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Die Grenzboten. Jg. 13, 1854, I. Semester. II. Band.

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Shakespeares Kaufmann von Venedig, ein Versuch über die sogcimnte Idee
dieser Komödie von N. A. C. Hehler. Bern, Huber n. Comp. --

Das Büchlein ist ein schätzenswerther Beitrag zum Verständniß Shakespeares.
Es stellt mehre neue Gesichtspunkte ans Licht und es gibt andern, die bereits
von früheren Kritikern angedeutet worden sind, einen deutlicheren Ausdruck.
Allein es leidet auch an dem Fehler, dem die meisten Shakespearekritiker ver¬
fallen. Einmal sucht es durch das ganze Drama hindurch eine bestimmte sittliche
Idee festzuhalten, sodann bemüht es sich, alles Einzelne als vollkommen begründet
zu rechtfertigen. Was das erste betrifft, so weist der Verfasser ganz richtig nach,
daß die sogenannte Moral eines Dramas, der bei den individuellen Ausführungen
festgehaltene allgemeine Gedanke, wenigstens nicht die Hauptsache sein kann.
Allein ohne es selber zu wollen kommt er bei der weiteren Deduction doch darauf,
daß allen den verschiedenen Elementen, die Shakespeare in diesem Drama com-
binirt hat, die nämliche Tendenz zu Grunde liegt, nämlich der Kampf gegen den
Schein. Bekanntlich ist diese Ansicht bereits von Gervinus ausgestellt worden,
und es ist unzweifelhaft viel Richtiges darin. Nur würden wir diese Idee nicht
grade charakteristisch für das gegenwärtige Drama nennen, da sie den meisten
Dramen Shakespeares zu Grnnde liegt. Außerdem ist es noch keine genügende
ästhetische Rechtfertigung für die Verarbeitung zweier verschiedenen Begebenheiten
in ein Stück, wenn man nachweist, daß beide ans die nämliche Lehre Heraus¬
kommen. Es kommt in unserer Zeit nicht mehr darauf an, nachzuweisen, daß
Shakespeare ein großer Dichter ist, groß auch im Kleinen; das weiß bereits jedes
Kind. Es scheint uns vielmehr viel wichtiger, ans den Werken des größten
dramatischen Dichters aller Zeiten die bleibenden Gesetze für die dramatische Kunst
herzuleiten, nicht als Recepte für angehende Theaterdichter, sondern in dem Sinn,
wie man aus der Betrachtung eines Naturproducts die physiologischen Gesetze
herleitet. Nur ist dabei ein Unterschied festzuhalten: die Natur irrt nie, während
in der Kunst auch der größte Genius dem Irrthum ausgesetzt ist. Man muß
daher, indem man die dramatischen Gesetze ans Shakespeare entwickelt, das Be¬
wußtsein derselben gewissermaßen schon mitbringen; denn der Dichter darf für
unsere Theorie nur die Anregung geben, er darf uns nur an das in unsrem Be¬
wußtsein liegende Gesetz erinnern.

Der Kaufmann von Venedig bietet namentlich Gelegenheit zu einer in unsrer
Theorie noch nicht gründlich genug verarbeiteten Frage, wieweit innerhalb der
Komödie das tragische Moment berechtigt ist. Wenn wir hier ein unbefangenes
Urtheil abgeben sollen, so müssen wir zunächst die Verschiedenheit der Shake-
speareschen Voraussetzungen von den unsrigen in Rechnung bringen. In unsrer


Zur Shakefpeareliteratnr.

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Shakespeares Kaufmann von Venedig, ein Versuch über die sogcimnte Idee
dieser Komödie von N. A. C. Hehler. Bern, Huber n. Comp. —

Das Büchlein ist ein schätzenswerther Beitrag zum Verständniß Shakespeares.
Es stellt mehre neue Gesichtspunkte ans Licht und es gibt andern, die bereits
von früheren Kritikern angedeutet worden sind, einen deutlicheren Ausdruck.
Allein es leidet auch an dem Fehler, dem die meisten Shakespearekritiker ver¬
fallen. Einmal sucht es durch das ganze Drama hindurch eine bestimmte sittliche
Idee festzuhalten, sodann bemüht es sich, alles Einzelne als vollkommen begründet
zu rechtfertigen. Was das erste betrifft, so weist der Verfasser ganz richtig nach,
daß die sogenannte Moral eines Dramas, der bei den individuellen Ausführungen
festgehaltene allgemeine Gedanke, wenigstens nicht die Hauptsache sein kann.
Allein ohne es selber zu wollen kommt er bei der weiteren Deduction doch darauf,
daß allen den verschiedenen Elementen, die Shakespeare in diesem Drama com-
binirt hat, die nämliche Tendenz zu Grunde liegt, nämlich der Kampf gegen den
Schein. Bekanntlich ist diese Ansicht bereits von Gervinus ausgestellt worden,
und es ist unzweifelhaft viel Richtiges darin. Nur würden wir diese Idee nicht
grade charakteristisch für das gegenwärtige Drama nennen, da sie den meisten
Dramen Shakespeares zu Grnnde liegt. Außerdem ist es noch keine genügende
ästhetische Rechtfertigung für die Verarbeitung zweier verschiedenen Begebenheiten
in ein Stück, wenn man nachweist, daß beide ans die nämliche Lehre Heraus¬
kommen. Es kommt in unserer Zeit nicht mehr darauf an, nachzuweisen, daß
Shakespeare ein großer Dichter ist, groß auch im Kleinen; das weiß bereits jedes
Kind. Es scheint uns vielmehr viel wichtiger, ans den Werken des größten
dramatischen Dichters aller Zeiten die bleibenden Gesetze für die dramatische Kunst
herzuleiten, nicht als Recepte für angehende Theaterdichter, sondern in dem Sinn,
wie man aus der Betrachtung eines Naturproducts die physiologischen Gesetze
herleitet. Nur ist dabei ein Unterschied festzuhalten: die Natur irrt nie, während
in der Kunst auch der größte Genius dem Irrthum ausgesetzt ist. Man muß
daher, indem man die dramatischen Gesetze ans Shakespeare entwickelt, das Be¬
wußtsein derselben gewissermaßen schon mitbringen; denn der Dichter darf für
unsere Theorie nur die Anregung geben, er darf uns nur an das in unsrem Be¬
wußtsein liegende Gesetz erinnern.

