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Die Grenzboten. Jg. 13, 1854, I. Semester. II. Band.

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Aber die Stunde der Wettkämpfe war noch nicht erschienen; jeder unter¬
hielt sich auf eigne Hand: hier waren die Würfelbuden von einer lärmenden,
gewinnsüchtigen Menge umgeben; dort bildeten sich Contretänze nach dem
wehmüthigem Gesänge altersschwacher Violinen; schwatzende Paare gingen hin
und her, kauften, ein und bespöttelten die ausgestellten Waaren. Eine Gitana
in schmuzigen Gewände, aber mit blankem Schmuck fantastisch ausgeputzt, fand
aufmerksame Zuhörer und reichen Lohn für'ihre Wahrsagereien, und ein spa¬
nisches Mädchen, das auf rothem Teppich, mit verbundenen Augen den Eier¬
tanz ausführte, erregte lebhafte Bewunderung. Doch am meisten drängte sich
das Dorfpublicum, besonders ältere Leute, Kinder, halberwachsene Burschen
und Mädchen zum Eingange einer Scheuer, deren Thorflügel weit geöffnet und
mit Laubgewinden verziert waren. Der untere Raum, der einige Wochen später
die Maiövorräthe des Besitzers birgt, war durch eine Estrade von etwa andert¬
halb Fuß Höhe in zwei gleiche Hälften getheilt und dadurch zum Schauspiel¬
haus umgewandelt. Den vordem Raum nahmen die Zuschauer ein, die sich
durch wenige Sous den Zutritt erkauften. An Sitzplätze war nicht zu denken;
die nöthige Beleuchtung gab das Sonnenlicht, das durch das Thor und die
Seitenöffnungen zuströmte -- und auf der vorhanglosen Bühne bildeten Buchs¬
baumgesträuche und Stechpalmen Coulissen und Hintergrund. Letzterer war
überdies durch Felsen und einen Wasserfall geziert, kunstreich dargestellt durch
übereinander geschichtete Fässer und ein faltig niederhängendes Betttuch.

In dieser prachtvollen Scenerie wurde Casimir Delavignes "Paria" vor¬
gestellt. Die Brahmanen, die Krieger, der Held des Stückes und die Hindu¬
mädchen gehörten sämmtlich der männlichen Jugend des Dorfes an. Die
Krieger hatten sich und dem gewöhnlichen braunen Anzüge der Bergbewohner
durch wunderbare Bärte von Hede und Roßhaar und durch Helme von Gold-
und Silberpapier -- wahrscheinlich bei früheren Aufführungen der "Horatier"
oder der "Didon" gebraucht -- ein martialisches Ansehen gegeben. Weiber
und Greise trugen faltenreiche Gewänder aus Vorhängen und Betttüchern zu¬
sammengefügt; einige waren mit rothen Schärpen oder Goldflittern geschmückt;
andere trugen Federbüschel auf dem Kopfe, und der rothwangige, schwarzhaarige
Bursche, der die Rolle der ersten Liebhaberin übernommen hatte, war mit einem
weißen Rosenkranze geziert, der aussah, als hätte er schon mehre Generationen
zur Hochzeit oder zur Firmelung begleitet. Wer so glücklich war-, Stiefel zu
besitzen, hatte sich nicht enthalten können, sie bei dieser feierlichen Gelegenheit
zur.Schau zu tragen, nur die Aermeren erschienen, zum Heile des Stückes,
in Espadrilles, die sie mit bunten Schleifen und Bändern geziert hatten.
Rührend schauten die großen Füße und rothen Fäuste der Hindumädchen aus
den Gewändern hervor, wunderbar conirastirten Haltung, Geberde und Organ
der Hirtenjungen und Handwerkslehrlinge mit den zarten Versen, die sie


Aber die Stunde der Wettkämpfe war noch nicht erschienen; jeder unter¬
hielt sich auf eigne Hand: hier waren die Würfelbuden von einer lärmenden,
gewinnsüchtigen Menge umgeben; dort bildeten sich Contretänze nach dem
wehmüthigem Gesänge altersschwacher Violinen; schwatzende Paare gingen hin
und her, kauften, ein und bespöttelten die ausgestellten Waaren. Eine Gitana
in schmuzigen Gewände, aber mit blankem Schmuck fantastisch ausgeputzt, fand
aufmerksame Zuhörer und reichen Lohn für'ihre Wahrsagereien, und ein spa¬
nisches Mädchen, das auf rothem Teppich, mit verbundenen Augen den Eier¬
tanz ausführte, erregte lebhafte Bewunderung. Doch am meisten drängte sich
das Dorfpublicum, besonders ältere Leute, Kinder, halberwachsene Burschen
und Mädchen zum Eingange einer Scheuer, deren Thorflügel weit geöffnet und
mit Laubgewinden verziert waren. Der untere Raum, der einige Wochen später
die Maiövorräthe des Besitzers birgt, war durch eine Estrade von etwa andert¬
halb Fuß Höhe in zwei gleiche Hälften getheilt und dadurch zum Schauspiel¬
haus umgewandelt. Den vordem Raum nahmen die Zuschauer ein, die sich
durch wenige Sous den Zutritt erkauften. An Sitzplätze war nicht zu denken;
die nöthige Beleuchtung gab das Sonnenlicht, das durch das Thor und die
Seitenöffnungen zuströmte — und auf der vorhanglosen Bühne bildeten Buchs¬
baumgesträuche und Stechpalmen Coulissen und Hintergrund. Letzterer war
überdies durch Felsen und einen Wasserfall geziert, kunstreich dargestellt durch
übereinander geschichtete Fässer und ein faltig niederhängendes Betttuch.

