Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, II. Semester. IV. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

eigenthümliche Gewandtheit des weiblichen Wesens, in ver Form namentlich,
wie das gesellige Leben sie uns kennen lehrt, besitzt sie unter unsren Sänge¬
rinnen am meisten. Dies ist das Bleibende an ihr. Von der lieblichen Frische
der Stimme, von der musikalischen Vollkommenheit der Ausführung -- Frau
H. T. gehört unter unsern Opernsängerinnen zu den vorzugsweise mit musikali¬
schen Talent begabten -- ist manches verschwunden; aber diese höhere, geistige
Eigenschaft erfreut uns noch immer an ihr und gibt ihr eine bestimmte Stel¬
lung auf dem Gebiet des Dramas.

Unsre drei ersten Sängerinnen vertreten die verschiedenen Seiten dieses
Fachs in einer so entsprechenden Weise, daß insofern die berliner Oper in
Deutschland gegenwärtig wol die erste Stelle einnehmen dürfte, obschon Dres¬
den in der Frau Büret eine Sängerin von glänzenderen Stimmeigenschaften
und Wien in Frl. Tietjenö eine Anfängerin zwar, aber eine mit höchst lieb¬
lichem, frischem Organ und guter Technik besitzt. Dennoch wird in kurzem
ein Ersatz nöthig sein, wenn Berlin den Vorzug behaupten will. Ueberdies ist
von jeher die Zahl derer gering gewesen, welche die Oper ausschließlich der
guten Musik wegen besuchen; Sänger und namentlich Sängerinnen waren
stets -- früher vielleicht noch mehr als jetzt -- der stärkste Magnet. Die
Massen sind nur für das Persönliche empfänglich; um sich für etwas Objec¬
tives, Allgemeines zu erwärmen, dazu gehört schon ein höherer Grad der
Bildung. Die äußere Nothwendigkeit führt daher zur besonderen Umsicht im
Engagement junger, talentbegabter Sängerinnen. -- Unsre zweiten Sängerin¬
nen, Frl. Trietsch und Frau Bötticher, die nicht selten auch Rollen ersten
Rangs übernehmen, haben, rein musikalisch betrachtet, recht gute Eigenschaften,
denen aber die höhere geistige Weihe fehlt. Größere Bildsamkeit hat
Frl. Trietsch bewiesen; doch besitzt auch sie nicht jene geistige Modulationsfähigkeit
des an sich wohlklingenden Organs, die uns poetisch und dramatisch erwärmt. In
ernsten Rollen vermag sie sich nicht zu der Energie zu erheben, die uns an die
Wahrheit der Sache glauben läßt; im heitern Fach -- sie gibt z. B. Aermchen
im Freischütz, Zerline im Don Juan -- fehlt es ihr noch an Feinheit und
Grazie. Frau Bötticher hat eine schöne, aber sehr unbiegsame Stimme. Ihr
Repertoir enthält zwei sehr wichtige Rollen, die Moire im Don Juan und
den Pagen in Figaro, für deren Darstellung mehr Feuer, Weichheit, Zartheit
und Geist.nothwendig wäre.

Am schlimmsten ist es gegenwärtig mit den Tenoren bestellt. Martius, der
sein fünfundzwanzigjähriges Jubiläum als Mitglied der Oper gefeiert hat und
dessen Stimmmittel auch in seiner besten Zeit für die großen Dimensionen des Hau¬
ses nur eben ausreichten, ist begreiflicherweise denselben jetzt noch viel weniger ge¬
wachsen. In den wenigen Rollen von Bedeutung, die er noch gibt (Octavio,
Pylades, Florestan), treten zwar immer noch Einzelnheiten hervor, in denen der


eigenthümliche Gewandtheit des weiblichen Wesens, in ver Form namentlich,
wie das gesellige Leben sie uns kennen lehrt, besitzt sie unter unsren Sänge¬
rinnen am meisten. Dies ist das Bleibende an ihr. Von der lieblichen Frische
der Stimme, von der musikalischen Vollkommenheit der Ausführung — Frau
H. T. gehört unter unsern Opernsängerinnen zu den vorzugsweise mit musikali¬
schen Talent begabten — ist manches verschwunden; aber diese höhere, geistige
Eigenschaft erfreut uns noch immer an ihr und gibt ihr eine bestimmte Stel¬
lung auf dem Gebiet des Dramas.

