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Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, II. Semester. IV. Band.

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gelebt hat, nach unsrem Erkennen hat es umsonst gelebt. Was ist aus dem
einfältigen, wilden Volke der Scythen geworden? Die Erinnerung an sie war
wie ein Märchen schon zu der Römer Zeit. Was haben die Marmortempel
der Hellenen dazu geholfen, dem Wassersaum der Steppe eine Geschichte zu
geben? Von den Handelsstraßen, die der Grieche nach dem Norden und tief nach
Asien hinein glatt getreten, ist keine Spur mehr zu sehen; die Hasen, welche
er geschmückt hat, sind verschwemmt und versandet, die Flüsse. laufen anders,
das Meer hat an vielen Stellen andere Buchten. Was hat das Reich des
großen Mithradat genützt, dort wilde Völker zu bändigen und mit Sitte und
Gesetz bekannt zu machen? Der Goldschmuck in den Königsgräbern um Kertsch
ist alles, was von ihm geblieben. Und wenn ein Ovid von einem modernen
Augustus in unsern Tagen noch einmal nach Tomi verbannt würde, er würde
die Landschaft noch rauher und die Menschen noch ungebildeter finden, als zur
Römerzeit. Und serner das Völkergewimmel der Sauromaten, Geten, der ger¬
manischen Gothen, der Slaven, das Stoßen, Drängen und Durcheinandertreiben
in dunklem Naturzwange, wohin hat es alle diese Völker geführt? Wer auf dem
verhängnisvollen Boden sich breitete, ist untergegangen. Der stolzeste Stamm
der Germanen, der größte und vornehmste, auch er wurde von den Dämonen,
welche um die schwarze See Hausen, verflucht und zerschlagen. Die Mon¬
golen und was von Vettern ihrer Race über diese Landschaften strömte, es ver¬
lor seine Kraft und erschlug seine Vorgänger nur, um selbst erschlagen zu
werden. Im Mittelalter drangen die zügellosen Kreuzfahrer auch an diese
Küsten, und die schlauen Kaufleute von Genua bauten aus den Trümmern
der griechischen Häuser neue Castelle und handelten mit den rohen Eingebornen
in ähnlicher Weise, wie siebzehnhundert Jahre früher die Griechen. Auch ihre
Burgen sanken in Trümmer, auch in ihren Häfen liegt Sand und der Step¬
penwind hat die Spuren auch ihrer Handelsstraßen verweht. Nach all
dem Wälzen und Wogen war den Ländern nichts geblieben, als mongolisches
Volk, welches mit seinen dürren, magern Pferden über das verbrannte Gras
jagte und in seiner Stadt von Zelten hakte; nicht das alte Scythenvolk, sondern
das dritte Geschlecht derselben Race. Sie unterlagen wieder den Russen. Und
trotz Odessa und Sebastopol ist unter den Russen die Landschaft immer leerer an
Menschen, der Handel nicht größer geworden. Und in diesem Augenblick wird
das neue Gemisch von Cultur und Barbarei, das durch die Russen dort ent¬
standen, wieder zersprengt und aufgelöst durch einen erbitterten Krieg mit
modernen Lateinern und Germanen. Und welche neue Bildungen der Völker
wird dieser Krieg hervorrufen?




Grenzboten. IV. -I8so.^.

gelebt hat, nach unsrem Erkennen hat es umsonst gelebt. Was ist aus dem
einfältigen, wilden Volke der Scythen geworden? Die Erinnerung an sie war
wie ein Märchen schon zu der Römer Zeit. Was haben die Marmortempel
der Hellenen dazu geholfen, dem Wassersaum der Steppe eine Geschichte zu
geben? Von den Handelsstraßen, die der Grieche nach dem Norden und tief nach
Asien hinein glatt getreten, ist keine Spur mehr zu sehen; die Hasen, welche
er geschmückt hat, sind verschwemmt und versandet, die Flüsse. laufen anders,
das Meer hat an vielen Stellen andere Buchten. Was hat das Reich des
großen Mithradat genützt, dort wilde Völker zu bändigen und mit Sitte und
Gesetz bekannt zu machen? Der Goldschmuck in den Königsgräbern um Kertsch
ist alles, was von ihm geblieben. Und wenn ein Ovid von einem modernen
Augustus in unsern Tagen noch einmal nach Tomi verbannt würde, er würde
die Landschaft noch rauher und die Menschen noch ungebildeter finden, als zur
Römerzeit. Und serner das Völkergewimmel der Sauromaten, Geten, der ger¬
manischen Gothen, der Slaven, das Stoßen, Drängen und Durcheinandertreiben
in dunklem Naturzwange, wohin hat es alle diese Völker geführt? Wer auf dem
verhängnisvollen Boden sich breitete, ist untergegangen. Der stolzeste Stamm
der Germanen, der größte und vornehmste, auch er wurde von den Dämonen,
welche um die schwarze See Hausen, verflucht und zerschlagen. Die Mon¬
golen und was von Vettern ihrer Race über diese Landschaften strömte, es ver¬
lor seine Kraft und erschlug seine Vorgänger nur, um selbst erschlagen zu
werden. Im Mittelalter drangen die zügellosen Kreuzfahrer auch an diese
Küsten, und die schlauen Kaufleute von Genua bauten aus den Trümmern
der griechischen Häuser neue Castelle und handelten mit den rohen Eingebornen
in ähnlicher Weise, wie siebzehnhundert Jahre früher die Griechen. Auch ihre
Burgen sanken in Trümmer, auch in ihren Häfen liegt Sand und der Step¬
penwind hat die Spuren auch ihrer Handelsstraßen verweht. Nach all
dem Wälzen und Wogen war den Ländern nichts geblieben, als mongolisches
Volk, welches mit seinen dürren, magern Pferden über das verbrannte Gras
jagte und in seiner Stadt von Zelten hakte; nicht das alte Scythenvolk, sondern
das dritte Geschlecht derselben Race. Sie unterlagen wieder den Russen. Und
trotz Odessa und Sebastopol ist unter den Russen die Landschaft immer leerer an
Menschen, der Handel nicht größer geworden. Und in diesem Augenblick wird
das neue Gemisch von Cultur und Barbarei, das durch die Russen dort ent¬
standen, wieder zersprengt und aufgelöst durch einen erbitterten Krieg mit
modernen Lateinern und Germanen. Und welche neue Bildungen der Völker
wird dieser Krieg hervorrufen?




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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341580_100453/177>, abgerufen am 02.10.2024.