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Die Grenzboten. Jg. 13, 1854, I. Semester. II. Band.

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hatte ihn immer von Seiten der Moralität angegriffen. Um diesen Vorwurf
zu entkräften, führt er eine Menge einzelner Anekdoten an, wie arme Sün¬
der durch seine Stücke gebessert seien, was auch möglich ist, da viele erbau¬
liche Predigten, die man als fruchtbar für die Verbreitung der Tugend rühmt,
auf Kotzebueschen Motiven beruhen. Dagegen meint er, daß die Goethesche
Schule darum auf ihn mit einer gewissen Verachtung herabgesehen habe, weil
sie ihn für eine gemeine Natur hielt: und das ist in der That der Kern
des Gegensatzes. In dem Götzendienst der Natur standen Goethe, Schiller
und die übrigen Dichter, bis auf den großen Wendepunkt im letzten Jahrzehnt
des vorigen Jahrhunderts auf derselben Seite mit Kotzebue, und sie, haben die
nämlichen Sünden begangen; aber fre waren edle Naturen und Kotzebue eine
gemeine Natur. Grade der Widerwille, den man gegen eine frühere glücklich
überwundene Periodel krankhafter Uebergänge empfindet, mußte die Dichter des
Werther, des Karl Moor, der Luise Miller, des Woldemar,und Allwill u. s. w.
bestimmen, in dem Zerrbild ihrer früheren ästhetischen und sittlichen Grundsätze
ihre eignen Sünden zu züchtigen, wie es früher, wenn auch in einem etwas
andern Sinn Schiller mit Bürger machte.

D(e Vertheidigung der sogenannten Natur gegen Sitte, Bildung, Recht
und Autorität ist der rothe Faden in den sämmtlichen Schauspielen, die Kotze-
bues Ruhm begründeten^ Sie strömen über von Phrasen der Tugend und
Humanität, aber diese Tugend ist nichts Anderes,, als jene weiche, instinctmäßige
Gutherzigkeit ohne Inhalt, die man auch in den Kreisen des Lasters sehr häufig
antrifft. Diese Anbetung des guten Herzens, tue zuerst Rousseau gepredigt,
trug ihre schlimmen Früchte. Durch Mitleid gegen die Armen und durch Al¬
mosen wird' in der Kotzebueschen Sittlichkeit alles wieder gut gemacht, und das
ist um so bequemer, da es nichts Wohlfeileres gibt, als auf dem Theater Al¬
mosen zu ertheilen, Menschen aus dem Wasser zu ziehen und sie mit Thränen
des Mitgefühls an die weiche Brust zu drücken. Wo dem Dichter einmal die
Erfindung stockt, bringt er regelmäßig ein paar arme, nothleidende Familien¬
väter auf die Bühne, die durch eine mitleidige Seele gerettet und beschenkt
werden, und die dann im stummen Gebet niederknien und Gott danken. Er
ist unerschöpflich in Erfindungen jener leeren Gutmüthigkeit, die zu den un¬
ästhetischen Seiten des Lebens gehört; denn der Zustand des Bettlers ist ein
herabwürdigender, und diese Unwürdigkeit trifft alle betheiligten Personen und
namentlich den Zuschauer. Wie es in dem physischen -Leben des Menschen Dinge
gibt, die nothwendig, natürlich und gut sind, welche aber die Scham, jenes
Mysterium der Sittlichkeit im menschlichen Herzen, dem Licht des Tages und
den Augen der Menschen verbirgt, so ist es auch in der moralischen Welt. Daß
man diese Art Wohlthaten im Stillen und Verborgenen thut, liegt nicht blos
in der Bescheidenheit, sondern in dem Gefühl der damit verknüpften Unwürdig-


hatte ihn immer von Seiten der Moralität angegriffen. Um diesen Vorwurf
zu entkräften, führt er eine Menge einzelner Anekdoten an, wie arme Sün¬
der durch seine Stücke gebessert seien, was auch möglich ist, da viele erbau¬
liche Predigten, die man als fruchtbar für die Verbreitung der Tugend rühmt,
auf Kotzebueschen Motiven beruhen. Dagegen meint er, daß die Goethesche
Schule darum auf ihn mit einer gewissen Verachtung herabgesehen habe, weil
sie ihn für eine gemeine Natur hielt: und das ist in der That der Kern
des Gegensatzes. In dem Götzendienst der Natur standen Goethe, Schiller
und die übrigen Dichter, bis auf den großen Wendepunkt im letzten Jahrzehnt
des vorigen Jahrhunderts auf derselben Seite mit Kotzebue, und sie, haben die
nämlichen Sünden begangen; aber fre waren edle Naturen und Kotzebue eine
gemeine Natur. Grade der Widerwille, den man gegen eine frühere glücklich
überwundene Periodel krankhafter Uebergänge empfindet, mußte die Dichter des
Werther, des Karl Moor, der Luise Miller, des Woldemar,und Allwill u. s. w.
bestimmen, in dem Zerrbild ihrer früheren ästhetischen und sittlichen Grundsätze
ihre eignen Sünden zu züchtigen, wie es früher, wenn auch in einem etwas
andern Sinn Schiller mit Bürger machte.

D(e Vertheidigung der sogenannten Natur gegen Sitte, Bildung, Recht
und Autorität ist der rothe Faden in den sämmtlichen Schauspielen, die Kotze-
bues Ruhm begründeten^ Sie strömen über von Phrasen der Tugend und
Humanität, aber diese Tugend ist nichts Anderes,, als jene weiche, instinctmäßige
Gutherzigkeit ohne Inhalt, die man auch in den Kreisen des Lasters sehr häufig
antrifft. Diese Anbetung des guten Herzens, tue zuerst Rousseau gepredigt,
trug ihre schlimmen Früchte. Durch Mitleid gegen die Armen und durch Al¬
mosen wird' in der Kotzebueschen Sittlichkeit alles wieder gut gemacht, und das
ist um so bequemer, da es nichts Wohlfeileres gibt, als auf dem Theater Al¬
mosen zu ertheilen, Menschen aus dem Wasser zu ziehen und sie mit Thränen
des Mitgefühls an die weiche Brust zu drücken. Wo dem Dichter einmal die
Erfindung stockt, bringt er regelmäßig ein paar arme, nothleidende Familien¬
väter auf die Bühne, die durch eine mitleidige Seele gerettet und beschenkt
werden, und die dann im stummen Gebet niederknien und Gott danken. Er
ist unerschöpflich in Erfindungen jener leeren Gutmüthigkeit, die zu den un¬
ästhetischen Seiten des Lebens gehört; denn der Zustand des Bettlers ist ein
herabwürdigender, und diese Unwürdigkeit trifft alle betheiligten Personen und
namentlich den Zuschauer. Wie es in dem physischen -Leben des Menschen Dinge
gibt, die nothwendig, natürlich und gut sind, welche aber die Scham, jenes
Mysterium der Sittlichkeit im menschlichen Herzen, dem Licht des Tages und
den Augen der Menschen verbirgt, so ist es auch in der moralischen Welt. Daß
man diese Art Wohlthaten im Stillen und Verborgenen thut, liegt nicht blos
in der Bescheidenheit, sondern in dem Gefühl der damit verknüpften Unwürdig-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 13, 1854, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341578_97779/329>, abgerufen am 22.12.2024.