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Die Grenzboten. Jg. 13, 1854, I. Semester. II. Band.

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Freudigkeit, ein halbes Abmühen um einen halben Erfolg macht nur lässig und
verdrießlich. Die Leistungen unsres Orchesters siud noch nicht so schlecht, daß
man nicht merken könnte, daß es die Sachen kennt, auch meistens gekonnt hat,
aber ein frisches Zusammenwirken, so daß das gesammte Orchester wie ein lebendiges
Wesen erscheint, das sich mit naturgemäßer Nothwendigkeit und zugleich mit voll¬
kommener Freiheit bewegt, ist nicht mehr vorhanden. Ein Beleg im einzelnen
dafür können die längeren CrcScendo-Stellen sein. Es ist nicht genug, daß ein
Crescendo leise anfange und stark aufhöre, sondern es muß sein bestimmtes orga¬
nisches Wachsthum haben, wie man Athem holt, dessen Momente in der rhythmi¬
schen Gliederung gegeben sind, nud das den Zuhörer mit Nothwendigkeit unaus-
gesetzt bis zum Gipfel mit sich fortreißt: ein solches Crescendo ist der Triumph eines
Orchesters. Und wenn man nun das ungeheure Crescendo zum Schluß des
ersten Satzes der nennten Symphonie hörte, das nicht pi-wigsimo, nicht einmal
Mre, begann und wie zufällig es auch einmal zum tori,e brachte! Und dabei
handelt es sich nicht etwa um ein Virtuoseukuuststuck des Orchesters; es verräth
sich dabei ein Mangel an Verständniß für den natürlichen Ausdruck.
'

Ein Grundschaden für alle Leistungen des Orchesters ist das Uebersetzen der
meisten Tempos, welches, leider "ach Mendelsohns Vorgang, hier immer mehr um
sich gegriffen hat, und wofür es einen schlechten Ersatz gewährt, daß gelegentlich anch
das Tempo entsetzlich verschleppt wird. Daß ein solches hastiges Abjagen, was doch
niemand mit Feuer und Leidenschaft verwechseln wolle, meistens schon an sich einen
Mangel an richtiger Auffassung bekundet und deu Charakter und die Bedeutung der
Composition gar nicht zur Erscheinung kommen läßt, versteht sich ebensosehr, als
daß der Ton und Klang, wesentlich beeinträchtigt, nie zu seinem Rechte kommt.
Ist diese Rapidität wenigstens eine Virtuosität des Orchesters, so mag man dar¬
über stgnne". Allein bei uns steht die Sache ganz anders. Das Orchester ist
nicht im Staude, schwierige Sachen in dieser Schnelligkeit vollkommen heraus¬
zubringen, sie kommen nur halb zum. Vorschein, das Detail wird.vernachlässigt,
und diese Art, zu irischen und zu schlottern, es nirgends ganz, genau zu nehmen,
reißt überhaupt el", eine feine Nuauciruug und Schattirung findet nicht mehr
statt und kaun dnrch derbe, grobe Schlageffecte nicht ersetzt werden. Diese Hast
und Eile verbreitet sich dann über die ganze Auffassung und Ausführung,, liebe¬
volle Sorgfalt und einsichtiges Eingehen vermißt man überall, ebensosehr in der
scharfen Beobachtung der rhythmischen Gliederung als in der Licht- und Schatten¬
vertheilung bei polyphoneu'Gestaltungen, worauf deren Verständniß vor allem be¬
ruht. Wo so die Erkenntniß der untergeordneten Verhältnisse fehlt, ist ein Er¬
fassen und Darstellen des tiefern geistigen Gehaltes natürlich noch weniger zu er¬
warten. Die Aufführung der nennten Symphonie am Neujahrscvncert war im
Ganzen und Einzelnen so mißlungen, daß es eine Schmach für Leipzig war.
Eine deraillirte Beleuchtung, welche nachweisen würde, wie ein grober Fehler, ein