Unsre drei ersten Sängerinnen vertreten die verschiedenen Seiten dieses
Fachs in einer so entsprechenden Weise, daß insofern die berliner Oper in
Deutschland gegenwärtig wol die erste Stelle einnehmen dürfte, obschon Dres¬
den in der Frau Büret eine Sängerin von glänzenderen Stimmeigenschaften
und Wien in Frl. Tietjenö eine Anfängerin zwar, aber eine mit höchst lieb¬
lichem, frischem Organ und guter Technik besitzt. Dennoch wird in kurzem
ein Ersatz nöthig sein, wenn Berlin den Vorzug behaupten will. Ueberdies ist
von jeher die Zahl derer gering gewesen, welche die Oper ausschließlich der
guten Musik wegen besuchen; Sänger und namentlich Sängerinnen waren
stets — früher vielleicht noch mehr als jetzt — der stärkste Magnet. Die
Massen sind nur für das Persönliche empfänglich; um sich für etwas Objec¬
tives, Allgemeines zu erwärmen, dazu gehört schon ein höherer Grad der
Bildung. Die äußere Nothwendigkeit führt daher zur besonderen Umsicht im
Engagement junger, talentbegabter Sängerinnen. — Unsre zweiten Sängerin¬
nen, Frl. Trietsch und Frau Bötticher, die nicht selten auch Rollen ersten
Rangs übernehmen, haben, rein musikalisch betrachtet, recht gute Eigenschaften,
denen aber die höhere geistige Weihe fehlt. Größere Bildsamkeit hat
Frl. Trietsch bewiesen; doch besitzt auch sie nicht jene geistige Modulationsfähigkeit
des an sich wohlklingenden Organs, die uns poetisch und dramatisch erwärmt. In
ernsten Rollen vermag sie sich nicht zu der Energie zu erheben, die uns an die
Wahrheit der Sache glauben läßt; im heitern Fach — sie gibt z. B. Aermchen
im Freischütz, Zerline im Don Juan — fehlt es ihr noch an Feinheit und
Grazie. Frau Bötticher hat eine schöne, aber sehr unbiegsame Stimme. Ihr
Repertoir enthält zwei sehr wichtige Rollen, die Moire im Don Juan und
den Pagen in Figaro, für deren Darstellung mehr Feuer, Weichheit, Zartheit
und Geist.nothwendig wäre.

Am schlimmsten ist es gegenwärtig mit den Tenoren bestellt. Martius, der
sein fünfundzwanzigjähriges Jubiläum als Mitglied der Oper gefeiert hat und
dessen Stimmmittel auch in seiner besten Zeit für die großen Dimensionen des Hau¬
ses nur eben ausreichten, ist begreiflicherweise denselben jetzt noch viel weniger ge¬
wachsen. In den wenigen Rollen von Bedeutung, die er noch gibt (Octavio,
Pylades, Florestan), treten zwar immer noch Einzelnheiten hervor, in denen der


