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Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, II. Semester. IV. Band.

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Messiade den vossischen Homer vor; so lockerten Goethes Oktaven den Boden
für den Ariost und Tasso von Gries; Herders Trochäen für den Deutschen
Calderon; Chamissos Terzinen für den deutschen Dante; Lessings, Schillers
und Goethes fünffüßige Jamben für den deutschen Shakespeare. Und es dürfte
ein Hauptgrund für die Kälte des Publicums gegen gewisse Nachbildungen,
z. B. des Childe Harold und des Pindar sein, daß deren Form nicht vorher
in Originaldichtungen popularistrt wurde; es würden dann ja auch die Ueber¬
setzer selbst glücklicher gewesen sein, wenn sie die Umbildung der Speuserstanze oder
der chorlyrischen Strophe in deutsches Entsprechendes bereits vorgefunden hätten.
An der Möglichkeit eines deutschen Gegenbildes der letztern zweifle ich nicht.
Was ein deutscher Mund lesen kann, was ein deutsches Ohr als schön empfin¬
den, wofür ein deutsches Herz sich begeistern kann, davon kann es auch einen
sinnlichen Abdruck in seiner Sprache gestalten. Die mißtönenden Laute und
Maße des semitischen Stammes dagegen werden ihm nie zusagen und es
wird wol ein Naturgesetz sein, wenn es sich in Hinsicht der sprachlichen
Physik aus seine indogermanischen Schwesterherzen beschränken muß. Rückert,
der mit bezaubernder Schlauheit in der Gita-Jovinda den Windungen der in¬
dischen Lyrik nachgeschlichen ist, hat sich wol gehütet, das Taon oder Basel
des Hariri mit seiner molossischen Schwerfüßigkeit nachzuahmen. Die Schwierig¬
keiten der Uebertragung liegen aber hauptsächlich in der Eigenthümlichkeit der
Originale selbst. Was der Zeit nach entlegen ist, wie das heidnische Alterthum der
classischen, nordischen oder indischen Völker, oder die scholastisch-theologische Welt
deS Dante, ja selbst die biblische des Milton, das erfordert eine Menge Voraus¬
setzungen, um verstanden zu werden, während alles, was innerhalb des Ge¬
biets der neuern Weltanschauug liegt, derselben minder bedarf. Auch je ferner
uns eine Nation immer gestanden hat, um desto schwerer können wir ihre Dich¬
tung verstehen; ein chinesisches.Drama würde wol kaum Glück machen.

Ferner ist der große Unterschied der Zugänglichkeit nach den verschiedenen
Dichtungsarten zu berücksichtigen. Der gemächliche Fluß der epischen Er¬
zählung, die klarere Entfaltung der dramatischen Handlung, alles überhaupt,
was ein stofflich fortschreitendes Interesse erweckt, ist leichter^wiederzugeben, als
die in der Tiefe d^s individuellen Geistes keimende Lyrik und in ihr wieder am
leichtesten die halbepische Ballade; demnächst auch alles, waS Volkslied heißt
und ans Volkslied streift. Denn Epos, Drama und Ballade haben das Ge¬
meinsame, daß sie in läßlicheren Formen sich bewegen und mit denselben we¬
niger innig verwebt sind, so daß auch der schöne Inhalt als> solcher wirken
kann'? wie z. B. die beckerschen Erzählungen aus der alten Welt und manche
gute Prosaromane und Sagenbücher beweisen; und bei dem Volkslied
kommt sowol die ebenfalls bequeme Form, als auch ein gewisser Geheimbund
hinzu, wodurch sich alle Volksgeister untereinander verstehen. Es sind eben


Messiade den vossischen Homer vor; so lockerten Goethes Oktaven den Boden
für den Ariost und Tasso von Gries; Herders Trochäen für den Deutschen
Calderon; Chamissos Terzinen für den deutschen Dante; Lessings, Schillers
und Goethes fünffüßige Jamben für den deutschen Shakespeare. Und es dürfte
ein Hauptgrund für die Kälte des Publicums gegen gewisse Nachbildungen,
z. B. des Childe Harold und des Pindar sein, daß deren Form nicht vorher
in Originaldichtungen popularistrt wurde; es würden dann ja auch die Ueber¬
setzer selbst glücklicher gewesen sein, wenn sie die Umbildung der Speuserstanze oder
der chorlyrischen Strophe in deutsches Entsprechendes bereits vorgefunden hätten.
An der Möglichkeit eines deutschen Gegenbildes der letztern zweifle ich nicht.
Was ein deutscher Mund lesen kann, was ein deutsches Ohr als schön empfin¬
den, wofür ein deutsches Herz sich begeistern kann, davon kann es auch einen
sinnlichen Abdruck in seiner Sprache gestalten. Die mißtönenden Laute und
Maße des semitischen Stammes dagegen werden ihm nie zusagen und es
wird wol ein Naturgesetz sein, wenn es sich in Hinsicht der sprachlichen
Physik aus seine indogermanischen Schwesterherzen beschränken muß. Rückert,
der mit bezaubernder Schlauheit in der Gita-Jovinda den Windungen der in¬
dischen Lyrik nachgeschlichen ist, hat sich wol gehütet, das Taon oder Basel
des Hariri mit seiner molossischen Schwerfüßigkeit nachzuahmen. Die Schwierig¬
keiten der Uebertragung liegen aber hauptsächlich in der Eigenthümlichkeit der
Originale selbst. Was der Zeit nach entlegen ist, wie das heidnische Alterthum der
classischen, nordischen oder indischen Völker, oder die scholastisch-theologische Welt
deS Dante, ja selbst die biblische des Milton, das erfordert eine Menge Voraus¬
setzungen, um verstanden zu werden, während alles, was innerhalb des Ge¬
biets der neuern Weltanschauug liegt, derselben minder bedarf. Auch je ferner
uns eine Nation immer gestanden hat, um desto schwerer können wir ihre Dich¬
tung verstehen; ein chinesisches.Drama würde wol kaum Glück machen.

