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Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, II. Semester. IV. Band.

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Grundlagen musikalischer Bildung für diese Gattung sind. In den Ouvertüren
herrscht eine weniger strenge Richtung und es gelangt manches zur Aufführung,
was für die Bühne seinen Werth haben mag, aber für das Concert nicht genug
Feinheit der Erfindung und Ausführung besitzt, z. B. Spontinis Ouvertüre
zum Cortez. Auch manche Ouvertüren von Mendelssohn, selbst Webers Ou¬
vertüren bestehen nicht die strenge Probe. Der letzte Winter war auch für die Sym-
phoniesoireen reicher an Neuigkeiten, als gewöhnlich. Schon am-Anfang kam die
seit drei Jahren nicht gehörte neunte Symphonie von 600 Sängern zur Auffüh¬
rung. Die Ausführung war keine ganz vollendete, die Klangwirkung nicht sehr
mächtig; an der Wahl der Tempi ließ sich einzelnes aussetzen, aber es liegt'
hier noch vieles im Zweifel, nicht leicht darf sich eine subjective Auffassung
mit zu großer Zuversichtlichkeit hervordrängen. Schuberts eäur Symphonie,
erst einmal früher von der Kapelle aufgeführt, wurde ebenfalls wiederholt,
vermochte aber nicht, sich viele Freunde zu erwerben. Die Mängel, an denen
Schuberts Jnstrumentalcompositionen meistens leiden, das etwas weichliche
Streben zum Breiten, Auseinanderfaltenden, die geringe thematische Entwicklung,
die Wiederholungen treten auch hier hervor, doch ist das Werk so phantasie¬
reich und liebenswürdig, daß es zu genauerer Bekanntschaft reizt und wir
möchten nicht, daß man es ganz bei Seite legte. Gades L"tur Symphonie
kam zum ersten Mal zur Aufführung, ein Werk, das mit seiner Glut und salon¬
mäßigen Zärtlichkeit vom Publicum nicht schlecht ausgenommen wurde, aber
zu unkräftig, zu wenig originell in der Erfindung war, um tiefern Eindruck
hervorzubringen. Der Dirigent der Symphonieconcerte, Kapellmeister Taubert,
brachte ziemlich am Schluß derselben eine neue Symphonie aus Omoll zur
Aufführung. Die ersten Sätze, namentlich der erste und der dritte, haben
zwar keine Größe der Erfindung, enthalten aber zierliche Gedanken und sind
nicht ohne Geschick in der Ausarbeitung. Das Andante war uns zu süß;
hätte indeß der letzte Satz, in dem der Componist, wie es scheint, größeres
erstrebte, aber nur ein unruhiges Ringen verrieth, sich dem frühern gleich ge¬
halten, so würde die Symphonie eine gute Aufnahme gefunden haben. Unter
den neuen Ouvertüren, die zur Aufführung kamen, nennen wir zuerst die zum
Tannhäuser. Freunde Wagners behaupten, sie sei von den Ausführenden
unrichtig aufgefaßt worden und habe deshalb nicht gefallen können. Thatsache
ist, daß sie nicht auf jedermann gleichen Eindruck gemacht hat. -- Außer
der Ouvertüre zum Tannhäuser kamen noch die Lustspielouvertüre von Nietz, eine
geschickt gearbeitete, phantastisch heitere Composition, die wir uns als Vor¬
bereitung zu einem Shakespearelustspiel wol denken könnten, mit dem Vor¬
behalt indeß, daß Mendelssohn bedeutenderes in demselben Genre geleistet hat,
und eine Ouvertüre zu Marie Stuart von Georg Vierung zur Aufführung;
letztere ein seinem Inhalt nach ernstes Werk von strenger Form, das sich, ohne


