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Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, II. Semester. IV. Band.

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davon auch nach Berlin und man weiß hier sehr gut, daß mit Ausnahme
der Garde, welche immerhin eine Armee von fast 80,000 Mann darstellt und
mit Ausnahme der Krimarmee, in Rußland gegenwärtig kein Heer vorhanden
ist, welches man einer Jnvasionsarmee gegenüberstellen könnte. Diese befremd¬
liche Thatsache erklärt sich durch die ungeheuren Verluste, welche Rußland in
allen seinen Armeecorps, auch die nicht vor dem Feinde standen, erfahren
hat. Es ist dadurch bewiesen worden, daß das militärische System des
Kaisers Nikolaus an wesentlichen Uebelständen leidet, und daß ihm doch nicht
gelungen ist, das Zarenreich in einen kriegerischen Staat zu verwandeln. Mehr
noch, als durch die feindlichen Kugeln, ist das Heer durch die schlechte
Verpflegung devastirt worden, welche die Leiber der Soldaten für seuchenartige
Krankheiten, Nervenfieber und Cholera, empfänglich machte. Noch mehr Men¬
schenmaterial ist verwüstet worden auf den forcirten Märschen durch dünn¬
bevölkerte und unwirthbare Landschaften, welche der despotische Wille des ver¬
storbenen Kaisers erzwang. Fast alle Armeecorps sind zerrissen, der Kern der
alten gedrillten Soldaten ist durch die Schlachtfelder der beiden Jahre zerstört
worden, denn die Absicht des stolzen Kaisers, mit Ausgebot aller Kräfte gleich
im Anfänge des Kampfes die Alliirten in das Meer zu werfen, hat ihn ver¬
anlaßt, zu viel auf den einen Wurf zu setzen. Nur schwer und langsam ge¬
wöhnt sich der Russe an den Kriegsdienst. Die fanatische Begeisterung, mit
welcher der Kampf als Religionskrieg proclamirt wurde, ist zum großen Theil
verraucht. Die besten Offiziere und Exerciermeister fielen im feindlichen Feuer;
und dieser letzte Verlust ist für Nußland der härteste, denn die Anzahl guter
Offiziere und Unteroffiziere ist dort von je geringer gewesen und war weit
schwerer zu ersetzen als z. B. in Frankreich, Preußen oder Oestreich. Es hat
sich erwiesen, daß ein großer Unterschied ist, ob eine Armee nach fremdem Muster
durch die Intelligenz Weniger und durch einen despotischen Willen aus einer
leibeignen Bevölkerung, die auf einem ungeheuren Raume im Ganzen dünn
gesät ist, heraufgezwungen wird, oder ob sie sich Schritt für Schritt mit der
Kraft, Bildung und Intelligenz des Volkes entwickelt und hebt. Bereits im
vorigen Frühjahr waren viele Regimenter im südlichen Nußland bis auf ihre
Cadres zusammengeschmolzen, und in diesem Augenblick scheint auch die operi-
rende Armee in der Krim einer Schneemasse zu gleichen, welche in der Glut
des Feuers für immer dahinschmilzt. DaS russische Heer hat eine furchtbare,
i" der nächsten Zeit nicht zu ersetzende Einbuße erlitten, Rußland ist in diesem
Augenblick kein Kriegerstaat mehr, und wenn Rußland im Jahre 1812 den
Triumph erlebte, die größte französische Armee des ersten Napoleon zu ver?
"lebten, so erlebt Napoleon Ill. den Triumph, daß dasselbe Klima und die¬
selbe Natur^ welche das Heer seines Oheims verzehrte, jetzt die eingeborne
Heereskraft selbstmörderisch in ähnlicher Weise vernichtet. Damit ist freilich


davon auch nach Berlin und man weiß hier sehr gut, daß mit Ausnahme
der Garde, welche immerhin eine Armee von fast 80,000 Mann darstellt und
mit Ausnahme der Krimarmee, in Rußland gegenwärtig kein Heer vorhanden
ist, welches man einer Jnvasionsarmee gegenüberstellen könnte. Diese befremd¬
liche Thatsache erklärt sich durch die ungeheuren Verluste, welche Rußland in
allen seinen Armeecorps, auch die nicht vor dem Feinde standen, erfahren
hat. Es ist dadurch bewiesen worden, daß das militärische System des
Kaisers Nikolaus an wesentlichen Uebelständen leidet, und daß ihm doch nicht
gelungen ist, das Zarenreich in einen kriegerischen Staat zu verwandeln. Mehr
noch, als durch die feindlichen Kugeln, ist das Heer durch die schlechte
Verpflegung devastirt worden, welche die Leiber der Soldaten für seuchenartige
Krankheiten, Nervenfieber und Cholera, empfänglich machte. Noch mehr Men¬
schenmaterial ist verwüstet worden auf den forcirten Märschen durch dünn¬
bevölkerte und unwirthbare Landschaften, welche der despotische Wille des ver¬
storbenen Kaisers erzwang. Fast alle Armeecorps sind zerrissen, der Kern der
alten gedrillten Soldaten ist durch die Schlachtfelder der beiden Jahre zerstört
worden, denn die Absicht des stolzen Kaisers, mit Ausgebot aller Kräfte gleich
im Anfänge des Kampfes die Alliirten in das Meer zu werfen, hat ihn ver¬
anlaßt, zu viel auf den einen Wurf zu setzen. Nur schwer und langsam ge¬
wöhnt sich der Russe an den Kriegsdienst. Die fanatische Begeisterung, mit
welcher der Kampf als Religionskrieg proclamirt wurde, ist zum großen Theil
verraucht. Die besten Offiziere und Exerciermeister fielen im feindlichen Feuer;
und dieser letzte Verlust ist für Nußland der härteste, denn die Anzahl guter
Offiziere und Unteroffiziere ist dort von je geringer gewesen und war weit
schwerer zu ersetzen als z. B. in Frankreich, Preußen oder Oestreich. Es hat
sich erwiesen, daß ein großer Unterschied ist, ob eine Armee nach fremdem Muster
durch die Intelligenz Weniger und durch einen despotischen Willen aus einer
leibeignen Bevölkerung, die auf einem ungeheuren Raume im Ganzen dünn
gesät ist, heraufgezwungen wird, oder ob sie sich Schritt für Schritt mit der
Kraft, Bildung und Intelligenz des Volkes entwickelt und hebt. Bereits im
vorigen Frühjahr waren viele Regimenter im südlichen Nußland bis auf ihre
Cadres zusammengeschmolzen, und in diesem Augenblick scheint auch die operi-
rende Armee in der Krim einer Schneemasse zu gleichen, welche in der Glut
des Feuers für immer dahinschmilzt. DaS russische Heer hat eine furchtbare,
i" der nächsten Zeit nicht zu ersetzende Einbuße erlitten, Rußland ist in diesem
Augenblick kein Kriegerstaat mehr, und wenn Rußland im Jahre 1812 den
Triumph erlebte, die größte französische Armee des ersten Napoleon zu ver?
"lebten, so erlebt Napoleon Ill. den Triumph, daß dasselbe Klima und die¬
selbe Natur^ welche das Heer seines Oheims verzehrte, jetzt die eingeborne
Heereskraft selbstmörderisch in ähnlicher Weise vernichtet. Damit ist freilich


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341580_100453/199>, abgerufen am 22.07.2024.