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Die Grenzboten. Jg. 13, 1854, I. Semester. II. Band.

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seit der Zeit Cardcnios entledigt zu haben glaubte, treten uns in noch viel wider¬
wärtigerem Lichte auf dem Boden der modernen Gesellschaft entgegen, und was
das Unangenehmste ist, so widerlich und fratzenhaft jeder einzelne Zug erscheint,
wir werden doch überall an das Vorbild erinnert. In Mignon ist jeder Zug
Poetisch, weil Goethe grade uur diejenige" Momente ausgewählt hat, die poetisch
erscheinen können, weil er nur skizzirt, die Tiefe der Seele uur ahnungsvoll an¬
gedeutet hat. Immermann ist aber bis in die körperlichen Motive und Veran¬
lassungen herabgestiegen, und aus der dunklen, poetische", für uns unauflösbaren
Erscheinung ist ein anatomisches Präparat geworden, das sich in unheimlichen,
galvanischen Zuckungen bewegt. -- Nicht minder finster und unheimlich erscheinen
die andern Partien des Gemäldes. -- Der Grund davon liegt vielleicht weniger
in dem, was erzählt wird, als in der Stimmung, mit der der Dichter es auffaßt.
Seine Sympathien und seine Ueberzeugungen sind in beständigem Kriege unter-
einander. Wenn Goethe den gebildeten Theil der Aristokratie als diejenige Classe
der Gesellschaft auffaßte, welche seinem Ideal der Humanität wenigstens am nächsten
kam, so war das in deu Verhältnissen seiner Zeit, in seiner eignen Individualität
und in der ganz exceptionellen Stellung, welche er innerhalb der Gesellschaft ein¬
nahm, vollkommen begründet. Er hatte keine Wahl. Außerhalb der Aristokratie
und der Künstlerwelt gab es damals in Deutschland keine Gesellschaft. Aber
Immermann schildert mit treffenden Zügen und fast schreienden Farben die innere
Hohlheit, ja die Unmöglichkeit dieser Aristokratie, und er weiß für die große selbst¬
ständige Bedeutung des Bürgerthums einen entsprechenden individuellen Ausdruck
zu finden. Dennoch, sobald er seinem Gefühl einmal freie Lust läßt, tritt eine ganz
entschiedene Vorliebe für die höhere Gesellschaft und eine ebenso entschiedene Ab¬
neigung gegen das Bürgerthum hervor. Bei einem einfachen Romantiker oder
einem Gesühlödichter würde man auch das uoch gern ertragen, denn auch das
Verfallende bietet häufig sehr anziehende Seiten; aber bei einer durchaus reflec-
tirenden Natur, die alle unmittelbaren Eindrücke anf das ängstlichste zerlegt und
auseiuanderzieht, macht eine solche Unklarheit der Stimmung einen höchst ver¬
letzenden Eindruck. Das Resultat ist ein trostloses, eine vollständige Nieder¬
geschlagenheit, ein mattes und kränkliches Verzagen an aller Gegenwart.

Der gräuliche Ausgang der hier, geschilderten bürgerlichen Gesellschaft wird
durch nichts versöhnt und gemildert. Es ist nicht nur nichts Tragisches darin,
sondern ein starker Beischmack von Lächerlichkeit. Und mit dem Ausgang der
adligen Welt ist es nicht anders. Die Mischung von Lächerlichkeit und Gut¬
müthigkeit, von phantastischem und verständigem Wesen ist so unauflösbar, daß
kein reines Gefühl in uns auskommt.

Wir wollen den Roman noch von einer andern Seite betrachten. Wenn
anch der Dichter die Gegenwart in den finstersten Farben schilderte, so mußte er
uns doch irgend eine Perspective in die Zukunft eröffnen, er mußte unser Gefühl


seit der Zeit Cardcnios entledigt zu haben glaubte, treten uns in noch viel wider¬
wärtigerem Lichte auf dem Boden der modernen Gesellschaft entgegen, und was
das Unangenehmste ist, so widerlich und fratzenhaft jeder einzelne Zug erscheint,
wir werden doch überall an das Vorbild erinnert. In Mignon ist jeder Zug
Poetisch, weil Goethe grade uur diejenige» Momente ausgewählt hat, die poetisch
erscheinen können, weil er nur skizzirt, die Tiefe der Seele uur ahnungsvoll an¬
gedeutet hat. Immermann ist aber bis in die körperlichen Motive und Veran¬
lassungen herabgestiegen, und aus der dunklen, poetische«, für uns unauflösbaren
Erscheinung ist ein anatomisches Präparat geworden, das sich in unheimlichen,
galvanischen Zuckungen bewegt. — Nicht minder finster und unheimlich erscheinen
die andern Partien des Gemäldes. — Der Grund davon liegt vielleicht weniger
in dem, was erzählt wird, als in der Stimmung, mit der der Dichter es auffaßt.
Seine Sympathien und seine Ueberzeugungen sind in beständigem Kriege unter-
einander. Wenn Goethe den gebildeten Theil der Aristokratie als diejenige Classe
der Gesellschaft auffaßte, welche seinem Ideal der Humanität wenigstens am nächsten
kam, so war das in deu Verhältnissen seiner Zeit, in seiner eignen Individualität
und in der ganz exceptionellen Stellung, welche er innerhalb der Gesellschaft ein¬
nahm, vollkommen begründet. Er hatte keine Wahl. Außerhalb der Aristokratie
und der Künstlerwelt gab es damals in Deutschland keine Gesellschaft. Aber
Immermann schildert mit treffenden Zügen und fast schreienden Farben die innere
Hohlheit, ja die Unmöglichkeit dieser Aristokratie, und er weiß für die große selbst¬
ständige Bedeutung des Bürgerthums einen entsprechenden individuellen Ausdruck
zu finden. Dennoch, sobald er seinem Gefühl einmal freie Lust läßt, tritt eine ganz
entschiedene Vorliebe für die höhere Gesellschaft und eine ebenso entschiedene Ab¬
neigung gegen das Bürgerthum hervor. Bei einem einfachen Romantiker oder
einem Gesühlödichter würde man auch das uoch gern ertragen, denn auch das
Verfallende bietet häufig sehr anziehende Seiten; aber bei einer durchaus reflec-
tirenden Natur, die alle unmittelbaren Eindrücke anf das ängstlichste zerlegt und
auseiuanderzieht, macht eine solche Unklarheit der Stimmung einen höchst ver¬
letzenden Eindruck. Das Resultat ist ein trostloses, eine vollständige Nieder¬
geschlagenheit, ein mattes und kränkliches Verzagen an aller Gegenwart.

