Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 13, 1854, I. Semester. II. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

Rücksichtslosigkeit alle" den Wust bei Seite wirft, mit dem die neumodischen Theo¬
loge" dasselbe einem abgeschwächten und haltinigSlose" Zeitalter empfehlen möch¬
ten. Herr Schwarz durchschaut den Grundfehler unsrer Bildung, der sich noch
vorzugsweise aus der romantischen Schule herschreibt und dem man mit vollem
Recht Lessing als den idealen Gegensatz gegenüberstellen kann, so scharf und um¬
fassend als möglich, und spricht ihn mit warmen und eindringenden Worten ans.
"Die theologischen Zustände der Gegenwart sind der" traurigsten Art, deshalb,
weil der tiefere Wahrheitsfinn, das individuelle Wahrhcitsbedürfniß, das wissen¬
schaftliche Gewissen so sehr erschlafft ist und völlig verloren zu gehen droht. Die
intellectuelle und moralische Erschlaffung, an welcher die g,a"ze Zeit leidet... ist
gewiß nicht geeignet, den Wahrheitssiuu zu schärft", den Forschungsgeist in seiner
ganzen Rücksichtslosigkeit und Unbedingtheit hervortreten zu lassen. Vielmehr ist
solche Geistesermattuug der fette Düngerboden für alle Restanrationsgelüste, für
allen faulen und kritiklosen Positivismus, welcher wurzellos über Nacht empor-
schießt und mit wuchernder Ueppigkeit ungehindert sich ausbreitet. Dazu kommt
aber noch, daß die diesem letzten Stadium der Abspannung vorangehende Periode
der wissenschaftlichen Aufregung, der philosophischen Ueberspannung eine solche war,
welche in ihrem abstracten Gegensatze gegen Aufklärung und Rationalismus dem
Verstände, der nüchternen Forschung, der kalten Betrachtung,. der Kritik überhaupt
den Rücken wandte und an ihre Stelle wissenschaftliche Phantasterei oder specu-
lative Cvnstrnircrei setzte. Ich kann die sogenannte moderne Speculation "ud
speculative Theologie uicht sowol als einen Gegensatz gegen die Romantik, denn
als eine Fortsetzung und Abzweigung derselben betrachten, und glaube demgemäß,
daß sie, bei aller mächtigen Geistesarbeit, sehr viel Verkehrtheit und Verwirrung
mit sich geführt, daß sie, bei aller logischen Einschulung unsrer Nation, derselben
einen gute" Theil ihrer gesundeste" Kräfte ausgesvge" hat. Die hochmüthige
Verachtung des Verstandes, diese abgeschmackte Doctrin der Romantiker/ welche
die neuere Speculation als. Erbtheil mit .übernomme", hat sich schwer gerächt;
-- es ist dahin gekommen, daß der Verstand eben nur noch in der trivialsten
Form, in den untergeordnetsten Sphären des bürgerlichem Verkehrs sein Leben
fristen durfte, daß er aus der guten Gesellschaft, der Kunst, der Wissenschaft, der
Religion herausgcwiesen wurde. So ist er uns denn ziemlich abhanden gekommen.
Wie ein beständig zurückgesetztes und gemißhandeltes Kind endlich verwahrlost, in
schlechte und schmuzige Gesellschaft geräth, so ist der Verstand nur noch als platter
Verstand in den Philisterkreisen und Seelen übriggeblieben und hat sich hier zu
einer starren und zähen Abneigung gegen alle tieferen Gemüthsanregungen ver¬
festigt. Es ist das ein großes Unglück und gewiß in keiner Nation ist die Kluft
so gewaltig zwischen dem verständige", aber platte" Philisterthum der bürgerliche"
Welt und den verschrobene" Geistreichigkeitcu und falschen Tiefsinnigkciten der
sogenannten Gebildete"! Der Verstand' in seiner ideale" Form, der Verstand


Rücksichtslosigkeit alle» den Wust bei Seite wirft, mit dem die neumodischen Theo¬
loge» dasselbe einem abgeschwächten und haltinigSlose» Zeitalter empfehlen möch¬
ten. Herr Schwarz durchschaut den Grundfehler unsrer Bildung, der sich noch
vorzugsweise aus der romantischen Schule herschreibt und dem man mit vollem
Recht Lessing als den idealen Gegensatz gegenüberstellen kann, so scharf und um¬
fassend als möglich, und spricht ihn mit warmen und eindringenden Worten ans.
