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Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, II. Semester. IV. Band.

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auf der Straße gelegen, welche eine russische oder östreichische Armee dereinst
einschlagen möchte, um aus der kleinen Walachei, an Serbien vorüber, über
Sofia und Adrianopel gegen den Herzpunkt der osmanischen Macht, Kon¬
stantinopel, vorzudringen. Wiewol an keiner großen Stromlinie gelegen, ist
Widdin in Bezug auf seine Stellung, solchen -Operation gegenüber wohl ge¬
legen und kann mit vollem Recht die Bedeutung eines strategischen Punktes
höheren Ranges, wenn nicht des ersten, beanspruchen. Diese Bedeutung gibt
ihm namentlich sein Zusammenfall mit einem wichtigen Straßenknoten, zu dem
sich hier die auf Belgrad, auf Semendria, aus Widdin und auf Sofia laufen¬
den Verbindungslinien verschlingen. Von welchem Punkte aus immerhin ein
östreichischer Vormarsch auf Adrianopel seinen Ausgang nehmen möge, von
Belgrad, von Semendria, von Widdin aus oder weiter donauunterwävts:
falls er und das wird er unter allen Umständen, die Trajanspsorte hinter Sofia
Passiren will, um den Hauptkamm des Balkans zu überschreiten, muß er an
Rissa vorüber.

Dieser Bedeutung, namentlich bei einem Kriege der Pforte gegen Oestreich,
hat auch die seitherige Geschichte der Festung entsprochen. Sie wurde zu
mehren Malen, in verschiedenen Zeiten, in den Kreis der Kriegsbegebenheiten
hineingezogen. Einmal wurde sie von den Oestreichern förmlich belagert und
eingenommen. Nach der türkischen Aussage waren es die Schwaben (so
nennt man die Kaiserlichen), welche auf der schmalen Ostseite des Platzes ein¬
drangen.

Die Artillerie der Festung ist zahlreich und besteht zum Theil aus enorm
langen Stücken. Unter diesen befindet sich die Deu-Top (die wahnsinnige
Kanone), die alle europäischen Topschis (die fremden Artillerieinstructeure) der
umgehenden Sage nach vergebens zu meistern versuchten, und mit der nur
drei Derwische aus dem Schoße der rechtgläubigen, muselmanischen Bevölke¬
rung umzugehen wissen. Von ihnen gerichtet und bedient ist sie aber dann
der Schrecken der Schrecken der Moskofs.

In commerzieller Beziehung wird im Allgemeinen jeder Platz eine günstige
Lage haben, der strategisch gut situirt ist. Das gilt auch von Rissa. Man
kann nicht süglich eine Eisenbahn von der Donau auf Konstantinopel führen,
ohne diesen Ort zu einem der Hauptstationspunkte zu machen. Desgleichen hat
hier ein späteres Netz moderner Communicationslinien seinen im voraus fest¬
gelegten Knoten. Mittelst der serbischen Mvrcnva liegt von dieser Seite her
das sonst nicht eben sehr zugängliche Fürstenthum aufgeschlossen; südwärts er¬
öffnet die Nissawa die Bahn zu den vorderen Thälern ihres Laufes und an
ihrem Quellpunkt den Eintritt in die breite Centralsenke von Sofia, der räum¬
lichen Mitte der ganzen illyrischen Halbinsel. --

Es war an einem nebelvollen Morgen, um die Mitte des Monats No-


auf der Straße gelegen, welche eine russische oder östreichische Armee dereinst
einschlagen möchte, um aus der kleinen Walachei, an Serbien vorüber, über
Sofia und Adrianopel gegen den Herzpunkt der osmanischen Macht, Kon¬
stantinopel, vorzudringen. Wiewol an keiner großen Stromlinie gelegen, ist
Widdin in Bezug auf seine Stellung, solchen -Operation gegenüber wohl ge¬
legen und kann mit vollem Recht die Bedeutung eines strategischen Punktes
höheren Ranges, wenn nicht des ersten, beanspruchen. Diese Bedeutung gibt
ihm namentlich sein Zusammenfall mit einem wichtigen Straßenknoten, zu dem
sich hier die auf Belgrad, auf Semendria, aus Widdin und auf Sofia laufen¬
den Verbindungslinien verschlingen. Von welchem Punkte aus immerhin ein
östreichischer Vormarsch auf Adrianopel seinen Ausgang nehmen möge, von
Belgrad, von Semendria, von Widdin aus oder weiter donauunterwävts:
falls er und das wird er unter allen Umständen, die Trajanspsorte hinter Sofia
Passiren will, um den Hauptkamm des Balkans zu überschreiten, muß er an
Rissa vorüber.

Dieser Bedeutung, namentlich bei einem Kriege der Pforte gegen Oestreich,
hat auch die seitherige Geschichte der Festung entsprochen. Sie wurde zu
mehren Malen, in verschiedenen Zeiten, in den Kreis der Kriegsbegebenheiten
hineingezogen. Einmal wurde sie von den Oestreichern förmlich belagert und
eingenommen. Nach der türkischen Aussage waren es die Schwaben (so
nennt man die Kaiserlichen), welche auf der schmalen Ostseite des Platzes ein¬
drangen.

