sollten. Im Gegentheil findet in der Kirche, was die subjective Gläubigkeit und Gottseligkeit betrifft, ein fortgehendes Ebben und Fluten statt, und grade die letzte Zeit vor der Vollendung wird den bestimmtesten Weissagungen des Herrn zufolge in dieser Beziehung vorzugsweise arm sein." Und die Vollendung am Ende wird sich »nicht in geschichtlicher Weise der Entwicklung, sondern durch das dann wieder Platz greifende Wunder machen." (S. 420.) So unverständlich und gleichgiltig das den meisten sein mag, so unsittlich erscheint es bei näherer Erwägung. Wird es doch nie besser, wozu arbeiten und hoffen und ringen wir dann, daß das Gute „wachse, wirke, fromme!" Hiermit haben unsre Leser ein Bild dessen, was viele neue Altlutheraner hob und erstreben; und das Urtheil über ein Buch, von welchem V. v. Strauß, der Verfasser der berüchtigten Briefe über Staatskunst bescheiden meinte, eS enthalte allein mehr Geist und Tiefsinn, als alle Erzeugnisse der abgelaufenen S3*

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341580_100453/427>, abgerufen am 22.07.2024.