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Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, II. Semester. IV. Band.

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Fides, des Romeo u. s. w. gar nicht mehr erkennen könnte. Ich habe oft ein
Taubertscheö Wiegenlied von ihr gehört "Sonne hat sich müd gelaufen".
Feiner noch, mit zarteren musikalischen Nuancen, mit überlegneren Verstände
sang es Jenny Lind; aber sie sang es wie eine vornehme Dame, die von
Wiegenliedern einmal erzählen hörte und, mit künstlerischer Phantasie begabt,
sich diesen Gegenstand wie andere idealisirt; Johanna Wagner sang es natur¬
wahrer, mit wirklicher Zärtlichkeit. -- Wenn Johanna Wagner die glänzendste
Erscheinung unsrer Oper ist, so verdient Frau Köster den Preis in der
Strenge und Reinheit der Form; sie ist überdies die wesentlichste Stütze deS
classischen Repertoirs. Ihre Stimme ist etwas scharf und hart geworden;
leidenschaftliche Gewalt der Auffassung besitzt sie nicht; aber bei aller Ruhe
der Erscheinung haben wir Innigkeit und Gefühl nie vermißt, der musikalische
Bortrag zeichnet sich durch seine Accentuation aus; in besonnener Weise weiß
sie an rechter Stelle den Ton zu vollem Glänze zu entwickeln, und ihr ver-
hauchendes poro zeugt nicht nur von Kunst, sondern auch von Gefühl. In
Glucks sämmtlichen Opern, in denen Mozarts, im Fidelio, als Euryanthe und
Agathe, als Jessonda leistet sie oft wahrhaft Bedeutendes, wie denn überhaupt
ihre Gesangsweise dem Stil der früheren Zeit näher liegt, als dem heutigen.
Ihre Gesangömethodc beruht mehr auf dem Herausziehen des Tons, als auf
dem Herausstoßen, das der moderne dramatische Gesang liebt, und sie würde
vollendet sein, wenn sie die, durch unsre Opernverhältnisse freilich unvermeid¬
lich gewordenen, äußersten Grade der Stärke vermiede und den Ton in run¬
derer Form zur Erscheinung brächte. Der leicht fließende, buntverzierte italie¬
nische Gesang ist ihre Sache nicht, indem sie, durch die Gewohnheit der großen
Oper dazu geführt, den Ton zwar zart, aber doch fest ansetzt und zu eindrin¬
genden Accenten gestaltet; der Coloraturgesang verlangt dagegen kleinen Ton,
leichte Accente, ein Loslassen des Tons, noch ehe er sich befestigt hat, und
spielendes Uebergehen zu neuen Tönen. Darum traf sie in der Belagerung
von Korinth die eigentlich italienische Vortragsweise mit ihrem süßen Dust
und schmelzenden Fluß freilich nicht, aber sie fang die für ihre Gesangsmethove
noch schwieriger werdende Partie mit einer Correctheit und dadurch teilweise so
glänzenden Wirkung, daß man der unermüdlichen Sorgfalt und dem ernsten
deutschen Sinn die Anerkennung nicht versagen konnte. Die Opernabende, in
denen beide Künstlerinnen zusammenwirken, wie in der Euryanthe, Olympia,
Iphigenia in Antis, sind meist sehr genußreich.

Frau Herrenburg-Tuczek ist jetzt fast ausschließlich in Rollen be¬
schäftigt, die Grazie, Leichtigkeit, Beweglichkeit verlangen. Die Natur ihres
Organs weist sie auf das Gebiet; sie entschädigt uns für manche technische
Mängel, unter denen die bisweilen zur Unreinheit führende Lockerheit und Un¬
sicherheit des Ansatzes obenan steht, durch die Anmuth der Ausführung. Die


Fides, des Romeo u. s. w. gar nicht mehr erkennen könnte. Ich habe oft ein
Taubertscheö Wiegenlied von ihr gehört „Sonne hat sich müd gelaufen".
Feiner noch, mit zarteren musikalischen Nuancen, mit überlegneren Verstände
sang es Jenny Lind; aber sie sang es wie eine vornehme Dame, die von
Wiegenliedern einmal erzählen hörte und, mit künstlerischer Phantasie begabt,
sich diesen Gegenstand wie andere idealisirt; Johanna Wagner sang es natur¬
wahrer, mit wirklicher Zärtlichkeit. — Wenn Johanna Wagner die glänzendste
Erscheinung unsrer Oper ist, so verdient Frau Köster den Preis in der
Strenge und Reinheit der Form; sie ist überdies die wesentlichste Stütze deS
classischen Repertoirs. Ihre Stimme ist etwas scharf und hart geworden;
leidenschaftliche Gewalt der Auffassung besitzt sie nicht; aber bei aller Ruhe
der Erscheinung haben wir Innigkeit und Gefühl nie vermißt, der musikalische
Bortrag zeichnet sich durch seine Accentuation aus; in besonnener Weise weiß
sie an rechter Stelle den Ton zu vollem Glänze zu entwickeln, und ihr ver-
hauchendes poro zeugt nicht nur von Kunst, sondern auch von Gefühl. In
Glucks sämmtlichen Opern, in denen Mozarts, im Fidelio, als Euryanthe und
Agathe, als Jessonda leistet sie oft wahrhaft Bedeutendes, wie denn überhaupt
ihre Gesangsweise dem Stil der früheren Zeit näher liegt, als dem heutigen.
Ihre Gesangömethodc beruht mehr auf dem Herausziehen des Tons, als auf
dem Herausstoßen, das der moderne dramatische Gesang liebt, und sie würde
vollendet sein, wenn sie die, durch unsre Opernverhältnisse freilich unvermeid¬
lich gewordenen, äußersten Grade der Stärke vermiede und den Ton in run¬
derer Form zur Erscheinung brächte. Der leicht fließende, buntverzierte italie¬
nische Gesang ist ihre Sache nicht, indem sie, durch die Gewohnheit der großen
Oper dazu geführt, den Ton zwar zart, aber doch fest ansetzt und zu eindrin¬
genden Accenten gestaltet; der Coloraturgesang verlangt dagegen kleinen Ton,
leichte Accente, ein Loslassen des Tons, noch ehe er sich befestigt hat, und
spielendes Uebergehen zu neuen Tönen. Darum traf sie in der Belagerung
von Korinth die eigentlich italienische Vortragsweise mit ihrem süßen Dust
und schmelzenden Fluß freilich nicht, aber sie fang die für ihre Gesangsmethove
noch schwieriger werdende Partie mit einer Correctheit und dadurch teilweise so
glänzenden Wirkung, daß man der unermüdlichen Sorgfalt und dem ernsten
deutschen Sinn die Anerkennung nicht versagen konnte. Die Opernabende, in
denen beide Künstlerinnen zusammenwirken, wie in der Euryanthe, Olympia,
Iphigenia in Antis, sind meist sehr genußreich.

Frau Herrenburg-Tuczek ist jetzt fast ausschließlich in Rollen be¬
schäftigt, die Grazie, Leichtigkeit, Beweglichkeit verlangen. Die Natur ihres
Organs weist sie auf das Gebiet; sie entschädigt uns für manche technische
Mängel, unter denen die bisweilen zur Unreinheit führende Lockerheit und Un¬
sicherheit des Ansatzes obenan steht, durch die Anmuth der Ausführung. Die


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341580_100453/31>, abgerufen am 15.01.2025.