In dieser prachtvollen Scenerie wurde Casimir Delavignes „Paria" vor¬
gestellt. Die Brahmanen, die Krieger, der Held des Stückes und die Hindu¬
mädchen gehörten sämmtlich der männlichen Jugend des Dorfes an. Die
Krieger hatten sich und dem gewöhnlichen braunen Anzüge der Bergbewohner
durch wunderbare Bärte von Hede und Roßhaar und durch Helme von Gold-
und Silberpapier — wahrscheinlich bei früheren Aufführungen der „Horatier"
oder der „Didon" gebraucht — ein martialisches Ansehen gegeben. Weiber
und Greise trugen faltenreiche Gewänder aus Vorhängen und Betttüchern zu¬
sammengefügt; einige waren mit rothen Schärpen oder Goldflittern geschmückt;
andere trugen Federbüschel auf dem Kopfe, und der rothwangige, schwarzhaarige
Bursche, der die Rolle der ersten Liebhaberin übernommen hatte, war mit einem
weißen Rosenkranze geziert, der aussah, als hätte er schon mehre Generationen
zur Hochzeit oder zur Firmelung begleitet. Wer so glücklich war-, Stiefel zu
besitzen, hatte sich nicht enthalten können, sie bei dieser feierlichen Gelegenheit
zur.Schau zu tragen, nur die Aermeren erschienen, zum Heile des Stückes,
in Espadrilles, die sie mit bunten Schleifen und Bändern geziert hatten.
Rührend schauten die großen Füße und rothen Fäuste der Hindumädchen aus
den Gewändern hervor, wunderbar conirastirten Haltung, Geberde und Organ
der Hirtenjungen und Handwerkslehrlinge mit den zarten Versen, die sie


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[0421] Aber die Stunde der Wettkämpfe war noch nicht erschienen; jeder unter¬ hielt sich auf eigne Hand: hier waren die Würfelbuden von einer lärmenden, gewinnsüchtigen Menge umgeben; dort bildeten sich Contretänze nach dem wehmüthigem Gesänge altersschwacher Violinen; schwatzende Paare gingen hin und her, kauften, ein und bespöttelten die ausgestellten Waaren. Eine Gitana in schmuzigen Gewände, aber mit blankem Schmuck fantastisch ausgeputzt, fand aufmerksame Zuhörer und reichen Lohn für'ihre Wahrsagereien, und ein spa¬ nisches Mädchen, das auf rothem Teppich, mit verbundenen Augen den Eier¬ tanz ausführte, erregte lebhafte Bewunderung. Doch am meisten drängte sich das Dorfpublicum, besonders ältere Leute, Kinder, halberwachsene Burschen und Mädchen zum Eingange einer Scheuer, deren Thorflügel weit geöffnet und mit Laubgewinden verziert waren. Der untere Raum, der einige Wochen später die Maiövorräthe des Besitzers birgt, war durch eine Estrade von etwa andert¬ halb Fuß Höhe in zwei gleiche Hälften getheilt und dadurch zum Schauspiel¬ haus umgewandelt. Den vordem Raum nahmen die Zuschauer ein, die sich durch wenige Sous den Zutritt erkauften. An Sitzplätze war nicht zu denken; die nöthige Beleuchtung gab das Sonnenlicht, das durch das Thor und die Seitenöffnungen zuströmte — und auf der vorhanglosen Bühne bildeten Buchs¬ baumgesträuche und Stechpalmen Coulissen und Hintergrund. Letzterer war überdies durch Felsen und einen Wasserfall geziert, kunstreich dargestellt durch übereinander geschichtete Fässer und ein faltig niederhängendes Betttuch. In dieser prachtvollen Scenerie wurde Casimir Delavignes „Paria" vor¬ gestellt. Die Brahmanen, die Krieger, der Held des Stückes und die Hindu¬ mädchen gehörten sämmtlich der männlichen Jugend des Dorfes an. Die Krieger hatten sich und dem gewöhnlichen braunen Anzüge der Bergbewohner durch wunderbare Bärte von Hede und Roßhaar und durch Helme von Gold- und Silberpapier — wahrscheinlich bei früheren Aufführungen der „Horatier" oder der „Didon" gebraucht — ein martialisches Ansehen gegeben. Weiber und Greise trugen faltenreiche Gewänder aus Vorhängen und Betttüchern zu¬ sammengefügt; einige waren mit rothen Schärpen oder Goldflittern geschmückt; andere trugen Federbüschel auf dem Kopfe, und der rothwangige, schwarzhaarige Bursche, der die Rolle der ersten Liebhaberin übernommen hatte, war mit einem weißen Rosenkranze geziert, der aussah, als hätte er schon mehre Generationen zur Hochzeit oder zur Firmelung begleitet. Wer so glücklich war-, Stiefel zu besitzen, hatte sich nicht enthalten können, sie bei dieser feierlichen Gelegenheit zur.Schau zu tragen, nur die Aermeren erschienen, zum Heile des Stückes, in Espadrilles, die sie mit bunten Schleifen und Bändern geziert hatten. Rührend schauten die großen Füße und rothen Fäuste der Hindumädchen aus den Gewändern hervor, wunderbar conirastirten Haltung, Geberde und Organ der Hirtenjungen und Handwerkslehrlinge mit den zarten Versen, die sie

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 13, 1854, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341578_97779/420>, abgerufen am 22.12.2024.