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Die Grenzboten. Jg. 13, 1854, I. Semester. II. Band.

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So viel von der wahrscheinlichen Eintheilung der Streitkräfte, deren nu¬
merischen Belauf ich hier unerörtert lasse. Ich komme nunmehr ans die allgemei¬
nen Principien der russischen Defensive zu reden, die bisher noch unberührt ge¬
blieben sind.

Wie allgemein bekannt war das Grundprincip der Vertheidigung im Jahre 1812
die Vermeidung jeder Entscheidung an der Grenze und die Verlegung derselben
von dort aus nach dem Innern des Landes. So rücksichtslos wurde dasselbe
durchgeführt, daß man nicht Anstand nahm, selbst das heilige Moskau ihm zu
opfern. Diejenigen, welche in der Zukunft gern die Wiederholung der Ver¬
gangenheit voraussagen, werden nicht ermangeln, eine ähnliche Kriegführung
zu prophezeihen. Indeß dürsten sie sich darin gründlich täuschen. Es ist
ein ganz anderes Ding um einen Angriff von Norden oder Süden, wie um jenen
des Jahres 1812 von Westen her. 'Auch sind die politischen Verhältnisse heute
nicht darnach, um Rußland hoffen zu machen, es werde wie damals mittelst der
Rückbewegnng zu einem ungeheure" Rückschläge ausholen können. Was Ru߬
land in dem beginnenden Kriege durch einen Rückzug seines Heeres aufgibt, wird
es vielleicht für immer dadurch verlieren. Denn es ist^gar nicht ausgemacht, im
Gegentheil muß es stark bezweifelt werdeu, daß die feindlichen Heere den seinigen
in das Innere nachfolgen werden, um sich, durch Dctachirungen, Gefechtsverluste
und Krankheiten geschwächt, schließlich schlagen zu lassen. Gibt Rußland die
Krim oder Finnland auf, so wird man diese Länder zuvörderst in festen Besitz
nehmen und gegen eine Rückeroberung möglichst zu sichern suchen.

Das will so viel sagen als: Nußland ist mit seinen Vertheidigungsanstalten
darauf hingewiesen, die Integrität seines territorialen Besitzes aufrecht und un¬
verletzt zu erhalten, die Donau, die Küsten des schwarzen und des baltischen
Meeres sind in diesem Sinne seine Dcfensiv-Frontlinien. Stellt sich, was kaum
zu erwarten, die Möglichkeit eines offensiven Vorganges, heraus, so ist sein An¬
griffsobject Koiistantinopel. Der Besitz dieses Punktes und beider Meerengen
entscheidet dann über den Krieg. > "

Zum Schluß noch der Wunsch, daß die Entscheidung im entgegengesetzten
Sinne ausfallen möge!




Wochenbericht.
Die Rede des Abgeordnete" Stahl in der ersten preußischen

Kammer.

-- Der Ruf des Abgeordneten Stahl als eines ausgezeichneten Redners
und das allgemeine Ansehn, das er als Führer der Rechten genießt, geben der
Rede, die er kurz vor dem Schluß der Session über die vom Ministerium ange¬
tragene Creditbewilligung gehalten hat, ein ungewöhnliches Gewicht. Man konnte


So viel von der wahrscheinlichen Eintheilung der Streitkräfte, deren nu¬
merischen Belauf ich hier unerörtert lasse. Ich komme nunmehr ans die allgemei¬
nen Principien der russischen Defensive zu reden, die bisher noch unberührt ge¬
blieben sind.

Wie allgemein bekannt war das Grundprincip der Vertheidigung im Jahre 1812
die Vermeidung jeder Entscheidung an der Grenze und die Verlegung derselben
von dort aus nach dem Innern des Landes. So rücksichtslos wurde dasselbe
durchgeführt, daß man nicht Anstand nahm, selbst das heilige Moskau ihm zu
opfern. Diejenigen, welche in der Zukunft gern die Wiederholung der Ver¬
gangenheit voraussagen, werden nicht ermangeln, eine ähnliche Kriegführung
zu prophezeihen. Indeß dürsten sie sich darin gründlich täuschen. Es ist
ein ganz anderes Ding um einen Angriff von Norden oder Süden, wie um jenen
des Jahres 1812 von Westen her. 'Auch sind die politischen Verhältnisse heute
nicht darnach, um Rußland hoffen zu machen, es werde wie damals mittelst der
Rückbewegnng zu einem ungeheure» Rückschläge ausholen können. Was Ru߬
land in dem beginnenden Kriege durch einen Rückzug seines Heeres aufgibt, wird
es vielleicht für immer dadurch verlieren. Denn es ist^gar nicht ausgemacht, im
Gegentheil muß es stark bezweifelt werdeu, daß die feindlichen Heere den seinigen
in das Innere nachfolgen werden, um sich, durch Dctachirungen, Gefechtsverluste
und Krankheiten geschwächt, schließlich schlagen zu lassen. Gibt Rußland die
Krim oder Finnland auf, so wird man diese Länder zuvörderst in festen Besitz
nehmen und gegen eine Rückeroberung möglichst zu sichern suchen.