Ferner ist der große Unterschied der Zugänglichkeit nach den verschiedenen
Dichtungsarten zu berücksichtigen. Der gemächliche Fluß der epischen Er¬
zählung, die klarere Entfaltung der dramatischen Handlung, alles überhaupt,
was ein stofflich fortschreitendes Interesse erweckt, ist leichter^wiederzugeben, als
die in der Tiefe d^s individuellen Geistes keimende Lyrik und in ihr wieder am
leichtesten die halbepische Ballade; demnächst auch alles, waS Volkslied heißt
und ans Volkslied streift. Denn Epos, Drama und Ballade haben das Ge¬
meinsame, daß sie in läßlicheren Formen sich bewegen und mit denselben we¬
niger innig verwebt sind, so daß auch der schöne Inhalt als> solcher wirken
kann'? wie z. B. die beckerschen Erzählungen aus der alten Welt und manche
gute Prosaromane und Sagenbücher beweisen; und bei dem Volkslied
kommt sowol die ebenfalls bequeme Form, als auch ein gewisser Geheimbund
hinzu, wodurch sich alle Volksgeister untereinander verstehen. Es sind eben


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[0375] Messiade den vossischen Homer vor; so lockerten Goethes Oktaven den Boden für den Ariost und Tasso von Gries; Herders Trochäen für den Deutschen Calderon; Chamissos Terzinen für den deutschen Dante; Lessings, Schillers und Goethes fünffüßige Jamben für den deutschen Shakespeare. Und es dürfte ein Hauptgrund für die Kälte des Publicums gegen gewisse Nachbildungen, z. B. des Childe Harold und des Pindar sein, daß deren Form nicht vorher in Originaldichtungen popularistrt wurde; es würden dann ja auch die Ueber¬ setzer selbst glücklicher gewesen sein, wenn sie die Umbildung der Speuserstanze oder der chorlyrischen Strophe in deutsches Entsprechendes bereits vorgefunden hätten. An der Möglichkeit eines deutschen Gegenbildes der letztern zweifle ich nicht. Was ein deutscher Mund lesen kann, was ein deutsches Ohr als schön empfin¬ den, wofür ein deutsches Herz sich begeistern kann, davon kann es auch einen sinnlichen Abdruck in seiner Sprache gestalten. Die mißtönenden Laute und Maße des semitischen Stammes dagegen werden ihm nie zusagen und es wird wol ein Naturgesetz sein, wenn es sich in Hinsicht der sprachlichen Physik aus seine indogermanischen Schwesterherzen beschränken muß. Rückert, der mit bezaubernder Schlauheit in der Gita-Jovinda den Windungen der in¬ dischen Lyrik nachgeschlichen ist, hat sich wol gehütet, das Taon oder Basel des Hariri mit seiner molossischen Schwerfüßigkeit nachzuahmen. Die Schwierig¬ keiten der Uebertragung liegen aber hauptsächlich in der Eigenthümlichkeit der Originale selbst. Was der Zeit nach entlegen ist, wie das heidnische Alterthum der classischen, nordischen oder indischen Völker, oder die scholastisch-theologische Welt deS Dante, ja selbst die biblische des Milton, das erfordert eine Menge Voraus¬ setzungen, um verstanden zu werden, während alles, was innerhalb des Ge¬ biets der neuern Weltanschauug liegt, derselben minder bedarf. Auch je ferner uns eine Nation immer gestanden hat, um desto schwerer können wir ihre Dich¬ tung verstehen; ein chinesisches.Drama würde wol kaum Glück machen. Ferner ist der große Unterschied der Zugänglichkeit nach den verschiedenen Dichtungsarten zu berücksichtigen. Der gemächliche Fluß der epischen Er¬ zählung, die klarere Entfaltung der dramatischen Handlung, alles überhaupt, was ein stofflich fortschreitendes Interesse erweckt, ist leichter^wiederzugeben, als die in der Tiefe d^s individuellen Geistes keimende Lyrik und in ihr wieder am leichtesten die halbepische Ballade; demnächst auch alles, waS Volkslied heißt und ans Volkslied streift. Denn Epos, Drama und Ballade haben das Ge¬ meinsame, daß sie in läßlicheren Formen sich bewegen und mit denselben we¬ niger innig verwebt sind, so daß auch der schöne Inhalt als> solcher wirken kann'? wie z. B. die beckerschen Erzählungen aus der alten Welt und manche gute Prosaromane und Sagenbücher beweisen; und bei dem Volkslied kommt sowol die ebenfalls bequeme Form, als auch ein gewisser Geheimbund hinzu, wodurch sich alle Volksgeister untereinander verstehen. Es sind eben

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341580_100453/375>, abgerufen am 26.08.2024.