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Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, II. Semester. IV. Band.

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Gleichgewicht zu erhalten"; zugleich ließ sich Nußland aus Rücksichten dynasti¬
scher Freundschaft und Verwandtschaft für Baiern, Würtemberg und Baden be¬
sonders günstige Entschädigungen versprechen. In Deutschland selbst befand
sich alles in dem Schwanken ungewisser Zustände; die materielle Bedrängnis)
und die Stockung des Verkehrs dauerte auch nach dem Frieden fort; der Han¬
del am Rhein lag völlig darnieder und die neue Grenze gegen Frankreich führte
zahllose Quälereien herbei. Am Rhein, am Main und an der Lahn stellten
sich Zustände ein, die an die Zeiten des dreißigjährigen Krieges erinnerten; be¬
waffnete Räuberbanden zogen umher, raubten und plünderten. Die ober- und
kurrheinischen Stände mußten ein kleines Truppencorps aufbieten, um auf offe¬
ner Heerstraße wieder einige Ordnung herzustellen. Am 25. Februar 1803
kam endlich in Betreff der Entschädigungen der Reichsdeputationshauptschluß
zu Stande, welcher die alten Ordnungen des Reiches für immer auflöste.
Bonaparte hatte bei den obschwebenden Verhandlungen mit Erfolg die Taktik
angewendet, die kleinen Fürsten durch Verträge an sich zu knüpfen, Preußen,
soweit es der eigne Vortheil Frankreichs zuließ, zu befriedigen, Rußland unter
dem Schein der Mitwirkung ins Schlepptau zu nehmen und Oestreich zu iso-
liren, daß es die französischen Vorschläge wie Dictate anzunehmen gezwungen
war. Mit dem Hauptschluß von -1803 hörte "das heilige römische Reich deutscher
Nation" thatsächlich auf. Von allen geistlichen Fürsten und Körperschaften
blieben nur der Kurerzkanzler von Mainz und die beiden Ritterorden, von
sämmtlichen Reichsstädten nur sechs bestehen; die Neichsritterschaft wurde mit
leeren Versprechungen abgefunden, die niemals erfüllt wurden. Der mittel¬
alterliche Kaiser sah sich von einem protestantischen Kurcollegium, von einem
protestantischen Fürstenrathe umgeben; das geistliche Fürstenthum, der eigent¬
liche Ausdruck der staatlichkirchlichen Ordnung des alten Reiches, war bis auf
kümmerliche Reste verschwunden. Der feudale Verband zwischen Kaiser und
Reichsfürsten löste sich nun vollends; die Institute, welche als Gegenge¬
wicht gegen die Einzelsouveränität dienen sollten, wie die Kreisordnung, waren
mit der neuen Ordnung der Dinge nicht mehr vereinbar. Oestreich war nach
Osten zurückgeschoben und dort arrondirt, Preußen im Norden vergrößert,
der Süden und Südwesten Deutschlands in besondere Staatengruppen formirt,
deren Lage und Interesse sie mit Frankreich eng verknüpfte. Ueberall waren
die landesherrlichen Gewalten durchaus selbstständig.

Das deutsche Volk sah diese Umwälzung ohne Bedauern, erblickte viel¬
mehr in ihr eine entschiedene Wendung zum Besseren. Uebrigens war diese
Umwälzung nicht von den Massen, sondern von den fürstlichen Dynastien aus¬
gegangen. Die revolutionären Ideen gewaltsamer Abänderung und Gleich¬
macherei, welche seit 1789 das feudale Frankreich umgestalteten, wurden von
den deutschen Fürsten jetzt auf die deutschen Verhältnisse übertragen. Die ort-


Gleichgewicht zu erhalten"; zugleich ließ sich Nußland aus Rücksichten dynasti¬
scher Freundschaft und Verwandtschaft für Baiern, Würtemberg und Baden be¬
sonders günstige Entschädigungen versprechen. In Deutschland selbst befand
sich alles in dem Schwanken ungewisser Zustände; die materielle Bedrängnis)
und die Stockung des Verkehrs dauerte auch nach dem Frieden fort; der Han¬
del am Rhein lag völlig darnieder und die neue Grenze gegen Frankreich führte
zahllose Quälereien herbei. Am Rhein, am Main und an der Lahn stellten
sich Zustände ein, die an die Zeiten des dreißigjährigen Krieges erinnerten; be¬
waffnete Räuberbanden zogen umher, raubten und plünderten. Die ober- und
kurrheinischen Stände mußten ein kleines Truppencorps aufbieten, um auf offe¬
ner Heerstraße wieder einige Ordnung herzustellen. Am 25. Februar 1803
kam endlich in Betreff der Entschädigungen der Reichsdeputationshauptschluß
zu Stande, welcher die alten Ordnungen des Reiches für immer auflöste.
Bonaparte hatte bei den obschwebenden Verhandlungen mit Erfolg die Taktik
angewendet, die kleinen Fürsten durch Verträge an sich zu knüpfen, Preußen,
soweit es der eigne Vortheil Frankreichs zuließ, zu befriedigen, Rußland unter
dem Schein der Mitwirkung ins Schlepptau zu nehmen und Oestreich zu iso-
liren, daß es die französischen Vorschläge wie Dictate anzunehmen gezwungen
war. Mit dem Hauptschluß von -1803 hörte „das heilige römische Reich deutscher
Nation" thatsächlich auf. Von allen geistlichen Fürsten und Körperschaften
blieben nur der Kurerzkanzler von Mainz und die beiden Ritterorden, von
sämmtlichen Reichsstädten nur sechs bestehen; die Neichsritterschaft wurde mit
leeren Versprechungen abgefunden, die niemals erfüllt wurden. Der mittel¬
alterliche Kaiser sah sich von einem protestantischen Kurcollegium, von einem
protestantischen Fürstenrathe umgeben; das geistliche Fürstenthum, der eigent¬
liche Ausdruck der staatlichkirchlichen Ordnung des alten Reiches, war bis auf
kümmerliche Reste verschwunden. Der feudale Verband zwischen Kaiser und
Reichsfürsten löste sich nun vollends; die Institute, welche als Gegenge¬
wicht gegen die Einzelsouveränität dienen sollten, wie die Kreisordnung, waren
mit der neuen Ordnung der Dinge nicht mehr vereinbar. Oestreich war nach
Osten zurückgeschoben und dort arrondirt, Preußen im Norden vergrößert,
der Süden und Südwesten Deutschlands in besondere Staatengruppen formirt,
deren Lage und Interesse sie mit Frankreich eng verknüpfte. Ueberall waren
die landesherrlichen Gewalten durchaus selbstständig.

