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Die Grenzboten. Jg. 13, 1854, I. Semester. II. Band.

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zwei widersprechende Dinge einschließt und bei dem man leicht herauserkennt, daß
Herr Stahl seine eigentliche Meinung nicht offen ausspricht. Früher hat die Kreuz-
zeitung auf das lebhafteste und ausdauerndste nachgewiesen, daß eine längere
Neutralität Preußens unmöglich sei, daß daher Preußen mit Rußland gehen müsse;
das wünscht sie im Grunde noch, aber sie sucht es auf anderm Wege zu erreichen.
Sie weiß sehr wohl, daß eine Neutralität in der Art wie sie hier verstanden wird,
nothwendig zum Kriege mit den Westmächtcn führen muß; aber sie weiß auch,
daß diese Eventualität einem großen Theil ihrer Freunde in und außerhalb der
Regierung nicht sehr angenehm sein wird, und darum streut sie ihnen den Sand
der Fricdenshoffnungen in die Augen. Daß diese Hoffnungen eine Illusion
sind, daß eigentlich immer das Bündniß mit Rußland als das letzte Ziel festgehal¬
ten wird, das blickt aus dem Fortgang der Rede deutlich genug hindurch.

Hier kommen wir auf den Kernpunkt der Frage, aus die russischen Sympa¬
thien, auf die angebliche Solidarität der conservativen Interessen. Auch hier spielt
Herr Stahl im ganzen eine undankbarere Rolle, als sein Freund in der zweiten
Kammer. Herr v. Gerlach hat zu oft und 'laut seine Ueberzeugung ausgespro¬
chen, daß für die Aufrechthaltung der christlichen Ordnung Wiedereinführung der
Prügelstrafe die Hauptsache sei, um durch seine Vorliebe sür Rußland irgend ein
erhebliches Befremden zu erregen; und seine übrigen gleichgestimmten Freunde, die
allenfalls die Städte vom Erdboden vertilgen würden, wenn nur der Gutsherr im
alten Verhältniß zu seinen Unterthanen bleibt, denken auch ganz folgerichtig, wenn'
sie um jeden Preis mit Rußland gehen möchten. Aber Herr Stahl ist kein Fana¬
tiker der Peitsche, er möchte, wenn es anginge, neben dem christlich-conservativen
Princip auch gern die moderne Bildung bewahren; er muß also in dem Ausdrucke
seiner Sympathien behutsamer, sein. Er protestirt gegen seine Vorliebe für die
russischen Staatseinrichtungen und erinnert die Liberalen sehr geschickt an das Na¬
poleonische Regiment. Wir nehmen den Vergleich an, denn wir stimmen darin mit
Herrn Stahl ganz überein, daß die nationale Sympathie zwar nicht das einzige,
aber doch ein sehr wichtiges Moment für die Entscheidung solcher Fragen, ist. --
Um die Engländer gar nicht zü erwähnen, haben wir noch immer trotz der Aushe¬
bung der parlamentarischen Staatsform starke Sympathien sür die Franzosen, nicht
weil sie ein revolutionäres, sondern weil sie ein bildungsfähiges Volk im höchsten
Stile sind. Es ist ein Unglück sür die Franzosen, daß ihnen durch den Absolutis¬
mus die altgermanische organische Gliederung des Staates verloren ist, daß die Bu¬
reaukratie die politischen Lebensfunctionen der Bürger in sich gesogen hat; aber
noch immer behaupten sie in voller Stärke die schöne Freiheit der Individualität
und die elastische Gestaltungskraft. Der einzelne Franzose ist eine wohlthuende Er-'
scheinung, denn er ist durch Stolz und Nationalgefühl geadelt und bewegt sich in
den leichtesten Formen, und das Ganze versinkt auch beim schwersten Sturm nie in
das Chaos, sondern gliedert sich schnell zu einer mächtigen und geordneten, wenn
auch nnr flüchtigen Gestalt- In Rußland dagegen sehen wir nichts als das Walten
der altorientalischen Substanz, um diesen sehr bezeichnenden Ausdruck Hegels beizu¬
behalten. Der Despotismus ist dort nicht etwas Zufälliges, Vorübergehendes, son¬
dern mit Nothwendigkeit im Wesen des Volks begründet; es ist ein Volk von Skla¬
ven, das nur in der Masse bewegungsfähig ist. Das russische Reich drückt jetzt


