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Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, II. Semester. IV. Band.

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Werth einer selbstständigen Existenz nach den gemeinsten Vortheilen ab¬
gewogen wird, dann ist die Sklaverei vollendet, noch ehe der Unterdrücker er¬
schien, der Staat ausgelöst, noch ehe er sichtbar zusammenstürzt." Die besol¬
deten und unbesoldeten Franzosenfrcunde sprachen damals viel von der "uner¬
träglichen Selbstsucht Englands, von dem Handels- und Jndustriemonopol
des Krämervolkes, von seiner absoluten Unverträglichkeit mit den übrigen
Nationen." Allerdings führten die Engländer den Weltkampf mit Frankreich
mit einem großen, thatkräftigen Egoismus, den Bonaparte haßte, aber nicht
verachtete; die Deutschen dagegen besaßen statt der Selbstsucht einen Wust
kleinlicher Selbstsüchteleien, die sie nicht einmal zu einem gemeinsamen Egois¬
mus kommen ließen. Gentz äußerte damals: "Wie dieFürsten ihre Völker
erziehen, so bilden umgekehrt die Völker ihre Fürsten." Ohne die
Verblendung, Verkehrtheit und Erschlaffung des deutschen Volkes, hätten die
Regierungen Deutschland in eine Verworrenheit, wie die damalige, nicht stürzen
können.

Im Jahre 1803 ermannte sich Oestreich. Es trat der Coalition Englands,
Rußlands und Schwedens gegen Bonaparte bei. Gentz schrieb damals: "Eine
treue Verbindung zwischen Oestreich und Preußen ist Deutschlands letzte und
gleichsam sterbende Hoffnung. Wenn Oestreich und Preußen auf einer Linie
stehen, gibt es nirgends in Deutschland ein abgesondertes Interesse mehr."
Aber Preußen blieb neutral, obgleich der Krieg dicht an seinen Grenzen be¬
vorstand, obgleich Nußland und Oestreich in ihrem Tractat vom 11. April die
Negel aufstellten, jeden, der nicht für die Coalition sei, als Feind zu behan¬
deln. Die berliner Staatsmänner waren der Meinung, daß es Preußens
Beruf sei, den drohenden Brand diplomatisch zu löschen; sie machten auch in
der That Preußen zum Briefträger des Ultimatums, das die Coalition an
Bonaparte stellte. So kam es, daß Preußen in Berlin, Petersburg und Wien
als bonapartistisch gesinnt galt und in Paris seine Hinneigung zu Rußland
geargwohnt wurde. Die preußische Politik war aber in der That ganz ehr¬
lich, nur blieb sie völlig isolirt. Als endlich der Kampf ausbrechen sollte,
bot Napoleon Preußen als Preis für die Allianz mit Frankreich Hannover.
Es war dies ein großer Gewinn für die Macht und Abrundung des preußi¬
schen Staats. Aber wenn Preußen einerseits die rechte Kraft zum Guten
fehlte, besaß es auch andererseits nicht den entschlossenen Muth des Schlechten.
Der preußische Minister Hardenberg zwar griff begierig zu und stellte zu¬
gleich dem König vor, daß, wenn Preußen mit Frankreich ginge, Oestreich und
Nußland das Schwert in der Scheide behalten würden; aber er scheiterte für
jetzt an der Gewissenhaftigkeit Friedrich Wilhelms III.

Napoleon überschritt den Rhein. Die südwestdeutschen Fürsten und Baiern
schlossen sich ihm an. In seiner Proclamation an die bairische Armee, die


Werth einer selbstständigen Existenz nach den gemeinsten Vortheilen ab¬
gewogen wird, dann ist die Sklaverei vollendet, noch ehe der Unterdrücker er¬
schien, der Staat ausgelöst, noch ehe er sichtbar zusammenstürzt." Die besol¬
deten und unbesoldeten Franzosenfrcunde sprachen damals viel von der „uner¬
träglichen Selbstsucht Englands, von dem Handels- und Jndustriemonopol
des Krämervolkes, von seiner absoluten Unverträglichkeit mit den übrigen
Nationen." Allerdings führten die Engländer den Weltkampf mit Frankreich
mit einem großen, thatkräftigen Egoismus, den Bonaparte haßte, aber nicht
verachtete; die Deutschen dagegen besaßen statt der Selbstsucht einen Wust
kleinlicher Selbstsüchteleien, die sie nicht einmal zu einem gemeinsamen Egois¬
mus kommen ließen. Gentz äußerte damals: „Wie dieFürsten ihre Völker
erziehen, so bilden umgekehrt die Völker ihre Fürsten." Ohne die
Verblendung, Verkehrtheit und Erschlaffung des deutschen Volkes, hätten die
Regierungen Deutschland in eine Verworrenheit, wie die damalige, nicht stürzen
können.