Der Kaufmann von Venedig bietet namentlich Gelegenheit zu einer in unsrer
Theorie noch nicht gründlich genug verarbeiteten Frage, wieweit innerhalb der
Komödie das tragische Moment berechtigt ist. Wenn wir hier ein unbefangenes
Urtheil abgeben sollen, so müssen wir zunächst die Verschiedenheit der Shake-
speareschen Voraussetzungen von den unsrigen in Rechnung bringen. In unsrer


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[0056] Zur Shakefpeareliteratnr. . Shakespeares Kaufmann von Venedig, ein Versuch über die sogcimnte Idee dieser Komödie von N. A. C. Hehler. Bern, Huber n. Comp. — Das Büchlein ist ein schätzenswerther Beitrag zum Verständniß Shakespeares. Es stellt mehre neue Gesichtspunkte ans Licht und es gibt andern, die bereits von früheren Kritikern angedeutet worden sind, einen deutlicheren Ausdruck. Allein es leidet auch an dem Fehler, dem die meisten Shakespearekritiker ver¬ fallen. Einmal sucht es durch das ganze Drama hindurch eine bestimmte sittliche Idee festzuhalten, sodann bemüht es sich, alles Einzelne als vollkommen begründet zu rechtfertigen. Was das erste betrifft, so weist der Verfasser ganz richtig nach, daß die sogenannte Moral eines Dramas, der bei den individuellen Ausführungen festgehaltene allgemeine Gedanke, wenigstens nicht die Hauptsache sein kann. Allein ohne es selber zu wollen kommt er bei der weiteren Deduction doch darauf, daß allen den verschiedenen Elementen, die Shakespeare in diesem Drama com- binirt hat, die nämliche Tendenz zu Grunde liegt, nämlich der Kampf gegen den Schein. Bekanntlich ist diese Ansicht bereits von Gervinus ausgestellt worden, und es ist unzweifelhaft viel Richtiges darin. Nur würden wir diese Idee nicht grade charakteristisch für das gegenwärtige Drama nennen, da sie den meisten Dramen Shakespeares zu Grnnde liegt. Außerdem ist es noch keine genügende ästhetische Rechtfertigung für die Verarbeitung zweier verschiedenen Begebenheiten in ein Stück, wenn man nachweist, daß beide ans die nämliche Lehre Heraus¬ kommen. Es kommt in unserer Zeit nicht mehr darauf an, nachzuweisen, daß Shakespeare ein großer Dichter ist, groß auch im Kleinen; das weiß bereits jedes Kind. Es scheint uns vielmehr viel wichtiger, ans den Werken des größten dramatischen Dichters aller Zeiten die bleibenden Gesetze für die dramatische Kunst herzuleiten, nicht als Recepte für angehende Theaterdichter, sondern in dem Sinn, wie man aus der Betrachtung eines Naturproducts die physiologischen Gesetze herleitet. Nur ist dabei ein Unterschied festzuhalten: die Natur irrt nie, während in der Kunst auch der größte Genius dem Irrthum ausgesetzt ist. Man muß daher, indem man die dramatischen Gesetze ans Shakespeare entwickelt, das Be¬ wußtsein derselben gewissermaßen schon mitbringen; denn der Dichter darf für unsere Theorie nur die Anregung geben, er darf uns nur an das in unsrem Be¬ wußtsein liegende Gesetz erinnern. Der Kaufmann von Venedig bietet namentlich Gelegenheit zu einer in unsrer Theorie noch nicht gründlich genug verarbeiteten Frage, wieweit innerhalb der Komödie das tragische Moment berechtigt ist. Wenn wir hier ein unbefangenes Urtheil abgeben sollen, so müssen wir zunächst die Verschiedenheit der Shake- speareschen Voraussetzungen von den unsrigen in Rechnung bringen. In unsrer

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 13, 1854, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341578_97779/55>, abgerufen am 01.07.2024.