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Die Grenzboten. Jg. 13, 1854, I. Semester. II. Band.

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teil. Man soll die Blöße seines Nächsten nicht ans Licht ziehen. Der Theater¬
dichter, der uns fortwährend hungrige Männer, Weiber und Kinder vorführt,
denen ein gutherziges Geschöpf Brod und Pfennige in die Hand drückt und
die ihm dafür dankbarlichst Rock und Hände küssen, speculirt auf die gemeinen
Seiten der Natur, grade wie der Dichter, der uns fortwährend mit dem Detail
physischer Leiden unterhält. Kotzebues Theater ist aber ^recht eigentlich die Ent¬
blößung der menschlichen Unwürdigkeit in allen nur denkbaren Formen, die
freche cynische Zurschaustellung seiner Gebrechen; die Vertiefung der Ideale in
den Sumpf des Lebens. Nun ist zwar in unsren Tagen Kotzebue, weil er in
seinen äußeren Formen knechtisch der Stimmung des Tages huldigte und weil
diese Stimmung, von der sein Erfolg abhängig war, vorübergegangen ist, ver¬
achtet und vergessen, und man könnte uns fragen" warum wir hier noch gegen
einen Schatten kämpfen wollen. Allein dieser Fortschritt unsrer Zeit ist nur
ein scheinbarer: die Formen haben sich geändert, das Wesen der Sache ist ge¬
blieben. Die Art, wie unsre heutigen Theaterdichter, namentlich Gutzkow,
Eugen Sue, Felix Pyat, um der geringeren Größen nicht zu gedenken, aus
unsre Nerven zu wirken suchen, ist durchaus Kotzebue abgelernt, und beruht
aus derselben frechen Zurschaustellung dessen, was die Scham sonst zu verbergen
pflegt. Ja, wir können die Mittel der Rührung, die sie anwenden, bis in
die kleinsten Einzelnheiten hinein bei Kotzebue wiederfinden.

August Kotzebue war 1761 in Weimar geboren. Er trat 178-1 in russische
Dienste, stieg rasch zu bedeutenden Ehrenstellen aus und wurde geadelt. Schon
in seinen früheren Jahren entwickelte er eine große schriftstellerische Produc-
tivität, namentlich in Romanen, von denen die "Leiden der Ortenbergischen Fa¬
milie" (178ö) die bekanntesten sind. Dies Buch ist eine merkwürdige Mischung
von weinerlicher Empfindsamkeit, larer Moral und schmuzigen Einfällen, dabei
in der allergemeinsten Form geschrieben. Man schaudert, wenn man daran
denkt, daß so etwas nach dem "Werther" gefallen konnte. Viele von den Typen
der späteren Schauspiele treffen wir schon hier an. So ist die Bramine Welly,
die Tochter der Natur, die alles thut, was ihr Herz begehrt, die vor jedem
'Fremden ihren Busen entblößt, jedem um den Hals fällt und jeden.heirathen
will, bereits das Vorbild der späteren Guru, und das geschilderte Braminen-
thum, jene Apotheose d?ö guten Herzens, das Heinse viel kräftiger in seinem
"Ardhingello" geschildert hatte.

Das Stück, durch welches Kotzebue seinen Ruhm begründete, war Men¬
schenhaß und Neue (1789). Der allgemeine Jubel, der sich nicht nur in
Deutschlands, sondern auch in England, Spanien, Dänemark und in den
übrigen Ländern, wo man es aufführte, erhob, würde uns ganz unglaublich



Zu den Bewunderern gehörten u. a. Jacobi, Ramler und Engel.
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teil. Man soll die Blöße seines Nächsten nicht ans Licht ziehen. Der Theater¬
dichter, der uns fortwährend hungrige Männer, Weiber und Kinder vorführt,
denen ein gutherziges Geschöpf Brod und Pfennige in die Hand drückt und
die ihm dafür dankbarlichst Rock und Hände küssen, speculirt auf die gemeinen
Seiten der Natur, grade wie der Dichter, der uns fortwährend mit dem Detail
physischer Leiden unterhält. Kotzebues Theater ist aber ^recht eigentlich die Ent¬
blößung der menschlichen Unwürdigkeit in allen nur denkbaren Formen, die
freche cynische Zurschaustellung seiner Gebrechen; die Vertiefung der Ideale in
den Sumpf des Lebens. Nun ist zwar in unsren Tagen Kotzebue, weil er in
seinen äußeren Formen knechtisch der Stimmung des Tages huldigte und weil
diese Stimmung, von der sein Erfolg abhängig war, vorübergegangen ist, ver¬
achtet und vergessen, und man könnte uns fragen» warum wir hier noch gegen
einen Schatten kämpfen wollen. Allein dieser Fortschritt unsrer Zeit ist nur
ein scheinbarer: die Formen haben sich geändert, das Wesen der Sache ist ge¬
blieben. Die Art, wie unsre heutigen Theaterdichter, namentlich Gutzkow,
Eugen Sue, Felix Pyat, um der geringeren Größen nicht zu gedenken, aus
unsre Nerven zu wirken suchen, ist durchaus Kotzebue abgelernt, und beruht
aus derselben frechen Zurschaustellung dessen, was die Scham sonst zu verbergen
pflegt. Ja, wir können die Mittel der Rührung, die sie anwenden, bis in
die kleinsten Einzelnheiten hinein bei Kotzebue wiederfinden.

