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Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, II. Semester. IV. Band.

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sein. Der größte Theil derselben ist den Ueberschwemmungen des Hochwassers
ausgesetzt; aber nur selten tritt die Flut bis an den Fuß der Abhänge, aus
denen man zu der hohen Steppe emporsteigt. Von ganz besonderer Anmuth
ist das Thal des Dniepr, eines Stromes, den Wasserfülle und Tiefe zu einem
der schönsten Europas machen; seine Quelle liegt unter gleicher nördlicher
Breite mit Memel, seine Mündung unter dem Parallel, der die nördlichen
Theile des lombardisch-venetianischen Königreichs durchschneidet; zwischen der
östlichsten und westlichsten Quelle, die ihm ihr Wasser zusenden, dehnen sich
zwölf Längengrade aus; auf dieser immensen Fläche, die in Europa nur den
Flußgebieten der Wolga und Donau nachsteht, alle andern weit übertrifft,
spenden ihm unzählige Quellen, Bäche und Flüsse ihren Tribut und verleihen
ihm eine Fülle, welche die besondere Wärme, mit der Herodot den schönen
Strom preist, vollkommen begreiflich macht. Aber noch ein anderer Umstand
macht den Dniepr jedem Reisenden vorzüglich angenehm: hier endlich ruht das
durch die weite Steppenfahrt ermüdete Auge wieder mit Wohlgefallen auf be¬
grenzten landschaftlichen Bildern. Soweit der Dniepr die südöstliche Grenze
des Gouvernements Cherson bildet, fließt er in einer breiten Niederung, bald
in eine mächtige Strömung vereinigt, bald in verschiedene Arme getheilt,
zwischen denen sich hier reiche Wiesen, dort romantische Inseln mit den üppig¬
sten Eichen- und Erlenwäldern erheben. Diese reiche Vegetation, die für die
Kraft deS von steter Feuchtigkeit getränkten jungfräulichen.Bodens zeugt, steigt auch
die Thalufer hinan, doch nur die, die nach Süden und Westen gewendet sind;, aber
sie wagt sich nicht aus die hohe Steppe hinaus. --Soweit Herr N^umaun.

Dem Leser aber, welcher auf der Karte die einförmigen Landschaften im
Norden des schwarzen Meeres betrachtet und das große Wasserbecken selbst,
in welches sich halbwilde Ströme, oft ihr Bette und ihre Mündung verän¬
dernd, ergießen, dem kann dies Grenzgebiet zwischen Europa und Asien wol
unheimlich und grauenhaft vorkommen. Ein Boden, auf welchem der Mensch
nicht haftet, aus dem die Völker, wie im Wintersturm das Vieh der Herde,
fortgetrieben werden, durcheinandergeworfen, verschüttet, zerschlagen. Kein
Volk, kein Staat, keine Bildung hat Dauer an diesen Küsten, und doch
drängen sich die Nationen seit den frühesten Jahrtausenden auf diese Gras¬
flächen. Seit uralter Zeit mischt sich dort Civilisation und Barbarei in aben¬
teuerlicher Verbindung, und immer ist, was sie geschaffen,, untergegangen, jede
Art von Ban, der dort entstand, ist in Trümmer gefallen, und wie vor Jahr¬
tausenden liegen Hiese Küsten noch heut da, Länder voll der größten ge¬
schichtlichen Begebenheiten und doch ohne Geschichte. Alles ist todt, was v.ort
gearbeitet hat, immer wieder hat Rohheit die Bildung vernichtet und völker¬
zerstörende Kriege die Werke des Friedens. Alles ist vernichtet, außer Trüm¬
merhaufen und Grabhügeln hat dieses Land keine Vergangenheit. Was dort


sein. Der größte Theil derselben ist den Ueberschwemmungen des Hochwassers
ausgesetzt; aber nur selten tritt die Flut bis an den Fuß der Abhänge, aus
denen man zu der hohen Steppe emporsteigt. Von ganz besonderer Anmuth
ist das Thal des Dniepr, eines Stromes, den Wasserfülle und Tiefe zu einem
der schönsten Europas machen; seine Quelle liegt unter gleicher nördlicher
Breite mit Memel, seine Mündung unter dem Parallel, der die nördlichen
Theile des lombardisch-venetianischen Königreichs durchschneidet; zwischen der
östlichsten und westlichsten Quelle, die ihm ihr Wasser zusenden, dehnen sich
zwölf Längengrade aus; auf dieser immensen Fläche, die in Europa nur den
Flußgebieten der Wolga und Donau nachsteht, alle andern weit übertrifft,
spenden ihm unzählige Quellen, Bäche und Flüsse ihren Tribut und verleihen
ihm eine Fülle, welche die besondere Wärme, mit der Herodot den schönen
Strom preist, vollkommen begreiflich macht. Aber noch ein anderer Umstand
macht den Dniepr jedem Reisenden vorzüglich angenehm: hier endlich ruht das
durch die weite Steppenfahrt ermüdete Auge wieder mit Wohlgefallen auf be¬
grenzten landschaftlichen Bildern. Soweit der Dniepr die südöstliche Grenze
des Gouvernements Cherson bildet, fließt er in einer breiten Niederung, bald
in eine mächtige Strömung vereinigt, bald in verschiedene Arme getheilt,
zwischen denen sich hier reiche Wiesen, dort romantische Inseln mit den üppig¬
sten Eichen- und Erlenwäldern erheben. Diese reiche Vegetation, die für die
Kraft deS von steter Feuchtigkeit getränkten jungfräulichen.Bodens zeugt, steigt auch
die Thalufer hinan, doch nur die, die nach Süden und Westen gewendet sind;, aber
sie wagt sich nicht aus die hohe Steppe hinaus. —Soweit Herr N^umaun.