Die Artillerie der Festung ist zahlreich und besteht zum Theil aus enorm
langen Stücken. Unter diesen befindet sich die Deu-Top (die wahnsinnige
Kanone), die alle europäischen Topschis (die fremden Artillerieinstructeure) der
umgehenden Sage nach vergebens zu meistern versuchten, und mit der nur
drei Derwische aus dem Schoße der rechtgläubigen, muselmanischen Bevölke¬
rung umzugehen wissen. Von ihnen gerichtet und bedient ist sie aber dann
der Schrecken der Schrecken der Moskofs.

In commerzieller Beziehung wird im Allgemeinen jeder Platz eine günstige
Lage haben, der strategisch gut situirt ist. Das gilt auch von Rissa. Man
kann nicht süglich eine Eisenbahn von der Donau auf Konstantinopel führen,
ohne diesen Ort zu einem der Hauptstationspunkte zu machen. Desgleichen hat
hier ein späteres Netz moderner Communicationslinien seinen im voraus fest¬
gelegten Knoten. Mittelst der serbischen Mvrcnva liegt von dieser Seite her
das sonst nicht eben sehr zugängliche Fürstenthum aufgeschlossen; südwärts er¬
öffnet die Nissawa die Bahn zu den vorderen Thälern ihres Laufes und an
ihrem Quellpunkt den Eintritt in die breite Centralsenke von Sofia, der räum¬
lichen Mitte der ganzen illyrischen Halbinsel. —

Es war an einem nebelvollen Morgen, um die Mitte des Monats No-


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[0149] auf der Straße gelegen, welche eine russische oder östreichische Armee dereinst einschlagen möchte, um aus der kleinen Walachei, an Serbien vorüber, über Sofia und Adrianopel gegen den Herzpunkt der osmanischen Macht, Kon¬ stantinopel, vorzudringen. Wiewol an keiner großen Stromlinie gelegen, ist Widdin in Bezug auf seine Stellung, solchen -Operation gegenüber wohl ge¬ legen und kann mit vollem Recht die Bedeutung eines strategischen Punktes höheren Ranges, wenn nicht des ersten, beanspruchen. Diese Bedeutung gibt ihm namentlich sein Zusammenfall mit einem wichtigen Straßenknoten, zu dem sich hier die auf Belgrad, auf Semendria, aus Widdin und auf Sofia laufen¬ den Verbindungslinien verschlingen. Von welchem Punkte aus immerhin ein östreichischer Vormarsch auf Adrianopel seinen Ausgang nehmen möge, von Belgrad, von Semendria, von Widdin aus oder weiter donauunterwävts: falls er und das wird er unter allen Umständen, die Trajanspsorte hinter Sofia Passiren will, um den Hauptkamm des Balkans zu überschreiten, muß er an Rissa vorüber. Dieser Bedeutung, namentlich bei einem Kriege der Pforte gegen Oestreich, hat auch die seitherige Geschichte der Festung entsprochen. Sie wurde zu mehren Malen, in verschiedenen Zeiten, in den Kreis der Kriegsbegebenheiten hineingezogen. Einmal wurde sie von den Oestreichern förmlich belagert und eingenommen. Nach der türkischen Aussage waren es die Schwaben (so nennt man die Kaiserlichen), welche auf der schmalen Ostseite des Platzes ein¬ drangen. Die Artillerie der Festung ist zahlreich und besteht zum Theil aus enorm langen Stücken. Unter diesen befindet sich die Deu-Top (die wahnsinnige Kanone), die alle europäischen Topschis (die fremden Artillerieinstructeure) der umgehenden Sage nach vergebens zu meistern versuchten, und mit der nur drei Derwische aus dem Schoße der rechtgläubigen, muselmanischen Bevölke¬ rung umzugehen wissen. Von ihnen gerichtet und bedient ist sie aber dann der Schrecken der Schrecken der Moskofs. In commerzieller Beziehung wird im Allgemeinen jeder Platz eine günstige Lage haben, der strategisch gut situirt ist. Das gilt auch von Rissa. Man kann nicht süglich eine Eisenbahn von der Donau auf Konstantinopel führen, ohne diesen Ort zu einem der Hauptstationspunkte zu machen. Desgleichen hat hier ein späteres Netz moderner Communicationslinien seinen im voraus fest¬ gelegten Knoten. Mittelst der serbischen Mvrcnva liegt von dieser Seite her das sonst nicht eben sehr zugängliche Fürstenthum aufgeschlossen; südwärts er¬ öffnet die Nissawa die Bahn zu den vorderen Thälern ihres Laufes und an ihrem Quellpunkt den Eintritt in die breite Centralsenke von Sofia, der räum¬ lichen Mitte der ganzen illyrischen Halbinsel. — Es war an einem nebelvollen Morgen, um die Mitte des Monats No-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341580_100453/149>, abgerufen am 25.06.2024.