Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 13, 1854, I. Semester. II. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

Mißverständniß das andere drängte, wie die klarsten Intentionen des Componisten
nicht zur Geltung kamen, und der Geist dieses Riesenwerks kaum zu ahnen war,
wurde jetzt zu spät kommen und hier zu weit führe". Freilich mit oberflächlichem
Durchspielen in ein oder zwei Proben läßt sich ein solches Werk nicht zwingen,
selbst wenn die Kräfte viel bedeutender siud; allem diese Anmaßung ist eben eine
Folge der mangelnden Einsicht. Und sehe man ab von dieser allerdings kolossalen
Aufgabe. Die Ouvertüren von Cherubini und Weber waren früher wahre Ca-
binetsstücke unsrer Concerte. Sie wurden mit einer Präcision, einer Sauberkeit
und Feinheit des'Details, und zugleich mit einer Frische und Begeisterung gespielt,
daß es eine wahre Freude war, sie zu hören, und jetzt -- wie abgetanzte Ballschönen
werden sie durch deu Saal gepeitscht, daß man erschrickt über diese Verzerrung der
Schönheit und Anmuth.

Der alte Ruhm der Abonucmeutconcerte und durch sie des musikalischen Leip¬
zigs ist schwer gefährdet; noch einige Schritte abwärts und sie werden auf das
Niveau einer Mittelmäßigkeit gesunken sein, von wo eine Erhebung schwer ist.




Romanzen.
Alexander PuschkiKs poetische Werke, aus dem Russischen übersetzt von
Fr. Bodenstedt. Berlin, Decker. 1. Band: Gedichte. --

Puschkin ist, wie die bedeutendste, so auch die am meisten charakteristische Er¬
scheinung der russischen Literatur. Während wir ans der einen Seite die augenschein¬
lichsten Spuren von dem Einfluß jener modernen, aus einem gewissen Verwcsnngs-
proceß der Bildung hervorgegangenen Weltschmerzpoesie bei ihm antreffen, wie sie sich
namentlich durch Byrons Einfluß über ganz Europa verbreitet hat, drängt sich
usf auf der andern ebenso augenscheinlich ein sehr naturwüchsiges Moment ans, die
kräftige volksthümliche Basis, die sich nicht nur in Gesinnungen und Ueberzeugungen,
sondern auch in der Form der Darstellung, in der Erfindung und Charakteristik
äußert. Den Haupttheil dieser Sammlung nehmen Märchen, Balladen und andere
Dichtungen epischer Gattung ein. Unter den Märchen finden wir mehre wieder
heraus, die uns durch unsre eigne Volksdichtung bekannt sind ; allein sie haben
eine eigenthümliche Färbung gewonnen, die ihnen gar nicht schlecht steht. Es
ist eine kräftige sinnliche Anschaulichkeit und eine innere Harmonie darin, die eine
echte poetische Begabung verräth. Am wenigsten gelungen ist dasjenige Gedicht,
in welches das moderne Leben mit seiner ganzen Verbildung hereinschaut: ,,Graf
Ruum;" der epigrammatisch-unsittliche Schluß ist durchaus französisch. Auch die
größte dieser epischen Dichtungen, "Pultawa", welche die Geschichte des Mazepp"
in streng russischem Sinn behandelt, hat für ihre Breite zu wenig poetischen


Mißverständniß das andere drängte, wie die klarsten Intentionen des Componisten
nicht zur Geltung kamen, und der Geist dieses Riesenwerks kaum zu ahnen war,
wurde jetzt zu spät kommen und hier zu weit führe«. Freilich mit oberflächlichem
Durchspielen in ein oder zwei Proben läßt sich ein solches Werk nicht zwingen,
selbst wenn die Kräfte viel bedeutender siud; allem diese Anmaßung ist eben eine
Folge der mangelnden Einsicht. Und sehe man ab von dieser allerdings kolossalen
Aufgabe. Die Ouvertüren von Cherubini und Weber waren früher wahre Ca-
binetsstücke unsrer Concerte. Sie wurden mit einer Präcision, einer Sauberkeit
und Feinheit des'Details, und zugleich mit einer Frische und Begeisterung gespielt,
daß es eine wahre Freude war, sie zu hören, und jetzt — wie abgetanzte Ballschönen
werden sie durch deu Saal gepeitscht, daß man erschrickt über diese Verzerrung der
Schönheit und Anmuth.

Der alte Ruhm der Abonucmeutconcerte und durch sie des musikalischen Leip¬
zigs ist schwer gefährdet; noch einige Schritte abwärts und sie werden auf das
Niveau einer Mittelmäßigkeit gesunken sein, von wo eine Erhebung schwer ist.