Dem Leser aber, welcher auf der Karte die einförmigen Landschaften im
Norden des schwarzen Meeres betrachtet und das große Wasserbecken selbst,
in welches sich halbwilde Ströme, oft ihr Bette und ihre Mündung verän¬
dernd, ergießen, dem kann dies Grenzgebiet zwischen Europa und Asien wol
unheimlich und grauenhaft vorkommen. Ein Boden, auf welchem der Mensch
nicht haftet, aus dem die Völker, wie im Wintersturm das Vieh der Herde,
fortgetrieben werden, durcheinandergeworfen, verschüttet, zerschlagen. Kein
Volk, kein Staat, keine Bildung hat Dauer an diesen Küsten, und doch
drängen sich die Nationen seit den frühesten Jahrtausenden auf diese Gras¬
flächen. Seit uralter Zeit mischt sich dort Civilisation und Barbarei in aben¬
teuerlicher Verbindung, und immer ist, was sie geschaffen,, untergegangen, jede
Art von Ban, der dort entstand, ist in Trümmer gefallen, und wie vor Jahr¬
tausenden liegen Hiese Küsten noch heut da, Länder voll der größten ge¬
schichtlichen Begebenheiten und doch ohne Geschichte. Alles ist todt, was v.ort
gearbeitet hat, immer wieder hat Rohheit die Bildung vernichtet und völker¬
zerstörende Kriege die Werke des Friedens. Alles ist vernichtet, außer Trüm¬
merhaufen und Grabhügeln hat dieses Land keine Vergangenheit. Was dort


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[0176] sein. Der größte Theil derselben ist den Ueberschwemmungen des Hochwassers ausgesetzt; aber nur selten tritt die Flut bis an den Fuß der Abhänge, aus denen man zu der hohen Steppe emporsteigt. Von ganz besonderer Anmuth ist das Thal des Dniepr, eines Stromes, den Wasserfülle und Tiefe zu einem der schönsten Europas machen; seine Quelle liegt unter gleicher nördlicher Breite mit Memel, seine Mündung unter dem Parallel, der die nördlichen Theile des lombardisch-venetianischen Königreichs durchschneidet; zwischen der östlichsten und westlichsten Quelle, die ihm ihr Wasser zusenden, dehnen sich zwölf Längengrade aus; auf dieser immensen Fläche, die in Europa nur den Flußgebieten der Wolga und Donau nachsteht, alle andern weit übertrifft, spenden ihm unzählige Quellen, Bäche und Flüsse ihren Tribut und verleihen ihm eine Fülle, welche die besondere Wärme, mit der Herodot den schönen Strom preist, vollkommen begreiflich macht. Aber noch ein anderer Umstand macht den Dniepr jedem Reisenden vorzüglich angenehm: hier endlich ruht das durch die weite Steppenfahrt ermüdete Auge wieder mit Wohlgefallen auf be¬ grenzten landschaftlichen Bildern. Soweit der Dniepr die südöstliche Grenze des Gouvernements Cherson bildet, fließt er in einer breiten Niederung, bald in eine mächtige Strömung vereinigt, bald in verschiedene Arme getheilt, zwischen denen sich hier reiche Wiesen, dort romantische Inseln mit den üppig¬ sten Eichen- und Erlenwäldern erheben. Diese reiche Vegetation, die für die Kraft deS von steter Feuchtigkeit getränkten jungfräulichen.Bodens zeugt, steigt auch die Thalufer hinan, doch nur die, die nach Süden und Westen gewendet sind;, aber sie wagt sich nicht aus die hohe Steppe hinaus. —Soweit Herr N^umaun. Dem Leser aber, welcher auf der Karte die einförmigen Landschaften im Norden des schwarzen Meeres betrachtet und das große Wasserbecken selbst, in welches sich halbwilde Ströme, oft ihr Bette und ihre Mündung verän¬ dernd, ergießen, dem kann dies Grenzgebiet zwischen Europa und Asien wol unheimlich und grauenhaft vorkommen. Ein Boden, auf welchem der Mensch nicht haftet, aus dem die Völker, wie im Wintersturm das Vieh der Herde, fortgetrieben werden, durcheinandergeworfen, verschüttet, zerschlagen. Kein Volk, kein Staat, keine Bildung hat Dauer an diesen Küsten, und doch drängen sich die Nationen seit den frühesten Jahrtausenden auf diese Gras¬ flächen. Seit uralter Zeit mischt sich dort Civilisation und Barbarei in aben¬ teuerlicher Verbindung, und immer ist, was sie geschaffen,, untergegangen, jede Art von Ban, der dort entstand, ist in Trümmer gefallen, und wie vor Jahr¬ tausenden liegen Hiese Küsten noch heut da, Länder voll der größten ge¬ schichtlichen Begebenheiten und doch ohne Geschichte. Alles ist todt, was v.ort gearbeitet hat, immer wieder hat Rohheit die Bildung vernichtet und völker¬ zerstörende Kriege die Werke des Friedens. Alles ist vernichtet, außer Trüm¬ merhaufen und Grabhügeln hat dieses Land keine Vergangenheit. Was dort

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341580_100453/176>, abgerufen am 02.10.2024.