Grundlagen musikalischer Bildung für diese Gattung sind. In den Ouvertüren
herrscht eine weniger strenge Richtung und es gelangt manches zur Aufführung,
was für die Bühne seinen Werth haben mag, aber für das Concert nicht genug
Feinheit der Erfindung und Ausführung besitzt, z. B. Spontinis Ouvertüre
zum Cortez. Auch manche Ouvertüren von Mendelssohn, selbst Webers Ou¬
vertüren bestehen nicht die strenge Probe. Der letzte Winter war auch für die Sym-
phoniesoireen reicher an Neuigkeiten, als gewöhnlich. Schon am-Anfang kam die
seit drei Jahren nicht gehörte neunte Symphonie von 600 Sängern zur Auffüh¬
rung. Die Ausführung war keine ganz vollendete, die Klangwirkung nicht sehr
mächtig; an der Wahl der Tempi ließ sich einzelnes aussetzen, aber es liegt'
hier noch vieles im Zweifel, nicht leicht darf sich eine subjective Auffassung
mit zu großer Zuversichtlichkeit hervordrängen. Schuberts eäur Symphonie,
erst einmal früher von der Kapelle aufgeführt, wurde ebenfalls wiederholt,
vermochte aber nicht, sich viele Freunde zu erwerben. Die Mängel, an denen
Schuberts Jnstrumentalcompositionen meistens leiden, das etwas weichliche
Streben zum Breiten, Auseinanderfaltenden, die geringe thematische Entwicklung,
die Wiederholungen treten auch hier hervor, doch ist das Werk so phantasie¬
reich und liebenswürdig, daß es zu genauerer Bekanntschaft reizt und wir
möchten nicht, daß man es ganz bei Seite legte. Gades L«tur Symphonie
kam zum ersten Mal zur Aufführung, ein Werk, das mit seiner Glut und salon¬
mäßigen Zärtlichkeit vom Publicum nicht schlecht ausgenommen wurde, aber
zu unkräftig, zu wenig originell in der Erfindung war, um tiefern Eindruck
hervorzubringen. Der Dirigent der Symphonieconcerte, Kapellmeister Taubert,
brachte ziemlich am Schluß derselben eine neue Symphonie aus Omoll zur
Aufführung. Die ersten Sätze, namentlich der erste und der dritte, haben
zwar keine Größe der Erfindung, enthalten aber zierliche Gedanken und sind
nicht ohne Geschick in der Ausarbeitung. Das Andante war uns zu süß;
hätte indeß der letzte Satz, in dem der Componist, wie es scheint, größeres
erstrebte, aber nur ein unruhiges Ringen verrieth, sich dem frühern gleich ge¬
halten, so würde die Symphonie eine gute Aufnahme gefunden haben. Unter
den neuen Ouvertüren, die zur Aufführung kamen, nennen wir zuerst die zum
Tannhäuser. Freunde Wagners behaupten, sie sei von den Ausführenden
unrichtig aufgefaßt worden und habe deshalb nicht gefallen können. Thatsache
ist, daß sie nicht auf jedermann gleichen Eindruck gemacht hat. — Außer
der Ouvertüre zum Tannhäuser kamen noch die Lustspielouvertüre von Nietz, eine
geschickt gearbeitete, phantastisch heitere Composition, die wir uns als Vor¬
bereitung zu einem Shakespearelustspiel wol denken könnten, mit dem Vor¬
behalt indeß, daß Mendelssohn bedeutenderes in demselben Genre geleistet hat,
und eine Ouvertüre zu Marie Stuart von Georg Vierung zur Aufführung;
letztere ein seinem Inhalt nach ernstes Werk von strenger Form, das sich, ohne


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[0038] Grundlagen musikalischer Bildung für diese Gattung sind. In den Ouvertüren herrscht eine weniger strenge Richtung und es gelangt manches zur Aufführung, was für die Bühne seinen Werth haben mag, aber für das Concert nicht genug Feinheit der Erfindung und Ausführung besitzt, z. B. Spontinis Ouvertüre zum Cortez. Auch manche Ouvertüren von Mendelssohn, selbst Webers Ou¬ vertüren bestehen nicht die strenge Probe. Der letzte Winter war auch für die Sym- phoniesoireen reicher an Neuigkeiten, als gewöhnlich. Schon am-Anfang kam die seit drei Jahren nicht gehörte neunte Symphonie von 600 Sängern zur Auffüh¬ rung. Die Ausführung war keine ganz vollendete, die Klangwirkung nicht sehr mächtig; an der Wahl der Tempi ließ sich einzelnes aussetzen, aber es liegt' hier noch vieles im Zweifel, nicht leicht darf sich eine subjective Auffassung mit zu großer Zuversichtlichkeit hervordrängen. Schuberts eäur Symphonie, erst einmal früher von der Kapelle aufgeführt, wurde ebenfalls wiederholt, vermochte aber nicht, sich viele Freunde zu erwerben. Die Mängel, an denen Schuberts Jnstrumentalcompositionen meistens leiden, das etwas weichliche Streben zum Breiten, Auseinanderfaltenden, die geringe thematische Entwicklung, die Wiederholungen treten auch hier hervor, doch ist das Werk so phantasie¬ reich und liebenswürdig, daß es zu genauerer Bekanntschaft reizt und wir möchten nicht, daß man es ganz bei Seite legte. Gades L«tur Symphonie kam zum ersten Mal zur Aufführung, ein Werk, das mit seiner Glut und salon¬ mäßigen Zärtlichkeit vom Publicum nicht schlecht ausgenommen wurde, aber zu unkräftig, zu wenig originell in der Erfindung war, um tiefern Eindruck hervorzubringen. Der Dirigent der Symphonieconcerte, Kapellmeister Taubert, brachte ziemlich am Schluß derselben eine neue Symphonie aus Omoll zur Aufführung. Die ersten Sätze, namentlich der erste und der dritte, haben zwar keine Größe der Erfindung, enthalten aber zierliche Gedanken und sind nicht ohne Geschick in der Ausarbeitung. Das Andante war uns zu süß; hätte indeß der letzte Satz, in dem der Componist, wie es scheint, größeres erstrebte, aber nur ein unruhiges Ringen verrieth, sich dem frühern gleich ge¬ halten, so würde die Symphonie eine gute Aufnahme gefunden haben. Unter den neuen Ouvertüren, die zur Aufführung kamen, nennen wir zuerst die zum Tannhäuser. Freunde Wagners behaupten, sie sei von den Ausführenden unrichtig aufgefaßt worden und habe deshalb nicht gefallen können. Thatsache ist, daß sie nicht auf jedermann gleichen Eindruck gemacht hat. — Außer der Ouvertüre zum Tannhäuser kamen noch die Lustspielouvertüre von Nietz, eine geschickt gearbeitete, phantastisch heitere Composition, die wir uns als Vor¬ bereitung zu einem Shakespearelustspiel wol denken könnten, mit dem Vor¬ behalt indeß, daß Mendelssohn bedeutenderes in demselben Genre geleistet hat, und eine Ouvertüre zu Marie Stuart von Georg Vierung zur Aufführung; letztere ein seinem Inhalt nach ernstes Werk von strenger Form, das sich, ohne

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341580_100453/38>, abgerufen am 24.08.2024.