Das deutsche Volk sah diese Umwälzung ohne Bedauern, erblickte viel¬
mehr in ihr eine entschiedene Wendung zum Besseren. Uebrigens war diese
Umwälzung nicht von den Massen, sondern von den fürstlichen Dynastien aus¬
gegangen. Die revolutionären Ideen gewaltsamer Abänderung und Gleich¬
macherei, welche seit 1789 das feudale Frankreich umgestalteten, wurden von
den deutschen Fürsten jetzt auf die deutschen Verhältnisse übertragen. Die ort-


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[0110] Gleichgewicht zu erhalten"; zugleich ließ sich Nußland aus Rücksichten dynasti¬ scher Freundschaft und Verwandtschaft für Baiern, Würtemberg und Baden be¬ sonders günstige Entschädigungen versprechen. In Deutschland selbst befand sich alles in dem Schwanken ungewisser Zustände; die materielle Bedrängnis) und die Stockung des Verkehrs dauerte auch nach dem Frieden fort; der Han¬ del am Rhein lag völlig darnieder und die neue Grenze gegen Frankreich führte zahllose Quälereien herbei. Am Rhein, am Main und an der Lahn stellten sich Zustände ein, die an die Zeiten des dreißigjährigen Krieges erinnerten; be¬ waffnete Räuberbanden zogen umher, raubten und plünderten. Die ober- und kurrheinischen Stände mußten ein kleines Truppencorps aufbieten, um auf offe¬ ner Heerstraße wieder einige Ordnung herzustellen. Am 25. Februar 1803 kam endlich in Betreff der Entschädigungen der Reichsdeputationshauptschluß zu Stande, welcher die alten Ordnungen des Reiches für immer auflöste. Bonaparte hatte bei den obschwebenden Verhandlungen mit Erfolg die Taktik angewendet, die kleinen Fürsten durch Verträge an sich zu knüpfen, Preußen, soweit es der eigne Vortheil Frankreichs zuließ, zu befriedigen, Rußland unter dem Schein der Mitwirkung ins Schlepptau zu nehmen und Oestreich zu iso- liren, daß es die französischen Vorschläge wie Dictate anzunehmen gezwungen war. Mit dem Hauptschluß von -1803 hörte „das heilige römische Reich deutscher Nation" thatsächlich auf. Von allen geistlichen Fürsten und Körperschaften blieben nur der Kurerzkanzler von Mainz und die beiden Ritterorden, von sämmtlichen Reichsstädten nur sechs bestehen; die Neichsritterschaft wurde mit leeren Versprechungen abgefunden, die niemals erfüllt wurden. Der mittel¬ alterliche Kaiser sah sich von einem protestantischen Kurcollegium, von einem protestantischen Fürstenrathe umgeben; das geistliche Fürstenthum, der eigent¬ liche Ausdruck der staatlichkirchlichen Ordnung des alten Reiches, war bis auf kümmerliche Reste verschwunden. Der feudale Verband zwischen Kaiser und Reichsfürsten löste sich nun vollends; die Institute, welche als Gegenge¬ wicht gegen die Einzelsouveränität dienen sollten, wie die Kreisordnung, waren mit der neuen Ordnung der Dinge nicht mehr vereinbar. Oestreich war nach Osten zurückgeschoben und dort arrondirt, Preußen im Norden vergrößert, der Süden und Südwesten Deutschlands in besondere Staatengruppen formirt, deren Lage und Interesse sie mit Frankreich eng verknüpfte. Ueberall waren die landesherrlichen Gewalten durchaus selbstständig. Das deutsche Volk sah diese Umwälzung ohne Bedauern, erblickte viel¬ mehr in ihr eine entschiedene Wendung zum Besseren. Uebrigens war diese Umwälzung nicht von den Massen, sondern von den fürstlichen Dynastien aus¬ gegangen. Die revolutionären Ideen gewaltsamer Abänderung und Gleich¬ macherei, welche seit 1789 das feudale Frankreich umgestalteten, wurden von den deutschen Fürsten jetzt auf die deutschen Verhältnisse übertragen. Die ort-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341580_100453/110>, abgerufen am 26.08.2024.