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Die Grenzboten. Jg. 13, 1854, I. Semester. II. Band.

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Ein Nachmittag im englischen Unterhanss.

Es ist fünf Minuten vor Uhr. Die geräumige Halle ist gekehrt und
überall herrscht ein feierliches Schweige". Wenn es noch Heller Tag ist, sieht das
Unterhaus fast wie ein Theater bei Tageslicht aus. Ist eine interessante Debatte
zu erwarten, so findet sich immer eine Anzahl Mitglieder ein, die von plötzlicher
Frömmigkeit befallen schon jetzt im Hause erscheinen um bei dem täglichen Gebet
gegenwärtig zu sein, mit welchem die Sitzung eröffnet wird -- weil sie in diesem
Falle das Recht haben, ihre Karte auf einen beliebigen Platz zu heften, der ihnen
dann bleibt. Nach dem Gebet können keine Plätze mehr belegt werden. Für
gewöhnlich ist ein halbes Dutzend eine zahlreiche Versammlung. Bald daraus
stellen sich in Perücke und Talar die drei Schriftführer ein, welche in einer Reihe
an der großen Tafel sitzen, welche die beiden ersten Bänke der Ministeriellen und
der Oppositionsseitc voneinander scheidet. Zehn Minuten vor vier Uhr werden die
Flügelthüren weit geöffnet und eine laute Stimme ruft: "Der Herr Sprecher." Alle
Mitglieder stehen ans und nehmen den Hut ab, während der erste Commvner von
England, Mr. Shaw Lefebre, eine stattliche Gestalt, von mehr als durchschnitt¬
licher Mannesgröße, durch den Saal schreitet, begleitet von dem Sergeant at Arms
mit dem Scepter, und beide verbeugen sich dreimal -- einmal vor den Schranken,
einmal in der Mitte des Hauses und einmal an der Tafel. Der Sprecher nimmt
auf einem der Stühle der Secretäre ans der rechten Seite der Tafel Platz; das
Scepter wird auf die Tafel gelegt, und nach einer feierlichen Pause erscheint der Kaplan,
macht die drei herkömmlichen Verbeugungen, und entfernt sich wieder, nachdem er
das Gebet gesprochen, rückwärts schreitend mit denselben drei Verbeugungen.
Die Thüren, die während des Gebets geschlossen sind, werden jetzt wieder geöffnet
und der immer noch an' der Tafel sitzende Sprecher zählt die anwesenden Mit¬
glieder und diejenige", welche noch hereintreten, bis er die Zahl 39 erreicht, wo
er dann sich selbst eine Art Verbeugung macht, mit lauter honorer Stimme das
Wort: "vierzig" spricht, vou der Tafel aufsteht und seinen Platz auf dem erhöhten
mit einem Baldachin überdachten Sitz am Ende der Tafel einnimmt. Bis vor


Grenzboten. II. I8si. > 1
Ein Nachmittag im englischen Unterhanss.