Der gräuliche Ausgang der hier, geschilderten bürgerlichen Gesellschaft wird
durch nichts versöhnt und gemildert. Es ist nicht nur nichts Tragisches darin,
sondern ein starker Beischmack von Lächerlichkeit. Und mit dem Ausgang der
adligen Welt ist es nicht anders. Die Mischung von Lächerlichkeit und Gut¬
müthigkeit, von phantastischem und verständigem Wesen ist so unauflösbar, daß
kein reines Gefühl in uns auskommt.

Wir wollen den Roman noch von einer andern Seite betrachten. Wenn
anch der Dichter die Gegenwart in den finstersten Farben schilderte, so mußte er
uns doch irgend eine Perspective in die Zukunft eröffnen, er mußte unser Gefühl


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[0053] seit der Zeit Cardcnios entledigt zu haben glaubte, treten uns in noch viel wider¬ wärtigerem Lichte auf dem Boden der modernen Gesellschaft entgegen, und was das Unangenehmste ist, so widerlich und fratzenhaft jeder einzelne Zug erscheint, wir werden doch überall an das Vorbild erinnert. In Mignon ist jeder Zug Poetisch, weil Goethe grade uur diejenige» Momente ausgewählt hat, die poetisch erscheinen können, weil er nur skizzirt, die Tiefe der Seele uur ahnungsvoll an¬ gedeutet hat. Immermann ist aber bis in die körperlichen Motive und Veran¬ lassungen herabgestiegen, und aus der dunklen, poetische«, für uns unauflösbaren Erscheinung ist ein anatomisches Präparat geworden, das sich in unheimlichen, galvanischen Zuckungen bewegt. — Nicht minder finster und unheimlich erscheinen die andern Partien des Gemäldes. — Der Grund davon liegt vielleicht weniger in dem, was erzählt wird, als in der Stimmung, mit der der Dichter es auffaßt. Seine Sympathien und seine Ueberzeugungen sind in beständigem Kriege unter- einander. Wenn Goethe den gebildeten Theil der Aristokratie als diejenige Classe der Gesellschaft auffaßte, welche seinem Ideal der Humanität wenigstens am nächsten kam, so war das in deu Verhältnissen seiner Zeit, in seiner eignen Individualität und in der ganz exceptionellen Stellung, welche er innerhalb der Gesellschaft ein¬ nahm, vollkommen begründet. Er hatte keine Wahl. Außerhalb der Aristokratie und der Künstlerwelt gab es damals in Deutschland keine Gesellschaft. Aber Immermann schildert mit treffenden Zügen und fast schreienden Farben die innere Hohlheit, ja die Unmöglichkeit dieser Aristokratie, und er weiß für die große selbst¬ ständige Bedeutung des Bürgerthums einen entsprechenden individuellen Ausdruck zu finden. Dennoch, sobald er seinem Gefühl einmal freie Lust läßt, tritt eine ganz entschiedene Vorliebe für die höhere Gesellschaft und eine ebenso entschiedene Ab¬ neigung gegen das Bürgerthum hervor. Bei einem einfachen Romantiker oder einem Gesühlödichter würde man auch das uoch gern ertragen, denn auch das Verfallende bietet häufig sehr anziehende Seiten; aber bei einer durchaus reflec- tirenden Natur, die alle unmittelbaren Eindrücke anf das ängstlichste zerlegt und auseiuanderzieht, macht eine solche Unklarheit der Stimmung einen höchst ver¬ letzenden Eindruck. Das Resultat ist ein trostloses, eine vollständige Nieder¬ geschlagenheit, ein mattes und kränkliches Verzagen an aller Gegenwart. Der gräuliche Ausgang der hier, geschilderten bürgerlichen Gesellschaft wird durch nichts versöhnt und gemildert. Es ist nicht nur nichts Tragisches darin, sondern ein starker Beischmack von Lächerlichkeit. Und mit dem Ausgang der adligen Welt ist es nicht anders. Die Mischung von Lächerlichkeit und Gut¬ müthigkeit, von phantastischem und verständigem Wesen ist so unauflösbar, daß kein reines Gefühl in uns auskommt. Wir wollen den Roman noch von einer andern Seite betrachten. Wenn anch der Dichter die Gegenwart in den finstersten Farben schilderte, so mußte er uns doch irgend eine Perspective in die Zukunft eröffnen, er mußte unser Gefühl

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 13, 1854, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341578_97779/52>, abgerufen am 23.07.2024.