„Die theologischen Zustände der Gegenwart sind der" traurigsten Art, deshalb,
weil der tiefere Wahrheitsfinn, das individuelle Wahrhcitsbedürfniß, das wissen¬
schaftliche Gewissen so sehr erschlafft ist und völlig verloren zu gehen droht. Die
intellectuelle und moralische Erschlaffung, an welcher die g,a»ze Zeit leidet... ist
gewiß nicht geeignet, den Wahrheitssiuu zu schärft», den Forschungsgeist in seiner
ganzen Rücksichtslosigkeit und Unbedingtheit hervortreten zu lassen. Vielmehr ist
solche Geistesermattuug der fette Düngerboden für alle Restanrationsgelüste, für
allen faulen und kritiklosen Positivismus, welcher wurzellos über Nacht empor-
schießt und mit wuchernder Ueppigkeit ungehindert sich ausbreitet. Dazu kommt
aber noch, daß die diesem letzten Stadium der Abspannung vorangehende Periode
der wissenschaftlichen Aufregung, der philosophischen Ueberspannung eine solche war,
welche in ihrem abstracten Gegensatze gegen Aufklärung und Rationalismus dem
Verstände, der nüchternen Forschung, der kalten Betrachtung,. der Kritik überhaupt
den Rücken wandte und an ihre Stelle wissenschaftliche Phantasterei oder specu-
lative Cvnstrnircrei setzte. Ich kann die sogenannte moderne Speculation »ud
speculative Theologie uicht sowol als einen Gegensatz gegen die Romantik, denn
als eine Fortsetzung und Abzweigung derselben betrachten, und glaube demgemäß,
daß sie, bei aller mächtigen Geistesarbeit, sehr viel Verkehrtheit und Verwirrung
mit sich geführt, daß sie, bei aller logischen Einschulung unsrer Nation, derselben
einen gute» Theil ihrer gesundeste» Kräfte ausgesvge» hat. Die hochmüthige
Verachtung des Verstandes, diese abgeschmackte Doctrin der Romantiker/ welche
die neuere Speculation als. Erbtheil mit .übernomme», hat sich schwer gerächt;
— es ist dahin gekommen, daß der Verstand eben nur noch in der trivialsten
Form, in den untergeordnetsten Sphären des bürgerlichem Verkehrs sein Leben
fristen durfte, daß er aus der guten Gesellschaft, der Kunst, der Wissenschaft, der
Religion herausgcwiesen wurde. So ist er uns denn ziemlich abhanden gekommen.