zwei widersprechende Dinge einschließt und bei dem man leicht herauserkennt, daß
Herr Stahl seine eigentliche Meinung nicht offen ausspricht. Früher hat die Kreuz-
zeitung auf das lebhafteste und ausdauerndste nachgewiesen, daß eine längere
Neutralität Preußens unmöglich sei, daß daher Preußen mit Rußland gehen müsse;
das wünscht sie im Grunde noch, aber sie sucht es auf anderm Wege zu erreichen.
Sie weiß sehr wohl, daß eine Neutralität in der Art wie sie hier verstanden wird,
nothwendig zum Kriege mit den Westmächtcn führen muß; aber sie weiß auch,
daß diese Eventualität einem großen Theil ihrer Freunde in und außerhalb der
Regierung nicht sehr angenehm sein wird, und darum streut sie ihnen den Sand
der Fricdenshoffnungen in die Augen. Daß diese Hoffnungen eine Illusion
sind, daß eigentlich immer das Bündniß mit Rußland als das letzte Ziel festgehal¬
ten wird, das blickt aus dem Fortgang der Rede deutlich genug hindurch.

Hier kommen wir auf den Kernpunkt der Frage, aus die russischen Sympa¬
thien, auf die angebliche Solidarität der conservativen Interessen. Auch hier spielt
Herr Stahl im ganzen eine undankbarere Rolle, als sein Freund in der zweiten
Kammer. Herr v. Gerlach hat zu oft und 'laut seine Ueberzeugung ausgespro¬
chen, daß für die Aufrechthaltung der christlichen Ordnung Wiedereinführung der
Prügelstrafe die Hauptsache sei, um durch seine Vorliebe sür Rußland irgend ein
erhebliches Befremden zu erregen; und seine übrigen gleichgestimmten Freunde, die
allenfalls die Städte vom Erdboden vertilgen würden, wenn nur der Gutsherr im
alten Verhältniß zu seinen Unterthanen bleibt, denken auch ganz folgerichtig, wenn'
sie um jeden Preis mit Rußland gehen möchten. Aber Herr Stahl ist kein Fana¬
tiker der Peitsche, er möchte, wenn es anginge, neben dem christlich-conservativen
Princip auch gern die moderne Bildung bewahren; er muß also in dem Ausdrucke
seiner Sympathien behutsamer, sein. Er protestirt gegen seine Vorliebe für die
russischen Staatseinrichtungen und erinnert die Liberalen sehr geschickt an das Na¬
poleonische Regiment. Wir nehmen den Vergleich an, denn wir stimmen darin mit
Herrn Stahl ganz überein, daß die nationale Sympathie zwar nicht das einzige,
aber doch ein sehr wichtiges Moment für die Entscheidung solcher Fragen, ist. —
Um die Engländer gar nicht zü erwähnen, haben wir noch immer trotz der Aushe¬
bung der parlamentarischen Staatsform starke Sympathien sür die Franzosen, nicht
weil sie ein revolutionäres, sondern weil sie ein bildungsfähiges Volk im höchsten
Stile sind. Es ist ein Unglück sür die Franzosen, daß ihnen durch den Absolutis¬
mus die altgermanische organische Gliederung des Staates verloren ist, daß die Bu¬
reaukratie die politischen Lebensfunctionen der Bürger in sich gesogen hat; aber
noch immer behaupten sie in voller Stärke die schöne Freiheit der Individualität
und die elastische Gestaltungskraft. Der einzelne Franzose ist eine wohlthuende Er-'
scheinung, denn er ist durch Stolz und Nationalgefühl geadelt und bewegt sich in
den leichtesten Formen, und das Ganze versinkt auch beim schwersten Sturm nie in
das Chaos, sondern gliedert sich schnell zu einer mächtigen und geordneten, wenn
auch nnr flüchtigen Gestalt- In Rußland dagegen sehen wir nichts als das Walten
der altorientalischen Substanz, um diesen sehr bezeichnenden Ausdruck Hegels beizu¬
behalten. Der Despotismus ist dort nicht etwas Zufälliges, Vorübergehendes, son¬
dern mit Nothwendigkeit im Wesen des Volks begründet; es ist ein Volk von Skla¬
ven, das nur in der Masse bewegungsfähig ist. Das russische Reich drückt jetzt


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 13, 1854, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341578_97779/239>, abgerufen am 22.12.2024.