Romanzen.
Alexander PuschkiKs poetische Werke, aus dem Russischen übersetzt von
Fr. Bodenstedt. Berlin, Decker. 1. Band: Gedichte. —

Puschkin ist, wie die bedeutendste, so auch die am meisten charakteristische Er¬
scheinung der russischen Literatur. Während wir ans der einen Seite die augenschein¬
lichsten Spuren von dem Einfluß jener modernen, aus einem gewissen Verwcsnngs-
proceß der Bildung hervorgegangenen Weltschmerzpoesie bei ihm antreffen, wie sie sich
namentlich durch Byrons Einfluß über ganz Europa verbreitet hat, drängt sich
usf auf der andern ebenso augenscheinlich ein sehr naturwüchsiges Moment ans, die
kräftige volksthümliche Basis, die sich nicht nur in Gesinnungen und Ueberzeugungen,
sondern auch in der Form der Darstellung, in der Erfindung und Charakteristik
äußert. Den Haupttheil dieser Sammlung nehmen Märchen, Balladen und andere
Dichtungen epischer Gattung ein. Unter den Märchen finden wir mehre wieder
heraus, die uns durch unsre eigne Volksdichtung bekannt sind ; allein sie haben
eine eigenthümliche Färbung gewonnen, die ihnen gar nicht schlecht steht. Es
ist eine kräftige sinnliche Anschaulichkeit und eine innere Harmonie darin, die eine
echte poetische Begabung verräth. Am wenigsten gelungen ist dasjenige Gedicht,
in welches das moderne Leben mit seiner ganzen Verbildung hereinschaut: ,,Graf
Ruum;" der epigrammatisch-unsittliche Schluß ist durchaus französisch. Auch die
größte dieser epischen Dichtungen, „Pultawa", welche die Geschichte des Mazepp"
in streng russischem Sinn behandelt, hat für ihre Breite zu wenig poetischen


