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Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, II. Semester. IV. Band.

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Vorposten der Waldvegetation; denn auf der kurzgrasigem Steppe, welche den
südrussischen Granitrücken bedeckt, erscheinen noch hin und wieder Gesellschaf¬
ten von wilden Obstbäumen; auch die Buche bildet am obern Ingut und
Jngulez kleine Haine, die Eiche noch einen schönen Wald. Aber weiter nach
Süden hin werden die Baumgruppen immer spärlicher; die Bäume selbst ver¬
rathen durch ihren kümmerlichen Wuchs, wie unbehaglich sie sich in solcher
Einsamkeit fühlen, fern von ihren fröhlichen Gesellen; bald wird die hohe
Steppe so baumlos, daß die Entdeckung eines verkrüppelten wilden Birnbaums
für den Reisenden ein merkwürdiges und erwähnenswerthes Ereigniß ist. Hier
beginnt das Reich der Gräser und Kräuter, deren sybaritisches Leben jedenr >
zarten Baumpflänzchen, welches in der fremden Gesellschaft eine geduldete
Eristenz zu-finden hoffte, dreist alle Nahrung entzieht; sie ersticken es mit ihren
vielfaserigcn dichtverschlungenen Wurzeln, und ihre schnell und üppig empor¬
schießenden Halme gönnen ihm selbst das Licht der Sonne nicht. Aber auch
ihnen ist die Zeit schwelgerischer Vegetation kurz zugemessen. Sie beginnt, so¬
bald der Schnee schmilzt. Dann entfalten Crocus, Tulpen, Hyacinthen und
andere Zwiebelgewächse schnell ihren vielfarbigen Flor und die ganze Fläche
bedeckt sich mit dem frischen Grün der Kräuter. Auch das Thierleben regt sich
fröhlich: überall spielen im Grase die aus ihrem Winterschlaf erstandenen
possirlichen Zieselmäuse; überall begegnet man ausgedehnten Rinder- und
Schafherden, die den größten Theil des Jahres im Freien bleiben, oder Scha¬
ren von Pferden, die, während des Winters durch unzulängliche Hürden ge¬
gen Kälte und Schnee und durch kärgliches Futter kaum gegen den Hunger¬
tod geschützt, sich jetzt übermüthig auf der Steppe umhertummeln, froh der
wiedergewonnenen Kraft. Schwärme von wilden Tauben stiegen hin und
wieder; im hohen Grase promeniren die stolzen numidischen Jungfrauen und
die nachdenklichen Kraniche; Scharen von Trappen ziehen niedrig über die
Steppe hin, Adler und Habichte schweben hoch in den Lüften, während sich
die Geier um das gefallene Vieh mit den Wölfen streiten, die das kleinrussische
Buschland und das Röhricht der Flußniederungen verlassen haben, um im
Schutze des hohen Grases die Steppenherden zu umschleichen und ein ver¬
sprengtes Füllen oder Schaf zu ergreifen. Aber selbst in dieser Zeit des regsten
Pflanzen- und Thierlebens leidet die Steppe an der ihr eigenthümlichen Ein¬
förmigkeit: die an und für sich nicht zahlreichen Pflanzengattungen, die auf
ihr gedeihen, verweben sich nicht untereinander zu einem durch einige
Mannigfaltigkeit das Auge erfreuenden Teppich, sondern eine und dieselbe
Gattung bedeckt fast ausschließlich die ausgedehntesten Strecken. "Ein paar
Werste weit," sagt Kohl, "sieht man nichts als Wermuth und Wermuth),
wieder ein paar Werste nichts als Wicken, eine halbe Meile Königskerzen,
eine andere halbe Steinklee, eine Station lang nickendes Seidenkraut, tausend


