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Die Grenzboten. Jg. 13, 1854, I. Semester. II. Band.

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Der sociale Roman in Deutschland.

Die Epigonen, Familicnmemoircn in neun Büchern, herausgegeben von Karl
Immermann, 3 Bände, 2te Auflage. Berlin, Edle 18Si.

Die Neigung der Deutschen zur Verallgemeinerung aller individuellen That¬
sache" und Empfindungen zeigt sich im Roman wie im Leben. Von Zeit zu
Zeit, fast in regelmäßigen Periode", wird bei uns der Versuch gemacht, die Ge¬
sammtheit des Zeitalters, seiue Zustände wie seine Ideen künstlerisch abzurunden
und als ein Gesammtbild der Nachwelt aufzubewahren. Der älteste Versuch dieser
Art war der Wilhelm Meister, der jüngste die Ritter vom Geist. Immer-
manns Epigonen liegen ungefähr zwischen beiden in der Mitte. Wenn auch
diese drei Werke an dichterischem Werth so ungeheuer voneinander verschieden
sind, daß jeder Vergleich nach dieser Seite hin die ausgemachteste Thorheit wäre,
s" ist doch in ihrem Inhalt und in ihrer Tendenz eine gewisse Gleichförmigkeit
nicht zu verkennen und als historische Denkmäler verschiedener Zeitabschnitte dürste
eine Vergleichung zwischen ihnen nicht ohne Interesse sein.

Der Wilhelm Meister erschien -1799, als unsere ideale Dichtung ihren
Höhepunkt erreicht hatte; die Epigonen 1833, als der letzte geistige Erwerb
der Restaurationsperiode durch die Ideen der Julirevolution zertrümmert war;
die Ritter vom Geist 18S0, als die jungdeutsche Belletristik den ersten Ver¬
such gemacht hatte, sich auf politischem Gebiet geschäftig zu zeigen. Diesen zeit¬
lichen Beziehungen entsprechen die verschiedenen Stimmungen, welche sich in den
drei Romanen ausprägen.

Der Wilhelm Meister ist von einer liebenswürdigen Unbefangenheit, die
neben der schönen saftige", hochpolitische" Farbe wol das meiste dazu beigetragen
hat, ihn zum Lieblingsbnch der gebildeten Kreise Deutschlands zu macheu. Die
Figuren des Romans bewegen sich inmitten der sonderbarsten Verwicklungen mit
einer Freiheit und Anmuth, die etwas Bezauberndes hat, und die uns ganz ver¬
gessen läßt, wie unhaltbar und unterwühlt die Fundamente sind, auf denen sich


Grenzboten. II. 6
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Der sociale Roman in Deutschland.

Die Epigonen, Familicnmemoircn in neun Büchern, herausgegeben von Karl
Immermann, 3 Bände, 2te Auflage. Berlin, Edle 18Si.

Die Neigung der Deutschen zur Verallgemeinerung aller individuellen That¬
sache» und Empfindungen zeigt sich im Roman wie im Leben. Von Zeit zu
Zeit, fast in regelmäßigen Periode», wird bei uns der Versuch gemacht, die Ge¬
sammtheit des Zeitalters, seiue Zustände wie seine Ideen künstlerisch abzurunden
und als ein Gesammtbild der Nachwelt aufzubewahren. Der älteste Versuch dieser
Art war der Wilhelm Meister, der jüngste die Ritter vom Geist. Immer-
manns Epigonen liegen ungefähr zwischen beiden in der Mitte. Wenn auch
diese drei Werke an dichterischem Werth so ungeheuer voneinander verschieden
sind, daß jeder Vergleich nach dieser Seite hin die ausgemachteste Thorheit wäre,
s» ist doch in ihrem Inhalt und in ihrer Tendenz eine gewisse Gleichförmigkeit
nicht zu verkennen und als historische Denkmäler verschiedener Zeitabschnitte dürste
eine Vergleichung zwischen ihnen nicht ohne Interesse sein.

Der Wilhelm Meister erschien -1799, als unsere ideale Dichtung ihren
Höhepunkt erreicht hatte; die Epigonen 1833, als der letzte geistige Erwerb
der Restaurationsperiode durch die Ideen der Julirevolution zertrümmert war;
die Ritter vom Geist 18S0, als die jungdeutsche Belletristik den ersten Ver¬
such gemacht hatte, sich auf politischem Gebiet geschäftig zu zeigen. Diesen zeit¬
lichen Beziehungen entsprechen die verschiedenen Stimmungen, welche sich in den
drei Romanen ausprägen.

Der Wilhelm Meister ist von einer liebenswürdigen Unbefangenheit, die
neben der schönen saftige», hochpolitische» Farbe wol das meiste dazu beigetragen
hat, ihn zum Lieblingsbnch der gebildeten Kreise Deutschlands zu macheu. Die
Figuren des Romans bewegen sich inmitten der sonderbarsten Verwicklungen mit
einer Freiheit und Anmuth, die etwas Bezauberndes hat, und die uns ganz ver¬
gessen läßt, wie unhaltbar und unterwühlt die Fundamente sind, auf denen sich


Grenzboten. II. 6
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[0049] . Der sociale Roman in Deutschland. Die Epigonen, Familicnmemoircn in neun Büchern, herausgegeben von Karl Immermann, 3 Bände, 2te Auflage. Berlin, Edle 18Si. Die Neigung der Deutschen zur Verallgemeinerung aller individuellen That¬ sache» und Empfindungen zeigt sich im Roman wie im Leben. Von Zeit zu Zeit, fast in regelmäßigen Periode», wird bei uns der Versuch gemacht, die Ge¬ sammtheit des Zeitalters, seiue Zustände wie seine Ideen künstlerisch abzurunden und als ein Gesammtbild der Nachwelt aufzubewahren. Der älteste Versuch dieser Art war der Wilhelm Meister, der jüngste die Ritter vom Geist. Immer- manns Epigonen liegen ungefähr zwischen beiden in der Mitte. Wenn auch diese drei Werke an dichterischem Werth so ungeheuer voneinander verschieden sind, daß jeder Vergleich nach dieser Seite hin die ausgemachteste Thorheit wäre, s» ist doch in ihrem Inhalt und in ihrer Tendenz eine gewisse Gleichförmigkeit nicht zu verkennen und als historische Denkmäler verschiedener Zeitabschnitte dürste eine Vergleichung zwischen ihnen nicht ohne Interesse sein. Der Wilhelm Meister erschien -1799, als unsere ideale Dichtung ihren Höhepunkt erreicht hatte; die Epigonen 1833, als der letzte geistige Erwerb der Restaurationsperiode durch die Ideen der Julirevolution zertrümmert war; die Ritter vom Geist 18S0, als die jungdeutsche Belletristik den ersten Ver¬ such gemacht hatte, sich auf politischem Gebiet geschäftig zu zeigen. Diesen zeit¬ lichen Beziehungen entsprechen die verschiedenen Stimmungen, welche sich in den drei Romanen ausprägen. Der Wilhelm Meister ist von einer liebenswürdigen Unbefangenheit, die neben der schönen saftige», hochpolitische» Farbe wol das meiste dazu beigetragen hat, ihn zum Lieblingsbnch der gebildeten Kreise Deutschlands zu macheu. Die Figuren des Romans bewegen sich inmitten der sonderbarsten Verwicklungen mit einer Freiheit und Anmuth, die etwas Bezauberndes hat, und die uns ganz ver¬ gessen läßt, wie unhaltbar und unterwühlt die Fundamente sind, auf denen sich Grenzboten. II. 6

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 13, 1854, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341578_97779/48>, abgerufen am 23.07.2024.