Es ist fünf Minuten vor Uhr. Die geräumige Halle ist gekehrt und
überall herrscht ein feierliches Schweige». Wenn es noch Heller Tag ist, sieht das
Unterhaus fast wie ein Theater bei Tageslicht aus. Ist eine interessante Debatte
zu erwarten, so findet sich immer eine Anzahl Mitglieder ein, die von plötzlicher
Frömmigkeit befallen schon jetzt im Hause erscheinen um bei dem täglichen Gebet
gegenwärtig zu sein, mit welchem die Sitzung eröffnet wird — weil sie in diesem
Falle das Recht haben, ihre Karte auf einen beliebigen Platz zu heften, der ihnen
dann bleibt. Nach dem Gebet können keine Plätze mehr belegt werden. Für
gewöhnlich ist ein halbes Dutzend eine zahlreiche Versammlung. Bald daraus
stellen sich in Perücke und Talar die drei Schriftführer ein, welche in einer Reihe
an der großen Tafel sitzen, welche die beiden ersten Bänke der Ministeriellen und
der Oppositionsseitc voneinander scheidet. Zehn Minuten vor vier Uhr werden die
Flügelthüren weit geöffnet und eine laute Stimme ruft: „Der Herr Sprecher." Alle
Mitglieder stehen ans und nehmen den Hut ab, während der erste Commvner von
England, Mr. Shaw Lefebre, eine stattliche Gestalt, von mehr als durchschnitt¬
licher Mannesgröße, durch den Saal schreitet, begleitet von dem Sergeant at Arms
mit dem Scepter, und beide verbeugen sich dreimal — einmal vor den Schranken,
einmal in der Mitte des Hauses und einmal an der Tafel. Der Sprecher nimmt
auf einem der Stühle der Secretäre ans der rechten Seite der Tafel Platz; das
Scepter wird auf die Tafel gelegt, und nach einer feierlichen Pause erscheint der Kaplan,
macht die drei herkömmlichen Verbeugungen, und entfernt sich wieder, nachdem er
das Gebet gesprochen, rückwärts schreitend mit denselben drei Verbeugungen.
Die Thüren, die während des Gebets geschlossen sind, werden jetzt wieder geöffnet
und der immer noch an' der Tafel sitzende Sprecher zählt die anwesenden Mit¬
glieder und diejenige», welche noch hereintreten, bis er die Zahl 39 erreicht, wo
er dann sich selbst eine Art Verbeugung macht, mit lauter honorer Stimme das
Wort: „vierzig" spricht, vou der Tafel aufsteht und seinen Platz auf dem erhöhten
mit einem Baldachin überdachten Sitz am Ende der Tafel einnimmt. Bis vor


Grenzboten. II. I8si. > 1
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[0009] Ein Nachmittag im englischen Unterhanss. Es ist fünf Minuten vor Uhr. Die geräumige Halle ist gekehrt und überall herrscht ein feierliches Schweige». Wenn es noch Heller Tag ist, sieht das Unterhaus fast wie ein Theater bei Tageslicht aus. Ist eine interessante Debatte zu erwarten, so findet sich immer eine Anzahl Mitglieder ein, die von plötzlicher Frömmigkeit befallen schon jetzt im Hause erscheinen um bei dem täglichen Gebet gegenwärtig zu sein, mit welchem die Sitzung eröffnet wird — weil sie in diesem Falle das Recht haben, ihre Karte auf einen beliebigen Platz zu heften, der ihnen dann bleibt. Nach dem Gebet können keine Plätze mehr belegt werden. Für gewöhnlich ist ein halbes Dutzend eine zahlreiche Versammlung. Bald daraus stellen sich in Perücke und Talar die drei Schriftführer ein, welche in einer Reihe an der großen Tafel sitzen, welche die beiden ersten Bänke der Ministeriellen und der Oppositionsseitc voneinander scheidet. Zehn Minuten vor vier Uhr werden die Flügelthüren weit geöffnet und eine laute Stimme ruft: „Der Herr Sprecher." Alle Mitglieder stehen ans und nehmen den Hut ab, während der erste Commvner von England, Mr. Shaw Lefebre, eine stattliche Gestalt, von mehr als durchschnitt¬ licher Mannesgröße, durch den Saal schreitet, begleitet von dem Sergeant at Arms mit dem Scepter, und beide verbeugen sich dreimal — einmal vor den Schranken, einmal in der Mitte des Hauses und einmal an der Tafel. Der Sprecher nimmt auf einem der Stühle der Secretäre ans der rechten Seite der Tafel Platz; das Scepter wird auf die Tafel gelegt, und nach einer feierlichen Pause erscheint der Kaplan, macht die drei herkömmlichen Verbeugungen, und entfernt sich wieder, nachdem er das Gebet gesprochen, rückwärts schreitend mit denselben drei Verbeugungen. Die Thüren, die während des Gebets geschlossen sind, werden jetzt wieder geöffnet und der immer noch an' der Tafel sitzende Sprecher zählt die anwesenden Mit¬ glieder und diejenige», welche noch hereintreten, bis er die Zahl 39 erreicht, wo er dann sich selbst eine Art Verbeugung macht, mit lauter honorer Stimme das Wort: „vierzig" spricht, vou der Tafel aufsteht und seinen Platz auf dem erhöhten mit einem Baldachin überdachten Sitz am Ende der Tafel einnimmt. Bis vor Grenzboten. II. I8si. > 1

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 13, 1854, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341578_97779/8>, abgerufen am 03.07.2024.