Im Jahre 1803 ermannte sich Oestreich. Es trat der Coalition Englands,
Rußlands und Schwedens gegen Bonaparte bei. Gentz schrieb damals: „Eine
treue Verbindung zwischen Oestreich und Preußen ist Deutschlands letzte und
gleichsam sterbende Hoffnung. Wenn Oestreich und Preußen auf einer Linie
stehen, gibt es nirgends in Deutschland ein abgesondertes Interesse mehr."
Aber Preußen blieb neutral, obgleich der Krieg dicht an seinen Grenzen be¬
vorstand, obgleich Nußland und Oestreich in ihrem Tractat vom 11. April die
Negel aufstellten, jeden, der nicht für die Coalition sei, als Feind zu behan¬
deln. Die berliner Staatsmänner waren der Meinung, daß es Preußens
Beruf sei, den drohenden Brand diplomatisch zu löschen; sie machten auch in
der That Preußen zum Briefträger des Ultimatums, das die Coalition an
Bonaparte stellte. So kam es, daß Preußen in Berlin, Petersburg und Wien
als bonapartistisch gesinnt galt und in Paris seine Hinneigung zu Rußland
geargwohnt wurde. Die preußische Politik war aber in der That ganz ehr¬
lich, nur blieb sie völlig isolirt. Als endlich der Kampf ausbrechen sollte,
bot Napoleon Preußen als Preis für die Allianz mit Frankreich Hannover.
Es war dies ein großer Gewinn für die Macht und Abrundung des preußi¬
schen Staats. Aber wenn Preußen einerseits die rechte Kraft zum Guten
fehlte, besaß es auch andererseits nicht den entschlossenen Muth des Schlechten.
Der preußische Minister Hardenberg zwar griff begierig zu und stellte zu¬
gleich dem König vor, daß, wenn Preußen mit Frankreich ginge, Oestreich und
Nußland das Schwert in der Scheide behalten würden; aber er scheiterte für
jetzt an der Gewissenhaftigkeit Friedrich Wilhelms III.

Napoleon überschritt den Rhein. Die südwestdeutschen Fürsten und Baiern
schlossen sich ihm an. In seiner Proclamation an die bairische Armee, die


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[0116] Werth einer selbstständigen Existenz nach den gemeinsten Vortheilen ab¬ gewogen wird, dann ist die Sklaverei vollendet, noch ehe der Unterdrücker er¬ schien, der Staat ausgelöst, noch ehe er sichtbar zusammenstürzt." Die besol¬ deten und unbesoldeten Franzosenfrcunde sprachen damals viel von der „uner¬ träglichen Selbstsucht Englands, von dem Handels- und Jndustriemonopol des Krämervolkes, von seiner absoluten Unverträglichkeit mit den übrigen Nationen." Allerdings führten die Engländer den Weltkampf mit Frankreich mit einem großen, thatkräftigen Egoismus, den Bonaparte haßte, aber nicht verachtete; die Deutschen dagegen besaßen statt der Selbstsucht einen Wust kleinlicher Selbstsüchteleien, die sie nicht einmal zu einem gemeinsamen Egois¬ mus kommen ließen. Gentz äußerte damals: „Wie dieFürsten ihre Völker erziehen, so bilden umgekehrt die Völker ihre Fürsten." Ohne die Verblendung, Verkehrtheit und Erschlaffung des deutschen Volkes, hätten die Regierungen Deutschland in eine Verworrenheit, wie die damalige, nicht stürzen können. Im Jahre 1803 ermannte sich Oestreich. Es trat der Coalition Englands, Rußlands und Schwedens gegen Bonaparte bei. Gentz schrieb damals: „Eine treue Verbindung zwischen Oestreich und Preußen ist Deutschlands letzte und gleichsam sterbende Hoffnung. Wenn Oestreich und Preußen auf einer Linie stehen, gibt es nirgends in Deutschland ein abgesondertes Interesse mehr." Aber Preußen blieb neutral, obgleich der Krieg dicht an seinen Grenzen be¬ vorstand, obgleich Nußland und Oestreich in ihrem Tractat vom 11. April die Negel aufstellten, jeden, der nicht für die Coalition sei, als Feind zu behan¬ deln. Die berliner Staatsmänner waren der Meinung, daß es Preußens Beruf sei, den drohenden Brand diplomatisch zu löschen; sie machten auch in der That Preußen zum Briefträger des Ultimatums, das die Coalition an Bonaparte stellte. So kam es, daß Preußen in Berlin, Petersburg und Wien als bonapartistisch gesinnt galt und in Paris seine Hinneigung zu Rußland geargwohnt wurde. Die preußische Politik war aber in der That ganz ehr¬ lich, nur blieb sie völlig isolirt. Als endlich der Kampf ausbrechen sollte, bot Napoleon Preußen als Preis für die Allianz mit Frankreich Hannover. Es war dies ein großer Gewinn für die Macht und Abrundung des preußi¬ schen Staats. Aber wenn Preußen einerseits die rechte Kraft zum Guten fehlte, besaß es auch andererseits nicht den entschlossenen Muth des Schlechten. Der preußische Minister Hardenberg zwar griff begierig zu und stellte zu¬ gleich dem König vor, daß, wenn Preußen mit Frankreich ginge, Oestreich und Nußland das Schwert in der Scheide behalten würden; aber er scheiterte für jetzt an der Gewissenhaftigkeit Friedrich Wilhelms III. Napoleon überschritt den Rhein. Die südwestdeutschen Fürsten und Baiern schlossen sich ihm an. In seiner Proclamation an die bairische Armee, die

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341580_100453/116>, abgerufen am 26.08.2024.