Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, II. Semester. IV. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

und eine Sage behauptet sogar, daß sich an der Brücke bei Loid die Fahrzeuge
der Angelsachsen gesammelt haben, mit denen Hengist und Horsa Britannien
eroberten. Daß die An einst tiefer gewesen, ist wol nicht zu bestreiten, da die
Wälder, welche in frühern Jahrhunderten die Ebenen der hohen Geest bedeckten, die
Quellen reichlichernähren mußten. Weniger begreiflich ist es, daß die Eroberer
Englands sich in der Nähe der Quellen eines Stroms zusammengefunden ha¬
ben sollen, der sich in die Ostsee ergießt. Man reist nicht über Stettin, wenn
man von Leipzig aus Paris besuchen will, und wenn die Heerführer der
Angeln nicht von der Mündung der Treene oder Eider aufbrechen wollten
oder konnten und durchaus durch die gefahrvollen Belte mußten, so werden sie
ihrem Heere wenigstens den Ausfluß der toller An als Stelldichein bezeichnet
haben. Ueberhaupt aber sind Sagen, die auf so entfernte Ereignisse Hinmeisen,
verdächtiger Natur. Das Volk erinnert sich selten mit Klarheit an Dinge und
Menschen, die weiter als vier bis fünf Generationen zurückliegen, und wo
das Gegentheil stattzufinden scheint, haben gelehrte Einwirkungen die Wand¬
lungen, welche das Ursprüngliche erfahren, abgestreift.

Begründeter wahrscheinlich als diese Sage ist die Behauptung, das kleine
Spitzthürmchen der Kirche in Taarstedt, einem Dorfe etwas weiter flußabwärts,
erhebe sich auf der Stelle, wo einst eine Opferstätte des germanischen Gewitter¬
gottes gewesen sei. Die Nachbarschaft hat eine große Menge von Hühnen-
betten, welche darauf deuten können, daß die Gegend in der Urzeit eine be¬
sonders heilige gewesen sei, und überdies haben sich grade in Ortsnamen hier
zu Lande zahlreiche Erinnerungen an die alten Götter erhalten*).

Ob das folgende "Dörcher", das ich Ihnen,, um nicht zu viel Trauriges
in ein Capitel zusammenzuhäufen, statt meines Ausflugs nach Jostedt, heute
noch erzähle, wahr ist, kann ich nicht verbürgen. Ich denke aber, es wird
seinen Zweck, als heiteres Dessert und zugleich als Probe hierländischen Volks¬
witzes zu dienen, trotzdem erfüllen. Mehr vielleicht wie anderwärts haben die
hiesigen Dörfer im Volksbewußtsein eine bestimmte Physiognomie, bestimmte
Sprichwörter, die nur vor dem einzelnen gelten, und bestimmte Spitznamen,
die sich auf Eulenspiegeleien und Schildbürgerstreiche gründen. Das Platt¬
deutsche ist der Hanswurst des ganzen Sprachstammes. Der unsterbliche Till
ist in einem niederdeutschen Orte geboren und in einem andern begraben. So
hat der in den Landstrichen dieses Dialekts vorherrschende Humor auch mehr
als ein Dutzend Krähwinkel. Die Bauern in Jagel bei Schleswig mußten
sich beim Bau eines Gemeindehauses erst von einem Sperling belehren lassen,
daß man einem Balken nicht der Quer, sondern der Länge nehmen muß,



") An Thor mahnt noch Thorsbcck, an Wodan Wonsveck und Wonsild, an Balder Bö5ers-
lev, an Ziu oder Tiu Tiislund (der Hain Tiue), an Fro, den Spender des Eriittsegens. der
Name Froslev.

und eine Sage behauptet sogar, daß sich an der Brücke bei Loid die Fahrzeuge
der Angelsachsen gesammelt haben, mit denen Hengist und Horsa Britannien
eroberten. Daß die An einst tiefer gewesen, ist wol nicht zu bestreiten, da die
Wälder, welche in frühern Jahrhunderten die Ebenen der hohen Geest bedeckten, die
Quellen reichlichernähren mußten. Weniger begreiflich ist es, daß die Eroberer
Englands sich in der Nähe der Quellen eines Stroms zusammengefunden ha¬
ben sollen, der sich in die Ostsee ergießt. Man reist nicht über Stettin, wenn
man von Leipzig aus Paris besuchen will, und wenn die Heerführer der
Angeln nicht von der Mündung der Treene oder Eider aufbrechen wollten
oder konnten und durchaus durch die gefahrvollen Belte mußten, so werden sie
ihrem Heere wenigstens den Ausfluß der toller An als Stelldichein bezeichnet
haben. Ueberhaupt aber sind Sagen, die auf so entfernte Ereignisse Hinmeisen,
verdächtiger Natur. Das Volk erinnert sich selten mit Klarheit an Dinge und
Menschen, die weiter als vier bis fünf Generationen zurückliegen, und wo
das Gegentheil stattzufinden scheint, haben gelehrte Einwirkungen die Wand¬
lungen, welche das Ursprüngliche erfahren, abgestreift.