Freudigkeit, ein halbes Abmühen um einen halben Erfolg macht nur lässig und
verdrießlich. Die Leistungen unsres Orchesters siud noch nicht so schlecht, daß
man nicht merken könnte, daß es die Sachen kennt, auch meistens gekonnt hat,
aber ein frisches Zusammenwirken, so daß das gesammte Orchester wie ein lebendiges
Wesen erscheint, das sich mit naturgemäßer Nothwendigkeit und zugleich mit voll¬
kommener Freiheit bewegt, ist nicht mehr vorhanden. Ein Beleg im einzelnen
dafür können die längeren CrcScendo-Stellen sein. Es ist nicht genug, daß ein
Crescendo leise anfange und stark aufhöre, sondern es muß sein bestimmtes orga¬
nisches Wachsthum haben, wie man Athem holt, dessen Momente in der rhythmi¬
schen Gliederung gegeben sind, nud das den Zuhörer mit Nothwendigkeit unaus-
gesetzt bis zum Gipfel mit sich fortreißt: ein solches Crescendo ist der Triumph eines
Orchesters. Und wenn man nun das ungeheure Crescendo zum Schluß des
ersten Satzes der nennten Symphonie hörte, das nicht pi-wigsimo, nicht einmal
Mre, begann und wie zufällig es auch einmal zum tori,e brachte! Und dabei
handelt es sich nicht etwa um ein Virtuoseukuuststuck des Orchesters; es verräth
sich dabei ein Mangel an Verständniß für den natürlichen Ausdruck.
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Ein Grundschaden für alle Leistungen des Orchesters ist das Uebersetzen der
meisten Tempos, welches, leider »ach Mendelsohns Vorgang, hier immer mehr um
sich gegriffen hat, und wofür es einen schlechten Ersatz gewährt, daß gelegentlich anch
das Tempo entsetzlich verschleppt wird. Daß ein solches hastiges Abjagen, was doch
niemand mit Feuer und Leidenschaft verwechseln wolle, meistens schon an sich einen
Mangel an richtiger Auffassung bekundet und deu Charakter und die Bedeutung der
Composition gar nicht zur Erscheinung kommen läßt, versteht sich ebensosehr, als
daß der Ton und Klang, wesentlich beeinträchtigt, nie zu seinem Rechte kommt.
Ist diese Rapidität wenigstens eine Virtuosität des Orchesters, so mag man dar¬
über stgnne». Allein bei uns steht die Sache ganz anders. Das Orchester ist
nicht im Staude, schwierige Sachen in dieser Schnelligkeit vollkommen heraus¬
zubringen, sie kommen nur halb zum. Vorschein, das Detail wird.vernachlässigt,
und diese Art, zu irischen und zu schlottern, es nirgends ganz, genau zu nehmen,
reißt überhaupt el», eine feine Nuauciruug und Schattirung findet nicht mehr
statt und kaun dnrch derbe, grobe Schlageffecte nicht ersetzt werden. Diese Hast
und Eile verbreitet sich dann über die ganze Auffassung und Ausführung,, liebe¬
volle Sorgfalt und einsichtiges Eingehen vermißt man überall, ebensosehr in der
scharfen Beobachtung der rhythmischen Gliederung als in der Licht- und Schatten¬
vertheilung bei polyphoneu'Gestaltungen, worauf deren Verständniß vor allem be¬
ruht. Wo so die Erkenntniß der untergeordneten Verhältnisse fehlt, ist ein Er¬
fassen und Darstellen des tiefern geistigen Gehaltes natürlich noch weniger zu er¬
warten. Die Aufführung der nennten Symphonie am Neujahrscvncert war im
Ganzen und Einzelnen so mißlungen, daß es eine Schmach für Leipzig war.
Eine deraillirte Beleuchtung, welche nachweisen würde, wie ein grober Fehler, ein