Vorposten der Waldvegetation; denn auf der kurzgrasigem Steppe, welche den
südrussischen Granitrücken bedeckt, erscheinen noch hin und wieder Gesellschaf¬
ten von wilden Obstbäumen; auch die Buche bildet am obern Ingut und
Jngulez kleine Haine, die Eiche noch einen schönen Wald. Aber weiter nach
Süden hin werden die Baumgruppen immer spärlicher; die Bäume selbst ver¬
rathen durch ihren kümmerlichen Wuchs, wie unbehaglich sie sich in solcher
Einsamkeit fühlen, fern von ihren fröhlichen Gesellen; bald wird die hohe
Steppe so baumlos, daß die Entdeckung eines verkrüppelten wilden Birnbaums
für den Reisenden ein merkwürdiges und erwähnenswerthes Ereigniß ist. Hier
beginnt das Reich der Gräser und Kräuter, deren sybaritisches Leben jedenr >
zarten Baumpflänzchen, welches in der fremden Gesellschaft eine geduldete
Eristenz zu-finden hoffte, dreist alle Nahrung entzieht; sie ersticken es mit ihren
vielfaserigcn dichtverschlungenen Wurzeln, und ihre schnell und üppig empor¬
schießenden Halme gönnen ihm selbst das Licht der Sonne nicht. Aber auch
ihnen ist die Zeit schwelgerischer Vegetation kurz zugemessen. Sie beginnt, so¬
bald der Schnee schmilzt. Dann entfalten Crocus, Tulpen, Hyacinthen und
andere Zwiebelgewächse schnell ihren vielfarbigen Flor und die ganze Fläche
bedeckt sich mit dem frischen Grün der Kräuter. Auch das Thierleben regt sich
fröhlich: überall spielen im Grase die aus ihrem Winterschlaf erstandenen
possirlichen Zieselmäuse; überall begegnet man ausgedehnten Rinder- und
Schafherden, die den größten Theil des Jahres im Freien bleiben, oder Scha¬
ren von Pferden, die, während des Winters durch unzulängliche Hürden ge¬
gen Kälte und Schnee und durch kärgliches Futter kaum gegen den Hunger¬
tod geschützt, sich jetzt übermüthig auf der Steppe umhertummeln, froh der
wiedergewonnenen Kraft. Schwärme von wilden Tauben stiegen hin und
wieder; im hohen Grase promeniren die stolzen numidischen Jungfrauen und
die nachdenklichen Kraniche; Scharen von Trappen ziehen niedrig über die
Steppe hin, Adler und Habichte schweben hoch in den Lüften, während sich
die Geier um das gefallene Vieh mit den Wölfen streiten, die das kleinrussische
Buschland und das Röhricht der Flußniederungen verlassen haben, um im
Schutze des hohen Grases die Steppenherden zu umschleichen und ein ver¬
sprengtes Füllen oder Schaf zu ergreifen. Aber selbst in dieser Zeit des regsten
Pflanzen- und Thierlebens leidet die Steppe an der ihr eigenthümlichen Ein¬
förmigkeit: die an und für sich nicht zahlreichen Pflanzengattungen, die auf
ihr gedeihen, verweben sich nicht untereinander zu einem durch einige
Mannigfaltigkeit das Auge erfreuenden Teppich, sondern eine und dieselbe
Gattung bedeckt fast ausschließlich die ausgedehntesten Strecken. „Ein paar
Werste weit," sagt Kohl, „sieht man nichts als Wermuth und Wermuth),
wieder ein paar Werste nichts als Wicken, eine halbe Meile Königskerzen,
eine andere halbe Steinklee, eine Station lang nickendes Seidenkraut, tausend


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[0172] Vorposten der Waldvegetation; denn auf der kurzgrasigem Steppe, welche den südrussischen Granitrücken bedeckt, erscheinen noch hin und wieder Gesellschaf¬ ten von wilden Obstbäumen; auch die Buche bildet am obern Ingut und Jngulez kleine Haine, die Eiche noch einen schönen Wald. Aber weiter nach Süden hin werden die Baumgruppen immer spärlicher; die Bäume selbst ver¬ rathen durch ihren kümmerlichen Wuchs, wie unbehaglich sie sich in solcher Einsamkeit fühlen, fern von ihren fröhlichen Gesellen; bald wird die hohe Steppe so baumlos, daß die Entdeckung eines verkrüppelten wilden Birnbaums für den Reisenden ein merkwürdiges und erwähnenswerthes Ereigniß ist. Hier beginnt das Reich der Gräser und Kräuter, deren sybaritisches Leben jedenr > zarten Baumpflänzchen, welches in der fremden Gesellschaft eine geduldete Eristenz zu-finden hoffte, dreist alle Nahrung entzieht; sie ersticken es mit ihren vielfaserigcn dichtverschlungenen Wurzeln, und ihre schnell und üppig empor¬ schießenden Halme gönnen ihm selbst das Licht der Sonne nicht. Aber auch ihnen ist die Zeit schwelgerischer Vegetation kurz zugemessen. Sie beginnt, so¬ bald der Schnee schmilzt. Dann entfalten Crocus, Tulpen, Hyacinthen und andere Zwiebelgewächse schnell ihren vielfarbigen Flor und die ganze Fläche bedeckt sich mit dem frischen Grün der Kräuter. Auch das Thierleben regt sich fröhlich: überall spielen im Grase die aus ihrem Winterschlaf erstandenen possirlichen Zieselmäuse; überall begegnet man ausgedehnten Rinder- und Schafherden, die den größten Theil des Jahres im Freien bleiben, oder Scha¬ ren von Pferden, die, während des Winters durch unzulängliche Hürden ge¬ gen Kälte und Schnee und durch kärgliches Futter kaum gegen den Hunger¬ tod geschützt, sich jetzt übermüthig auf der Steppe umhertummeln, froh der wiedergewonnenen Kraft. Schwärme von wilden Tauben stiegen hin und wieder; im hohen Grase promeniren die stolzen numidischen Jungfrauen und die nachdenklichen Kraniche; Scharen von Trappen ziehen niedrig über die Steppe hin, Adler und Habichte schweben hoch in den Lüften, während sich die Geier um das gefallene Vieh mit den Wölfen streiten, die das kleinrussische Buschland und das Röhricht der Flußniederungen verlassen haben, um im Schutze des hohen Grases die Steppenherden zu umschleichen und ein ver¬ sprengtes Füllen oder Schaf zu ergreifen. Aber selbst in dieser Zeit des regsten Pflanzen- und Thierlebens leidet die Steppe an der ihr eigenthümlichen Ein¬ förmigkeit: die an und für sich nicht zahlreichen Pflanzengattungen, die auf ihr gedeihen, verweben sich nicht untereinander zu einem durch einige Mannigfaltigkeit das Auge erfreuenden Teppich, sondern eine und dieselbe Gattung bedeckt fast ausschließlich die ausgedehntesten Strecken. „Ein paar Werste weit," sagt Kohl, „sieht man nichts als Wermuth und Wermuth), wieder ein paar Werste nichts als Wicken, eine halbe Meile Königskerzen, eine andere halbe Steinklee, eine Station lang nickendes Seidenkraut, tausend

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341580_100453/172>, abgerufen am 02.10.2024.