Begründeter wahrscheinlich als diese Sage ist die Behauptung, das kleine
Spitzthürmchen der Kirche in Taarstedt, einem Dorfe etwas weiter flußabwärts,
erhebe sich auf der Stelle, wo einst eine Opferstätte des germanischen Gewitter¬
gottes gewesen sei. Die Nachbarschaft hat eine große Menge von Hühnen-
betten, welche darauf deuten können, daß die Gegend in der Urzeit eine be¬
sonders heilige gewesen sei, und überdies haben sich grade in Ortsnamen hier
zu Lande zahlreiche Erinnerungen an die alten Götter erhalten*).

Ob das folgende „Dörcher", das ich Ihnen,, um nicht zu viel Trauriges
in ein Capitel zusammenzuhäufen, statt meines Ausflugs nach Jostedt, heute
noch erzähle, wahr ist, kann ich nicht verbürgen. Ich denke aber, es wird
seinen Zweck, als heiteres Dessert und zugleich als Probe hierländischen Volks¬
witzes zu dienen, trotzdem erfüllen. Mehr vielleicht wie anderwärts haben die
hiesigen Dörfer im Volksbewußtsein eine bestimmte Physiognomie, bestimmte
Sprichwörter, die nur vor dem einzelnen gelten, und bestimmte Spitznamen,
die sich auf Eulenspiegeleien und Schildbürgerstreiche gründen. Das Platt¬
deutsche ist der Hanswurst des ganzen Sprachstammes. Der unsterbliche Till
ist in einem niederdeutschen Orte geboren und in einem andern begraben. So
hat der in den Landstrichen dieses Dialekts vorherrschende Humor auch mehr
als ein Dutzend Krähwinkel. Die Bauern in Jagel bei Schleswig mußten
sich beim Bau eines Gemeindehauses erst von einem Sperling belehren lassen,
daß man einem Balken nicht der Quer, sondern der Länge nehmen muß,