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <div n="2">
            <pb facs="#f0032" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/100486"/>
            <p xml:id="ID_77" prev="#ID_76"> eigenthümliche Gewandtheit des weiblichen Wesens, in ver Form namentlich,<lb/>
wie das gesellige Leben sie uns kennen lehrt, besitzt sie unter unsren Sänge¬<lb/>
rinnen am meisten. Dies ist das Bleibende an ihr. Von der lieblichen Frische<lb/>
der Stimme, von der musikalischen Vollkommenheit der Ausführung &#x2014; Frau<lb/>
H. T. gehört unter unsern Opernsängerinnen zu den vorzugsweise mit musikali¬<lb/>
schen Talent begabten &#x2014; ist manches verschwunden; aber diese höhere, geistige<lb/>
Eigenschaft erfreut uns noch immer an ihr und gibt ihr eine bestimmte Stel¬<lb/>
lung auf dem Gebiet des Dramas.</p><lb/>
            <p xml:id="ID_78"> Unsre drei ersten Sängerinnen vertreten die verschiedenen Seiten dieses<lb/>
Fachs in einer so entsprechenden Weise, daß insofern die berliner Oper in<lb/>
Deutschland gegenwärtig wol die erste Stelle einnehmen dürfte, obschon Dres¬<lb/>
den in der Frau Büret eine Sängerin von glänzenderen Stimmeigenschaften<lb/>
und Wien in Frl. Tietjenö eine Anfängerin zwar, aber eine mit höchst lieb¬<lb/>
lichem, frischem Organ und guter Technik besitzt. Dennoch wird in kurzem<lb/>
ein Ersatz nöthig sein, wenn Berlin den Vorzug behaupten will. Ueberdies ist<lb/>
von jeher die Zahl derer gering gewesen, welche die Oper ausschließlich der<lb/>
guten Musik wegen besuchen; Sänger und namentlich Sängerinnen waren<lb/>
stets &#x2014; früher vielleicht noch mehr als jetzt &#x2014; der stärkste Magnet. Die<lb/>
Massen sind nur für das Persönliche empfänglich; um sich für etwas Objec¬<lb/>
tives, Allgemeines zu erwärmen, dazu gehört schon ein höherer Grad der<lb/>
Bildung. Die äußere Nothwendigkeit führt daher zur besonderen Umsicht im<lb/>
Engagement junger, talentbegabter Sängerinnen. &#x2014; Unsre zweiten Sängerin¬<lb/>
nen, Frl. Trietsch und Frau Bötticher, die nicht selten auch Rollen ersten<lb/>
Rangs übernehmen, haben, rein musikalisch betrachtet, recht gute Eigenschaften,<lb/>
denen aber die höhere geistige Weihe fehlt. Größere Bildsamkeit hat<lb/>
Frl. Trietsch bewiesen; doch besitzt auch sie nicht jene geistige Modulationsfähigkeit<lb/>
des an sich wohlklingenden Organs, die uns poetisch und dramatisch erwärmt. In<lb/>
ernsten Rollen vermag sie sich nicht zu der Energie zu erheben, die uns an die<lb/>
Wahrheit der Sache glauben läßt; im heitern Fach &#x2014; sie gibt z. B. Aermchen<lb/>
im Freischütz, Zerline im Don Juan &#x2014; fehlt es ihr noch an Feinheit und<lb/>
Grazie. Frau Bötticher hat eine schöne, aber sehr unbiegsame Stimme. Ihr<lb/>
Repertoir enthält zwei sehr wichtige Rollen, die Moire im Don Juan und<lb/>
den Pagen in Figaro, für deren Darstellung mehr Feuer, Weichheit, Zartheit<lb/>
und Geist.nothwendig wäre.</p><lb/>
            <p xml:id="ID_79" next="#ID_80"> Am schlimmsten ist es gegenwärtig mit den Tenoren bestellt. Martius, der<lb/>
sein fünfundzwanzigjähriges Jubiläum als Mitglied der Oper gefeiert hat und<lb/>
dessen Stimmmittel auch in seiner besten Zeit für die großen Dimensionen des Hau¬<lb/>
ses nur eben ausreichten, ist begreiflicherweise denselben jetzt noch viel weniger ge¬<lb/>
wachsen. In den wenigen Rollen von Bedeutung, die er noch gibt (Octavio,<lb/>
Pylades, Florestan), treten zwar immer noch Einzelnheiten hervor, in denen der</p><lb/>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0032] eigenthümliche Gewandtheit des weiblichen Wesens, in ver Form namentlich, wie das gesellige Leben sie uns kennen lehrt, besitzt sie unter unsren Sänge¬ rinnen am meisten. Dies ist das Bleibende an ihr. Von der lieblichen Frische der Stimme, von der musikalischen Vollkommenheit der Ausführung — Frau H. T. gehört unter unsern Opernsängerinnen zu den vorzugsweise mit musikali¬ schen Talent begabten — ist manches verschwunden; aber diese höhere, geistige Eigenschaft erfreut uns noch immer an ihr und gibt ihr eine bestimmte Stel¬ lung auf dem Gebiet des Dramas. Unsre drei ersten Sängerinnen vertreten die verschiedenen Seiten dieses Fachs in einer so entsprechenden Weise, daß insofern die berliner Oper in Deutschland gegenwärtig wol die erste Stelle einnehmen dürfte, obschon Dres¬ den in der Frau Büret eine Sängerin von glänzenderen Stimmeigenschaften und Wien in Frl. Tietjenö eine Anfängerin zwar, aber eine mit höchst lieb¬ lichem, frischem Organ und guter Technik besitzt. Dennoch wird in kurzem ein Ersatz nöthig sein, wenn Berlin den Vorzug behaupten will. Ueberdies ist von jeher die Zahl derer gering gewesen, welche die Oper ausschließlich der guten Musik wegen besuchen; Sänger und namentlich Sängerinnen waren stets — früher vielleicht noch mehr als jetzt — der stärkste Magnet. Die Massen sind nur für das Persönliche empfänglich; um sich für etwas Objec¬ tives, Allgemeines zu erwärmen, dazu gehört schon ein höherer Grad der Bildung. Die äußere Nothwendigkeit führt daher zur besonderen Umsicht im Engagement junger, talentbegabter Sängerinnen. — Unsre zweiten Sängerin¬ nen, Frl. Trietsch und Frau Bötticher, die nicht selten auch Rollen ersten Rangs übernehmen, haben, rein musikalisch betrachtet, recht gute Eigenschaften, denen aber die höhere geistige Weihe fehlt. Größere Bildsamkeit hat Frl. Trietsch bewiesen; doch besitzt auch sie nicht jene geistige Modulationsfähigkeit des an sich wohlklingenden Organs, die uns poetisch und dramatisch erwärmt. In ernsten Rollen vermag sie sich nicht zu der Energie zu erheben, die uns an die Wahrheit der Sache glauben läßt; im heitern Fach — sie gibt z. B. Aermchen im Freischütz, Zerline im Don Juan — fehlt es ihr noch an Feinheit und Grazie. Frau Bötticher hat eine schöne, aber sehr unbiegsame Stimme. Ihr Repertoir enthält zwei sehr wichtige Rollen, die Moire im Don Juan und den Pagen in Figaro, für deren Darstellung mehr Feuer, Weichheit, Zartheit und Geist.nothwendig wäre. Am schlimmsten ist es gegenwärtig mit den Tenoren bestellt. Martius, der sein fünfundzwanzigjähriges Jubiläum als Mitglied der Oper gefeiert hat und dessen Stimmmittel auch in seiner besten Zeit für die großen Dimensionen des Hau¬ ses nur eben ausreichten, ist begreiflicherweise denselben jetzt noch viel weniger ge¬ wachsen. In den wenigen Rollen von Bedeutung, die er noch gibt (Octavio, Pylades, Florestan), treten zwar immer noch Einzelnheiten hervor, in denen der

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341580_100453
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341580_100453/32
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341580_100453/32>, abgerufen am 02.10.2024.