August Kotzebue war 1761 in Weimar geboren. Er trat 178-1 in russische
Dienste, stieg rasch zu bedeutenden Ehrenstellen aus und wurde geadelt. Schon
in seinen früheren Jahren entwickelte er eine große schriftstellerische Produc-
tivität, namentlich in Romanen, von denen die „Leiden der Ortenbergischen Fa¬
milie" (178ö) die bekanntesten sind. Dies Buch ist eine merkwürdige Mischung
von weinerlicher Empfindsamkeit, larer Moral und schmuzigen Einfällen, dabei
in der allergemeinsten Form geschrieben. Man schaudert, wenn man daran
denkt, daß so etwas nach dem „Werther" gefallen konnte. Viele von den Typen
der späteren Schauspiele treffen wir schon hier an. So ist die Bramine Welly,
die Tochter der Natur, die alles thut, was ihr Herz begehrt, die vor jedem
'Fremden ihren Busen entblößt, jedem um den Hals fällt und jeden.heirathen
will, bereits das Vorbild der späteren Guru, und das geschilderte Braminen-
thum, jene Apotheose d?ö guten Herzens, das Heinse viel kräftiger in seinem
„Ardhingello" geschildert hatte.

Das Stück, durch welches Kotzebue seinen Ruhm begründete, war Men¬
schenhaß und Neue (1789). Der allgemeine Jubel, der sich nicht nur in
Deutschlands, sondern auch in England, Spanien, Dänemark und in den
übrigen Ländern, wo man es aufführte, erhob, würde uns ganz unglaublich



Zu den Bewunderern gehörten u. a. Jacobi, Ramler und Engel.
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[0331] teil. Man soll die Blöße seines Nächsten nicht ans Licht ziehen. Der Theater¬ dichter, der uns fortwährend hungrige Männer, Weiber und Kinder vorführt, denen ein gutherziges Geschöpf Brod und Pfennige in die Hand drückt und die ihm dafür dankbarlichst Rock und Hände küssen, speculirt auf die gemeinen Seiten der Natur, grade wie der Dichter, der uns fortwährend mit dem Detail physischer Leiden unterhält. Kotzebues Theater ist aber ^recht eigentlich die Ent¬ blößung der menschlichen Unwürdigkeit in allen nur denkbaren Formen, die freche cynische Zurschaustellung seiner Gebrechen; die Vertiefung der Ideale in den Sumpf des Lebens. Nun ist zwar in unsren Tagen Kotzebue, weil er in seinen äußeren Formen knechtisch der Stimmung des Tages huldigte und weil diese Stimmung, von der sein Erfolg abhängig war, vorübergegangen ist, ver¬ achtet und vergessen, und man könnte uns fragen» warum wir hier noch gegen einen Schatten kämpfen wollen. Allein dieser Fortschritt unsrer Zeit ist nur ein scheinbarer: die Formen haben sich geändert, das Wesen der Sache ist ge¬ blieben. Die Art, wie unsre heutigen Theaterdichter, namentlich Gutzkow, Eugen Sue, Felix Pyat, um der geringeren Größen nicht zu gedenken, aus unsre Nerven zu wirken suchen, ist durchaus Kotzebue abgelernt, und beruht aus derselben frechen Zurschaustellung dessen, was die Scham sonst zu verbergen pflegt. Ja, wir können die Mittel der Rührung, die sie anwenden, bis in die kleinsten Einzelnheiten hinein bei Kotzebue wiederfinden. August Kotzebue war 1761 in Weimar geboren. Er trat 178-1 in russische Dienste, stieg rasch zu bedeutenden Ehrenstellen aus und wurde geadelt. Schon in seinen früheren Jahren entwickelte er eine große schriftstellerische Produc- tivität, namentlich in Romanen, von denen die „Leiden der Ortenbergischen Fa¬ milie" (178ö) die bekanntesten sind. Dies Buch ist eine merkwürdige Mischung von weinerlicher Empfindsamkeit, larer Moral und schmuzigen Einfällen, dabei in der allergemeinsten Form geschrieben. Man schaudert, wenn man daran denkt, daß so etwas nach dem „Werther" gefallen konnte. Viele von den Typen der späteren Schauspiele treffen wir schon hier an. So ist die Bramine Welly, die Tochter der Natur, die alles thut, was ihr Herz begehrt, die vor jedem 'Fremden ihren Busen entblößt, jedem um den Hals fällt und jeden.heirathen will, bereits das Vorbild der späteren Guru, und das geschilderte Braminen- thum, jene Apotheose d?ö guten Herzens, das Heinse viel kräftiger in seinem „Ardhingello" geschildert hatte. Das Stück, durch welches Kotzebue seinen Ruhm begründete, war Men¬ schenhaß und Neue (1789). Der allgemeine Jubel, der sich nicht nur in Deutschlands, sondern auch in England, Spanien, Dänemark und in den übrigen Ländern, wo man es aufführte, erhob, würde uns ganz unglaublich Zu den Bewunderern gehörten u. a. Jacobi, Ramler und Engel. 41*

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 13, 1854, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341578_97779/330>, abgerufen am 23.07.2024.