") An Thor mahnt noch Thorsbcck, an Wodan Wonsveck und Wonsild, an Balder Bö5ers-
lev, an Ziu oder Tiu Tiislund (der Hain Tiue), an Fro, den Spender des Eriittsegens. der
Name Froslev.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <div n="2">
            <pb facs="#f0402" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/100856"/>
            <p xml:id="ID_1198" prev="#ID_1197"> und eine Sage behauptet sogar, daß sich an der Brücke bei Loid die Fahrzeuge<lb/>
der Angelsachsen gesammelt haben, mit denen Hengist und Horsa Britannien<lb/>
eroberten. Daß die An einst tiefer gewesen, ist wol nicht zu bestreiten, da die<lb/>
Wälder, welche in frühern Jahrhunderten die Ebenen der hohen Geest bedeckten, die<lb/>
Quellen reichlichernähren mußten. Weniger begreiflich ist es, daß die Eroberer<lb/>
Englands sich in der Nähe der Quellen eines Stroms zusammengefunden ha¬<lb/>
ben sollen, der sich in die Ostsee ergießt. Man reist nicht über Stettin, wenn<lb/>
man von Leipzig aus Paris besuchen will, und wenn die Heerführer der<lb/>
Angeln nicht von der Mündung der Treene oder Eider aufbrechen wollten<lb/>
oder konnten und durchaus durch die gefahrvollen Belte mußten, so werden sie<lb/>
ihrem Heere wenigstens den Ausfluß der toller An als Stelldichein bezeichnet<lb/>
haben. Ueberhaupt aber sind Sagen, die auf so entfernte Ereignisse Hinmeisen,<lb/>
verdächtiger Natur. Das Volk erinnert sich selten mit Klarheit an Dinge und<lb/>
Menschen, die weiter als vier bis fünf Generationen zurückliegen, und wo<lb/>
das Gegentheil stattzufinden scheint, haben gelehrte Einwirkungen die Wand¬<lb/>
lungen, welche das Ursprüngliche erfahren, abgestreift.</p><lb/>
            <p xml:id="ID_1199"> Begründeter wahrscheinlich als diese Sage ist die Behauptung, das kleine<lb/>
Spitzthürmchen der Kirche in Taarstedt, einem Dorfe etwas weiter flußabwärts,<lb/>
erhebe sich auf der Stelle, wo einst eine Opferstätte des germanischen Gewitter¬<lb/>
gottes gewesen sei. Die Nachbarschaft hat eine große Menge von Hühnen-<lb/>
betten, welche darauf deuten können, daß die Gegend in der Urzeit eine be¬<lb/>
sonders heilige gewesen sei, und überdies haben sich grade in Ortsnamen hier<lb/>
zu Lande zahlreiche Erinnerungen an die alten Götter erhalten*).</p><lb/>
            <p xml:id="ID_1200" next="#ID_1201"> Ob das folgende &#x201E;Dörcher", das ich Ihnen,, um nicht zu viel Trauriges<lb/>
in ein Capitel zusammenzuhäufen, statt meines Ausflugs nach Jostedt, heute<lb/>
noch erzähle, wahr ist, kann ich nicht verbürgen. Ich denke aber, es wird<lb/>
seinen Zweck, als heiteres Dessert und zugleich als Probe hierländischen Volks¬<lb/>
witzes zu dienen, trotzdem erfüllen. Mehr vielleicht wie anderwärts haben die<lb/>
hiesigen Dörfer im Volksbewußtsein eine bestimmte Physiognomie, bestimmte<lb/>
Sprichwörter, die nur vor dem einzelnen gelten, und bestimmte Spitznamen,<lb/>
die sich auf Eulenspiegeleien und Schildbürgerstreiche gründen. Das Platt¬<lb/>
deutsche ist der Hanswurst des ganzen Sprachstammes. Der unsterbliche Till<lb/>
ist in einem niederdeutschen Orte geboren und in einem andern begraben. So<lb/>
hat der in den Landstrichen dieses Dialekts vorherrschende Humor auch mehr<lb/>
als ein Dutzend Krähwinkel. Die Bauern in Jagel bei Schleswig mußten<lb/>
sich beim Bau eines Gemeindehauses erst von einem Sperling belehren lassen,<lb/>
daß man einem Balken nicht der Quer, sondern der Länge nehmen muß,</p><lb/>
            <note xml:id="FID_36" place="foot"> ") An Thor mahnt noch Thorsbcck, an Wodan Wonsveck und Wonsild, an Balder Bö5ers-<lb/>
lev, an Ziu oder Tiu Tiislund (der Hain Tiue), an Fro, den Spender des Eriittsegens. der<lb/>
Name Froslev.</note><lb/>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0402] und eine Sage behauptet sogar, daß sich an der Brücke bei Loid die Fahrzeuge der Angelsachsen gesammelt haben, mit denen Hengist und Horsa Britannien eroberten. Daß die An einst tiefer gewesen, ist wol nicht zu bestreiten, da die Wälder, welche in frühern Jahrhunderten die Ebenen der hohen Geest bedeckten, die Quellen reichlichernähren mußten. Weniger begreiflich ist es, daß die Eroberer Englands sich in der Nähe der Quellen eines Stroms zusammengefunden ha¬ ben sollen, der sich in die Ostsee ergießt. Man reist nicht über Stettin, wenn man von Leipzig aus Paris besuchen will, und wenn die Heerführer der Angeln nicht von der Mündung der Treene oder Eider aufbrechen wollten oder konnten und durchaus durch die gefahrvollen Belte mußten, so werden sie ihrem Heere wenigstens den Ausfluß der toller An als Stelldichein bezeichnet haben. Ueberhaupt aber sind Sagen, die auf so entfernte Ereignisse Hinmeisen, verdächtiger Natur. Das Volk erinnert sich selten mit Klarheit an Dinge und Menschen, die weiter als vier bis fünf Generationen zurückliegen, und wo das Gegentheil stattzufinden scheint, haben gelehrte Einwirkungen die Wand¬ lungen, welche das Ursprüngliche erfahren, abgestreift. Begründeter wahrscheinlich als diese Sage ist die Behauptung, das kleine Spitzthürmchen der Kirche in Taarstedt, einem Dorfe etwas weiter flußabwärts, erhebe sich auf der Stelle, wo einst eine Opferstätte des germanischen Gewitter¬ gottes gewesen sei. Die Nachbarschaft hat eine große Menge von Hühnen- betten, welche darauf deuten können, daß die Gegend in der Urzeit eine be¬ sonders heilige gewesen sei, und überdies haben sich grade in Ortsnamen hier zu Lande zahlreiche Erinnerungen an die alten Götter erhalten*). Ob das folgende „Dörcher", das ich Ihnen,, um nicht zu viel Trauriges in ein Capitel zusammenzuhäufen, statt meines Ausflugs nach Jostedt, heute noch erzähle, wahr ist, kann ich nicht verbürgen. Ich denke aber, es wird seinen Zweck, als heiteres Dessert und zugleich als Probe hierländischen Volks¬ witzes zu dienen, trotzdem erfüllen. Mehr vielleicht wie anderwärts haben die hiesigen Dörfer im Volksbewußtsein eine bestimmte Physiognomie, bestimmte Sprichwörter, die nur vor dem einzelnen gelten, und bestimmte Spitznamen, die sich auf Eulenspiegeleien und Schildbürgerstreiche gründen. Das Platt¬ deutsche ist der Hanswurst des ganzen Sprachstammes. Der unsterbliche Till ist in einem niederdeutschen Orte geboren und in einem andern begraben. So hat der in den Landstrichen dieses Dialekts vorherrschende Humor auch mehr als ein Dutzend Krähwinkel. Die Bauern in Jagel bei Schleswig mußten sich beim Bau eines Gemeindehauses erst von einem Sperling belehren lassen, daß man einem Balken nicht der Quer, sondern der Länge nehmen muß, ") An Thor mahnt noch Thorsbcck, an Wodan Wonsveck und Wonsild, an Balder Bö5ers- lev, an Ziu oder Tiu Tiislund (der Hain Tiue), an Fro, den Spender des Eriittsegens. der Name Froslev.

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341580_100453
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341580_100453/402
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341580_100453/402>, abgerufen am 03.10.2024.