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Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, II. Semester. IV. Band.

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Millionen nickende Häupter, eines Mittagsschlafcs Länge Salbei und Lavendel,
einen Horizontkreis voll mit Tulpen, ein Nesedcibcet von zwei Meilen im Um¬
kreise, ganze Thäler mit Kümmel und Krausemiinze, unbegrenzte Bergrücken
mit Windhere und sechs Tagereisen mit vertrockneten Grashalmen, So unge¬
fähr ist die Vegetation der Steppe vertheilt, so unerfreulich, so anmuthlos und
alles Schmuckes bar/' Namentlich ist die Menge des Wermuths, der übrigens
weiter östlich noch ausgedehntere Strecken einnimmt, zu allen Zeiten den Reisenden
auffallend gewesen, da er der Steppe eine überaus traurige Färbung gibt.
Ovid führt dieses Kraut namentlich an, um die scythische Einöde in ihrer
ganzen unerfreulichen Gestalt zu schildern; politischer Wermuth war im Alter¬
thum weit und breit bekannt; ihm schrieben die Alten vornehmlich das Ge¬
deihen der Viehzucht in diesen Gegenden zu, und maßen grade dem Pontischen
Wermuth auch als officinelles Kraut einen großen Werth bei. Auch dem
Franciscaner Benedict, dem Begleiter Plan de Carpin's, der im dreizehnten
Jahrhundert durch das südliche Rußland an den Hof des Tartarcnkhans zog,
sielen die großen Wermuthfelder auf; er unterläßt nicht, sie im Kömanenland,
das sechs Tagereisen hinter Kiew anfing, zu erwähnen und sich des ovidischen
Verses zu erinnern: "denn dies Land hieß einst Pontus," setzt er hinzu, um
die Ueberschrift der Episteln des römischen Dichters zu erklären. Die Zeit
der Vegetation dauert nicht drei Monate; in dürren Jahren -- und diese sind
die häusigsten -- ist sie noch kürzer. Im Juni versiegen die Steppenflüßchen
und Bäche; die Gräser vertrocknen in ihrem Saft und gewähren in diesem Zu¬
stande dem Vieh allerdings eine so vortreffliche Nahrung, wie das beste Heu,
machen aber für den Menschen den Anblick der Steppe unendlich trostlos. Im
Juli, wenn die Hitze am höchsten steigt, zerfallen die meisten Kräuter in Staub;
die Erde wird steinhart und klafft in weiten Spalten auf; Menschen und
Thiere verschmachten bei der unerträglichen Sonnenglut in der schattenlosen
Wüstenei; das Vieh hat nur zur Nachtzeit die Neigung, seiner Nahrung nach¬
zugehen, am Tage drängen sich Pferde und Schafe eng zusammen, um sich
durch den eignen Schatten vor den brennenden Sonnenstrahlen einigermaßen
zu schirmen; nur dann, wenn ihnen ein Luftzug den feuchten Hauch eines
fernen Gewässers zuweht, erheben sie sich aus ihrer Abspannung; mit weit¬
geöffneten Nüstern fangen die Pferde die kühle Feuchtigkeit auf und eilen un¬
aufhaltsam über die braune Steppe dem Orte zu, an dem sie das ersehnte
Labsal zu finden hoffen. In dieser Zeit ist das Reisen durch die tobte
Einöde außerordentlich beschwerlich: ein sehr feiner Staub, der die Men¬
schen ganz schwarz färbt und der in der Zone des schwarzen Erdreichs überall
bemerkt wird, schwimmt, sobald er sich von dem Boden losgelöst hat, stunden¬
lang in der Lust, bringt dem Menschen in die Lungen und vermehrt die
Qual des Durstes; vergebens eilt der Reisende, den Rand der sonnverbrannter


Millionen nickende Häupter, eines Mittagsschlafcs Länge Salbei und Lavendel,
einen Horizontkreis voll mit Tulpen, ein Nesedcibcet von zwei Meilen im Um¬
kreise, ganze Thäler mit Kümmel und Krausemiinze, unbegrenzte Bergrücken
mit Windhere und sechs Tagereisen mit vertrockneten Grashalmen, So unge¬
fähr ist die Vegetation der Steppe vertheilt, so unerfreulich, so anmuthlos und
alles Schmuckes bar/' Namentlich ist die Menge des Wermuths, der übrigens
weiter östlich noch ausgedehntere Strecken einnimmt, zu allen Zeiten den Reisenden
auffallend gewesen, da er der Steppe eine überaus traurige Färbung gibt.
Ovid führt dieses Kraut namentlich an, um die scythische Einöde in ihrer
ganzen unerfreulichen Gestalt zu schildern; politischer Wermuth war im Alter¬
thum weit und breit bekannt; ihm schrieben die Alten vornehmlich das Ge¬
deihen der Viehzucht in diesen Gegenden zu, und maßen grade dem Pontischen
Wermuth auch als officinelles Kraut einen großen Werth bei. Auch dem
Franciscaner Benedict, dem Begleiter Plan de Carpin's, der im dreizehnten
Jahrhundert durch das südliche Rußland an den Hof des Tartarcnkhans zog,
sielen die großen Wermuthfelder auf; er unterläßt nicht, sie im Kömanenland,
das sechs Tagereisen hinter Kiew anfing, zu erwähnen und sich des ovidischen
Verses zu erinnern: „denn dies Land hieß einst Pontus," setzt er hinzu, um
die Ueberschrift der Episteln des römischen Dichters zu erklären. Die Zeit
der Vegetation dauert nicht drei Monate; in dürren Jahren — und diese sind
die häusigsten — ist sie noch kürzer. Im Juni versiegen die Steppenflüßchen
und Bäche; die Gräser vertrocknen in ihrem Saft und gewähren in diesem Zu¬
stande dem Vieh allerdings eine so vortreffliche Nahrung, wie das beste Heu,
machen aber für den Menschen den Anblick der Steppe unendlich trostlos. Im
Juli, wenn die Hitze am höchsten steigt, zerfallen die meisten Kräuter in Staub;
die Erde wird steinhart und klafft in weiten Spalten auf; Menschen und
Thiere verschmachten bei der unerträglichen Sonnenglut in der schattenlosen
Wüstenei; das Vieh hat nur zur Nachtzeit die Neigung, seiner Nahrung nach¬
zugehen, am Tage drängen sich Pferde und Schafe eng zusammen, um sich
durch den eignen Schatten vor den brennenden Sonnenstrahlen einigermaßen
zu schirmen; nur dann, wenn ihnen ein Luftzug den feuchten Hauch eines
fernen Gewässers zuweht, erheben sie sich aus ihrer Abspannung; mit weit¬
geöffneten Nüstern fangen die Pferde die kühle Feuchtigkeit auf und eilen un¬
aufhaltsam über die braune Steppe dem Orte zu, an dem sie das ersehnte
Labsal zu finden hoffen. In dieser Zeit ist das Reisen durch die tobte
Einöde außerordentlich beschwerlich: ein sehr feiner Staub, der die Men¬
schen ganz schwarz färbt und der in der Zone des schwarzen Erdreichs überall
bemerkt wird, schwimmt, sobald er sich von dem Boden losgelöst hat, stunden¬
lang in der Lust, bringt dem Menschen in die Lungen und vermehrt die
Qual des Durstes; vergebens eilt der Reisende, den Rand der sonnverbrannter


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341580_100453/173>, abgerufen am 02.10.2024.