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[0221] Freudigkeit, ein halbes Abmühen um einen halben Erfolg macht nur lässig und verdrießlich. Die Leistungen unsres Orchesters siud noch nicht so schlecht, daß man nicht merken könnte, daß es die Sachen kennt, auch meistens gekonnt hat, aber ein frisches Zusammenwirken, so daß das gesammte Orchester wie ein lebendiges Wesen erscheint, das sich mit naturgemäßer Nothwendigkeit und zugleich mit voll¬ kommener Freiheit bewegt, ist nicht mehr vorhanden. Ein Beleg im einzelnen dafür können die längeren CrcScendo-Stellen sein. Es ist nicht genug, daß ein Crescendo leise anfange und stark aufhöre, sondern es muß sein bestimmtes orga¬ nisches Wachsthum haben, wie man Athem holt, dessen Momente in der rhythmi¬ schen Gliederung gegeben sind, nud das den Zuhörer mit Nothwendigkeit unaus- gesetzt bis zum Gipfel mit sich fortreißt: ein solches Crescendo ist der Triumph eines Orchesters. Und wenn man nun das ungeheure Crescendo zum Schluß des ersten Satzes der nennten Symphonie hörte, das nicht pi-wigsimo, nicht einmal Mre, begann und wie zufällig es auch einmal zum tori,e brachte! Und dabei handelt es sich nicht etwa um ein Virtuoseukuuststuck des Orchesters; es verräth sich dabei ein Mangel an Verständniß für den natürlichen Ausdruck. ' Ein Grundschaden für alle Leistungen des Orchesters ist das Uebersetzen der meisten Tempos, welches, leider »ach Mendelsohns Vorgang, hier immer mehr um sich gegriffen hat, und wofür es einen schlechten Ersatz gewährt, daß gelegentlich anch das Tempo entsetzlich verschleppt wird. Daß ein solches hastiges Abjagen, was doch niemand mit Feuer und Leidenschaft verwechseln wolle, meistens schon an sich einen Mangel an richtiger Auffassung bekundet und deu Charakter und die Bedeutung der Composition gar nicht zur Erscheinung kommen läßt, versteht sich ebensosehr, als daß der Ton und Klang, wesentlich beeinträchtigt, nie zu seinem Rechte kommt. Ist diese Rapidität wenigstens eine Virtuosität des Orchesters, so mag man dar¬ über stgnne». Allein bei uns steht die Sache ganz anders. Das Orchester ist nicht im Staude, schwierige Sachen in dieser Schnelligkeit vollkommen heraus¬ zubringen, sie kommen nur halb zum. Vorschein, das Detail wird.vernachlässigt, und diese Art, zu irischen und zu schlottern, es nirgends ganz, genau zu nehmen, reißt überhaupt el», eine feine Nuauciruug und Schattirung findet nicht mehr statt und kaun dnrch derbe, grobe Schlageffecte nicht ersetzt werden. Diese Hast und Eile verbreitet sich dann über die ganze Auffassung und Ausführung,, liebe¬ volle Sorgfalt und einsichtiges Eingehen vermißt man überall, ebensosehr in der scharfen Beobachtung der rhythmischen Gliederung als in der Licht- und Schatten¬ vertheilung bei polyphoneu'Gestaltungen, worauf deren Verständniß vor allem be¬ ruht. Wo so die Erkenntniß der untergeordneten Verhältnisse fehlt, ist ein Er¬ fassen und Darstellen des tiefern geistigen Gehaltes natürlich noch weniger zu er¬ warten. Die Aufführung der nennten Symphonie am Neujahrscvncert war im Ganzen und Einzelnen so mißlungen, daß es eine Schmach für Leipzig war. Eine deraillirte Beleuchtung, welche nachweisen würde, wie ein grober Fehler, ein

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 13, 1854, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341578_97779/220>, abgerufen am 01.10.2024.