Wie ein beständig zurückgesetztes und gemißhandeltes Kind endlich verwahrlost, in
schlechte und schmuzige Gesellschaft geräth, so ist der Verstand nur noch als platter
Verstand in den Philisterkreisen und Seelen übriggeblieben und hat sich hier zu
einer starren und zähen Abneigung gegen alle tieferen Gemüthsanregungen ver¬
festigt. Es ist das ein großes Unglück und gewiß in keiner Nation ist die Kluft
so gewaltig zwischen dem verständige», aber platte» Philisterthum der bürgerliche»
Welt und den verschrobene» Geistreichigkeitcu und falschen Tiefsinnigkciten der
sogenannten Gebildete»! Der Verstand' in seiner ideale» Form, der Verstand


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <div n="2">
            <pb facs="#f0271" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/98051"/>
            <p xml:id="ID_843" prev="#ID_842" next="#ID_844"> Rücksichtslosigkeit alle» den Wust bei Seite wirft, mit dem die neumodischen Theo¬<lb/>
loge» dasselbe einem abgeschwächten und haltinigSlose» Zeitalter empfehlen möch¬<lb/>
ten. Herr Schwarz durchschaut den Grundfehler unsrer Bildung, der sich noch<lb/>
vorzugsweise aus der romantischen Schule herschreibt und dem man mit vollem<lb/>
Recht Lessing als den idealen Gegensatz gegenüberstellen kann, so scharf und um¬<lb/>
fassend als möglich, und spricht ihn mit warmen und eindringenden Worten ans.<lb/>
&#x201E;Die theologischen Zustände der Gegenwart sind der" traurigsten Art, deshalb,<lb/>
weil der tiefere Wahrheitsfinn, das individuelle Wahrhcitsbedürfniß, das wissen¬<lb/>
schaftliche Gewissen so sehr erschlafft ist und völlig verloren zu gehen droht. Die<lb/>
intellectuelle und moralische Erschlaffung, an welcher die g,a»ze Zeit leidet... ist<lb/>
gewiß nicht geeignet, den Wahrheitssiuu zu schärft», den Forschungsgeist in seiner<lb/>
ganzen Rücksichtslosigkeit und Unbedingtheit hervortreten zu lassen. Vielmehr ist<lb/>
solche Geistesermattuug der fette Düngerboden für alle Restanrationsgelüste, für<lb/>
allen faulen und kritiklosen Positivismus, welcher wurzellos über Nacht empor-<lb/>
schießt und mit wuchernder Ueppigkeit ungehindert sich ausbreitet. Dazu kommt<lb/>
aber noch, daß die diesem letzten Stadium der Abspannung vorangehende Periode<lb/>
der wissenschaftlichen Aufregung, der philosophischen Ueberspannung eine solche war,<lb/>
welche in ihrem abstracten Gegensatze gegen Aufklärung und Rationalismus dem<lb/>
Verstände, der nüchternen Forschung, der kalten Betrachtung,. der Kritik überhaupt<lb/>
den Rücken wandte und an ihre Stelle wissenschaftliche Phantasterei oder specu-<lb/>
lative Cvnstrnircrei setzte. Ich kann die sogenannte moderne Speculation »ud<lb/>
speculative Theologie uicht sowol als einen Gegensatz gegen die Romantik, denn<lb/>
als eine Fortsetzung und Abzweigung derselben betrachten, und glaube demgemäß,<lb/>
daß sie, bei aller mächtigen Geistesarbeit, sehr viel Verkehrtheit und Verwirrung<lb/>
mit sich geführt, daß sie, bei aller logischen Einschulung unsrer Nation, derselben<lb/>
einen gute» Theil ihrer gesundeste» Kräfte ausgesvge» hat. Die hochmüthige<lb/>
Verachtung des Verstandes, diese abgeschmackte Doctrin der Romantiker/ welche<lb/>
die neuere Speculation als. Erbtheil mit .übernomme», hat sich schwer gerächt;<lb/>
&#x2014; es ist dahin gekommen, daß der Verstand eben nur noch in der trivialsten<lb/>
Form, in den untergeordnetsten Sphären des bürgerlichem Verkehrs sein Leben<lb/>
fristen durfte, daß er aus der guten Gesellschaft, der Kunst, der Wissenschaft, der<lb/>
Religion herausgcwiesen wurde. So ist er uns denn ziemlich abhanden gekommen.<lb/>
Wie ein beständig zurückgesetztes und gemißhandeltes Kind endlich verwahrlost, in<lb/>
schlechte und schmuzige Gesellschaft geräth, so ist der Verstand nur noch als platter<lb/>
Verstand in den Philisterkreisen und Seelen übriggeblieben und hat sich hier zu<lb/>
einer starren und zähen Abneigung gegen alle tieferen Gemüthsanregungen ver¬<lb/>