Das will so viel sagen als: Nußland ist mit seinen Vertheidigungsanstalten
darauf hingewiesen, die Integrität seines territorialen Besitzes aufrecht und un¬
verletzt zu erhalten, die Donau, die Küsten des schwarzen und des baltischen
Meeres sind in diesem Sinne seine Dcfensiv-Frontlinien. Stellt sich, was kaum
zu erwarten, die Möglichkeit eines offensiven Vorganges, heraus, so ist sein An¬
griffsobject Koiistantinopel. Der Besitz dieses Punktes und beider Meerengen
entscheidet dann über den Krieg. > "

Zum Schluß noch der Wunsch, daß die Entscheidung im entgegengesetzten
Sinne ausfallen möge!




Wochenbericht.
Die Rede des Abgeordnete» Stahl in der ersten preußischen

Kammer.

— Der Ruf des Abgeordneten Stahl als eines ausgezeichneten Redners
und das allgemeine Ansehn, das er als Führer der Rechten genießt, geben der
Rede, die er kurz vor dem Schluß der Session über die vom Ministerium ange¬
tragene Creditbewilligung gehalten hat, ein ungewöhnliches Gewicht. Man konnte


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[0236] So viel von der wahrscheinlichen Eintheilung der Streitkräfte, deren nu¬ merischen Belauf ich hier unerörtert lasse. Ich komme nunmehr ans die allgemei¬ nen Principien der russischen Defensive zu reden, die bisher noch unberührt ge¬ blieben sind. Wie allgemein bekannt war das Grundprincip der Vertheidigung im Jahre 1812 die Vermeidung jeder Entscheidung an der Grenze und die Verlegung derselben von dort aus nach dem Innern des Landes. So rücksichtslos wurde dasselbe durchgeführt, daß man nicht Anstand nahm, selbst das heilige Moskau ihm zu opfern. Diejenigen, welche in der Zukunft gern die Wiederholung der Ver¬ gangenheit voraussagen, werden nicht ermangeln, eine ähnliche Kriegführung zu prophezeihen. Indeß dürsten sie sich darin gründlich täuschen. Es ist ein ganz anderes Ding um einen Angriff von Norden oder Süden, wie um jenen des Jahres 1812 von Westen her. 'Auch sind die politischen Verhältnisse heute nicht darnach, um Rußland hoffen zu machen, es werde wie damals mittelst der Rückbewegnng zu einem ungeheure» Rückschläge ausholen können. Was Ru߬ land in dem beginnenden Kriege durch einen Rückzug seines Heeres aufgibt, wird es vielleicht für immer dadurch verlieren. Denn es ist^gar nicht ausgemacht, im Gegentheil muß es stark bezweifelt werdeu, daß die feindlichen Heere den seinigen in das Innere nachfolgen werden, um sich, durch Dctachirungen, Gefechtsverluste und Krankheiten geschwächt, schließlich schlagen zu lassen. Gibt Rußland die Krim oder Finnland auf, so wird man diese Länder zuvörderst in festen Besitz nehmen und gegen eine Rückeroberung möglichst zu sichern suchen. Das will so viel sagen als: Nußland ist mit seinen Vertheidigungsanstalten darauf hingewiesen, die Integrität seines territorialen Besitzes aufrecht und un¬ verletzt zu erhalten, die Donau, die Küsten des schwarzen und des baltischen Meeres sind in diesem Sinne seine Dcfensiv-Frontlinien. Stellt sich, was kaum zu erwarten, die Möglichkeit eines offensiven Vorganges, heraus, so ist sein An¬ griffsobject Koiistantinopel. Der Besitz dieses Punktes und beider Meerengen entscheidet dann über den Krieg. > " Zum Schluß noch der Wunsch, daß die Entscheidung im entgegengesetzten Sinne ausfallen möge! Wochenbericht. Die Rede des Abgeordnete» Stahl in der ersten preußischen Kammer. — Der Ruf des Abgeordneten Stahl als eines ausgezeichneten Redners und das allgemeine Ansehn, das er als Führer der Rechten genießt, geben der Rede, die er kurz vor dem Schluß der Session über die vom Ministerium ange¬ tragene Creditbewilligung gehalten hat, ein ungewöhnliches Gewicht. Man konnte

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 13, 1854, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341578_97779/235>, abgerufen am 23.07.2024.