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0222" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/98002"/>
          <p xml:id="ID_684" prev="#ID_683"> Mißverständniß das andere drängte, wie die klarsten Intentionen des Componisten<lb/>
nicht zur Geltung kamen, und der Geist dieses Riesenwerks kaum zu ahnen war,<lb/>
wurde jetzt zu spät kommen und hier zu weit führe«. Freilich mit oberflächlichem<lb/>
Durchspielen in ein oder zwei Proben läßt sich ein solches Werk nicht zwingen,<lb/>
selbst wenn die Kräfte viel bedeutender siud; allem diese Anmaßung ist eben eine<lb/>
Folge der mangelnden Einsicht. Und sehe man ab von dieser allerdings kolossalen<lb/>
Aufgabe. Die Ouvertüren von Cherubini und Weber waren früher wahre Ca-<lb/>
binetsstücke unsrer Concerte. Sie wurden mit einer Präcision, einer Sauberkeit<lb/>
und Feinheit des'Details, und zugleich mit einer Frische und Begeisterung gespielt,<lb/>
daß es eine wahre Freude war, sie zu hören, und jetzt &#x2014; wie abgetanzte Ballschönen<lb/>
werden sie durch deu Saal gepeitscht, daß man erschrickt über diese Verzerrung der<lb/>
Schönheit und Anmuth.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_685"> Der alte Ruhm der Abonucmeutconcerte und durch sie des musikalischen Leip¬<lb/>
zigs ist schwer gefährdet; noch einige Schritte abwärts und sie werden auf das<lb/>
Niveau einer Mittelmäßigkeit gesunken sein, von wo eine Erhebung schwer ist.</p><lb/>
          <milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/>
        </div>
        <div n="1">
          <head> Romanzen.</head><lb/>
          <div n="2">
            <head> Alexander  PuschkiKs poetische  Werke,  aus dem Russischen übersetzt von<lb/>
Fr. Bodenstedt.  Berlin, Decker.  1. Band: Gedichte. &#x2014;</head><lb/>
            <p xml:id="ID_686" next="#ID_687"> Puschkin ist, wie die bedeutendste, so auch die am meisten charakteristische Er¬<lb/>
scheinung der russischen Literatur. Während wir ans der einen Seite die augenschein¬<lb/>
lichsten Spuren von dem Einfluß jener modernen, aus einem gewissen Verwcsnngs-<lb/>
proceß der Bildung hervorgegangenen Weltschmerzpoesie bei ihm antreffen, wie sie sich<lb/>
namentlich durch Byrons Einfluß über ganz Europa verbreitet hat, drängt sich<lb/>
usf auf der andern ebenso augenscheinlich ein sehr naturwüchsiges Moment ans, die<lb/>
kräftige volksthümliche Basis, die sich nicht nur in Gesinnungen und Ueberzeugungen,<lb/>
sondern auch in der Form der Darstellung, in der Erfindung und Charakteristik<lb/>
äußert. Den Haupttheil dieser Sammlung nehmen Märchen, Balladen und andere<lb/>
Dichtungen epischer Gattung ein. Unter den Märchen finden wir mehre wieder<lb/>
heraus, die uns durch unsre eigne Volksdichtung bekannt sind ; allein sie haben<lb/>
eine eigenthümliche Färbung gewonnen, die ihnen gar nicht schlecht steht. Es<lb/>
ist eine kräftige sinnliche Anschaulichkeit und eine innere Harmonie darin, die eine<lb/>
echte poetische Begabung verräth. Am wenigsten gelungen ist dasjenige Gedicht,<lb/>
in welches das moderne Leben mit seiner ganzen Verbildung hereinschaut: ,,Graf<lb/>
Ruum;" der epigrammatisch-unsittliche Schluß ist durchaus französisch. Auch die<lb/>
größte dieser epischen Dichtungen, &#x201E;Pultawa", welche die Geschichte des Mazepp"<lb/>
in streng russischem Sinn behandelt, hat für ihre Breite zu wenig poetischen</p><lb/>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0222] Mißverständniß das andere drängte, wie die klarsten Intentionen des Componisten nicht zur Geltung kamen, und der Geist dieses Riesenwerks kaum zu ahnen war, wurde jetzt zu spät kommen und hier zu weit führe«. Freilich mit oberflächlichem Durchspielen in ein oder zwei Proben läßt sich ein solches Werk nicht zwingen, selbst wenn die Kräfte viel bedeutender siud; allem diese Anmaßung ist eben eine Folge der mangelnden Einsicht. Und sehe man ab von dieser allerdings kolossalen Aufgabe. Die Ouvertüren von Cherubini und Weber waren früher wahre Ca- binetsstücke unsrer Concerte. Sie wurden mit einer Präcision, einer Sauberkeit und Feinheit des'Details, und zugleich mit einer Frische und Begeisterung gespielt, daß es eine wahre Freude war, sie zu hören, und jetzt — wie abgetanzte Ballschönen werden sie durch deu Saal gepeitscht, daß man erschrickt über diese Verzerrung der Schönheit und Anmuth. Der alte Ruhm der Abonucmeutconcerte und durch sie des musikalischen Leip¬ zigs ist schwer gefährdet; noch einige Schritte abwärts und sie werden auf das Niveau einer Mittelmäßigkeit gesunken sein, von wo eine Erhebung schwer ist. Romanzen. Alexander PuschkiKs poetische Werke, aus dem Russischen übersetzt von Fr. Bodenstedt. Berlin, Decker. 1. Band: Gedichte. — Puschkin ist, wie die bedeutendste, so auch die am meisten charakteristische Er¬ scheinung der russischen Literatur. Während wir ans der einen Seite die augenschein¬ lichsten Spuren von dem Einfluß jener modernen, aus einem gewissen Verwcsnngs- proceß der Bildung hervorgegangenen Weltschmerzpoesie bei ihm antreffen, wie sie sich namentlich durch Byrons Einfluß über ganz Europa verbreitet hat, drängt sich usf auf der andern ebenso augenscheinlich ein sehr naturwüchsiges Moment ans, die kräftige volksthümliche Basis, die sich nicht nur in Gesinnungen und Ueberzeugungen, sondern auch in der Form der Darstellung, in der Erfindung und Charakteristik äußert. Den Haupttheil dieser Sammlung nehmen Märchen, Balladen und andere Dichtungen epischer Gattung ein. Unter den Märchen finden wir mehre wieder heraus, die uns durch unsre eigne Volksdichtung bekannt sind ; allein sie haben eine eigenthümliche Färbung gewonnen, die ihnen gar nicht schlecht steht. Es ist eine kräftige sinnliche Anschaulichkeit und eine innere Harmonie darin, die eine echte poetische Begabung verräth. Am wenigsten gelungen ist dasjenige Gedicht, in welches das moderne Leben mit seiner ganzen Verbildung hereinschaut: ,,Graf Ruum;" der epigrammatisch-unsittliche Schluß ist durchaus französisch. Auch die größte dieser epischen Dichtungen, „Pultawa", welche die Geschichte des Mazepp" in streng russischem Sinn behandelt, hat für ihre Breite zu wenig poetischen

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341578_97779
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341578_97779/221
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 13, 1854, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341578_97779/221>, abgerufen am 01.07.2024.