festigt. Es ist das ein großes Unglück und gewiß in keiner Nation ist die Kluft<lb/>
so gewaltig zwischen dem verständige», aber platte» Philisterthum der bürgerliche»<lb/>
Welt und den verschrobene» Geistreichigkeitcu und falschen Tiefsinnigkciten der<lb/>
sogenannten Gebildete»! Der Verstand' in seiner ideale» Form, der Verstand</p><lb/>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0271] Rücksichtslosigkeit alle» den Wust bei Seite wirft, mit dem die neumodischen Theo¬ loge» dasselbe einem abgeschwächten und haltinigSlose» Zeitalter empfehlen möch¬ ten. Herr Schwarz durchschaut den Grundfehler unsrer Bildung, der sich noch vorzugsweise aus der romantischen Schule herschreibt und dem man mit vollem Recht Lessing als den idealen Gegensatz gegenüberstellen kann, so scharf und um¬ fassend als möglich, und spricht ihn mit warmen und eindringenden Worten ans. „Die theologischen Zustände der Gegenwart sind der" traurigsten Art, deshalb, weil der tiefere Wahrheitsfinn, das individuelle Wahrhcitsbedürfniß, das wissen¬ schaftliche Gewissen so sehr erschlafft ist und völlig verloren zu gehen droht. Die intellectuelle und moralische Erschlaffung, an welcher die g,a»ze Zeit leidet... ist gewiß nicht geeignet, den Wahrheitssiuu zu schärft», den Forschungsgeist in seiner ganzen Rücksichtslosigkeit und Unbedingtheit hervortreten zu lassen. Vielmehr ist solche Geistesermattuug der fette Düngerboden für alle Restanrationsgelüste, für allen faulen und kritiklosen Positivismus, welcher wurzellos über Nacht empor- schießt und mit wuchernder Ueppigkeit ungehindert sich ausbreitet. Dazu kommt aber noch, daß die diesem letzten Stadium der Abspannung vorangehende Periode der wissenschaftlichen Aufregung, der philosophischen Ueberspannung eine solche war, welche in ihrem abstracten Gegensatze gegen Aufklärung und Rationalismus dem Verstände, der nüchternen Forschung, der kalten Betrachtung,. der Kritik überhaupt den Rücken wandte und an ihre Stelle wissenschaftliche Phantasterei oder specu- lative Cvnstrnircrei setzte. Ich kann die sogenannte moderne Speculation »ud speculative Theologie uicht sowol als einen Gegensatz gegen die Romantik, denn als eine Fortsetzung und Abzweigung derselben betrachten, und glaube demgemäß, daß sie, bei aller mächtigen Geistesarbeit, sehr viel Verkehrtheit und Verwirrung mit sich geführt, daß sie, bei aller logischen Einschulung unsrer Nation, derselben einen gute» Theil ihrer gesundeste» Kräfte ausgesvge» hat. Die hochmüthige Verachtung des Verstandes, diese abgeschmackte Doctrin der Romantiker/ welche die neuere Speculation als. Erbtheil mit .übernomme», hat sich schwer gerächt; — es ist dahin gekommen, daß der Verstand eben nur noch in der trivialsten Form, in den untergeordnetsten Sphären des bürgerlichem Verkehrs sein Leben fristen durfte, daß er aus der guten Gesellschaft, der Kunst, der Wissenschaft, der Religion herausgcwiesen wurde. So ist er uns denn ziemlich abhanden gekommen. Wie ein beständig zurückgesetztes und gemißhandeltes Kind endlich verwahrlost, in schlechte und schmuzige Gesellschaft geräth, so ist der Verstand nur noch als platter Verstand in den Philisterkreisen und Seelen übriggeblieben und hat sich hier zu einer starren und zähen Abneigung gegen alle tieferen Gemüthsanregungen ver¬ festigt. Es ist das ein großes Unglück und gewiß in keiner Nation ist die Kluft so gewaltig zwischen dem verständige», aber platte» Philisterthum der bürgerliche» Welt und den verschrobene» Geistreichigkeitcu und falschen Tiefsinnigkciten der sogenannten Gebildete»! Der Verstand' in seiner ideale» Form, der Verstand

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341578_97779
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341578_97779/270
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 13, 1854, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341578_97779/270>, abgerufen am 03.07.2024.